Call for Papers / Beispiele - Examples

2025-05-25

 

Issue on Hannah Arendt’s Examples Herausgegeben von Carolin Blumenberg und Jessica Güsken

For english version, please see below

Das kommende Themenheft der z.B. Zeitschrift zum Beispiel fragt nach den Beispielen im Denken Hannah Arendts. Die Philosophin, die keine sein wollte, hat sowohl Beispiele gegeben als auch über Beispiele nachgedacht, etwa im Kontext ihrer Totalitarismus-Analysen oder ihrer Betrachtungen über das Urteilen. In Arendts Texten wird jedoch auch immer wieder eine besondere Zurückhaltung deutlich, eine Vorsicht, ja ein gewisses Misstrauen gegenüber Beispielen und ihrer Normativität, dem Altbekannten und Eingefahrenen, das sie mit sich bringen können. „Begreifen“, so Arendt, bedeute „nicht, das Ungeheuerliche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirklichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen“ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 42). Arendts „Denken ohne Geländer“ lässt sich insofern auch als ein Versuch verstehen, sich von Beispielen und ihrem Gemeinplatzcharakter freizumachen. Nicht zuletzt geht es darum, das Beispiellose zu denken. Beispiele stehen unter Ideologieverdacht – auch in Hinblick auf eine Logik der Subsumtion des Besonderen unter ein Allgemeines. Wie Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erklärt, ist etwas zu einem Beispiel zu machen ein Akt der Vereinfachung, der die Voraussetzung aller Massenpropaganda bildet: Ideologien verwandeln „alle Tatsachen in Beispiele vorweggenommener Gesetze“ und eliminieren jeden Zufall „durch die Annahme einer alle Einzelheiten umfassenden Allmächtigkeit“ (800). Arendt bedenkt das Beispielgeben als ein Tun, nicht nur des Philosophierens, sondern vor allem als politische Handlung und Herrschaftspraxis. Zugleich thematisiert sie im Gegenzug den Aufforderungs- und Beispielcharakter des Handelns selbst, insbesondere den Zusammenhang von Vorbild und Nachfolge, sowie die damit einhergehende Verantwortung: „Die Tat ist immer auch ein Beispiel. Politisches Denken und Urteilen ist exemplarisch (Kant), weil Handeln exemplarisch ist. Verantwortung heißt im Wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass Andere folgen werden; in dieser Weise ändert man die Welt." (Denktagebuch, 644). Das Beispielgeben wird hier als eine eminent politische Praxis konturiert, die sich in einem Spannungsfeld zwischen Gemeinplatz und Ereignis, Massenpropaganda und weltveränderndem Neubeginn bewegt. Vor diesem Hintergrund lautet eine zentrale Frage des Themenhefts: Wie verhalten sich Arendts kritische Betrachtungen zu ihrer eigenen Praxis und Politik des Beispielgebens?

In ihrem Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben kommen auf den ersten Blick nur wenige konkrete Beispiele vor; andererseits entwirft die Einleitung eine Art Rahmung oder Situierung durch aktuelle Ereignisse wie die Entsendung des ersten Sputniks ins Weltall 1957 und die Ausbreitung der Automation. Indessen sind Arendts Denktagebücher voll von Beispielen, Gegenbeispielen sowie Kritiken, etwa an Platons oder Kants Beispielen und ihrer Tradierung. In anderen Arbeiten hat Arendt hingegen singuläre Fälle ins Zentrum gestellt, wie Rahel Varnhagen, den Fall Adolf Eichmann und „das Verbrechen eines Völkermords, der in der Geschichte ohne Beispiel ist“ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 42). Hierbei spielen das Problem des Exemplarischen sowie die Frage nach dem Paradigma verschiedentlich eine Rolle. Wie wird das Verhältnis von Einzelfall und Beispiel konturiert? Wie verhandelt Arendt das Verhältnis von Gesetz, Normalität und Ausnahme in diesem Zusammenhang? Und wie sind ihre Beispiele für die „Ohnmacht der Macht“ zu verstehen (Macht und Gewalt, 84ff)? Was hält sie von Pavel Kohouts Erwartung eines „neue[n] Beispiel[s]“ (ebd., 82f.) – und was soll man sich unter einem solchen vorstellen? Welche Rolle spielen die Beispiele der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der Studentenunruhen und der Black-Power-Bewegung jeweils in ihrer Analyse von Macht und Gewalt? Wie wird das Verhältnis von Einzelfall und Beispiel von Arendt konturiert? Finden sich Wiederaufnahmen von Beispielen aus anderen Texten bzw. intertextuelle Bezüge via Beispiele? Gibt Arendt Gegenbeispiele, kritisiert sie die Beispiele anderer Autor:innen, wie geht sie mit diesen um? Werden ihre eigenen Beispiele kritisiert? – Dies sind einige mögliche Fragen, denen die Beiträge des nächsten Heftes nachzugehen eingeladen sind.

Ziel ist es, die Frage nach dem Beispiel und Arendts Beispielpraxis möglichst konkret zu erörtern: So können ein Beispiel oder mehrere Beispiele aus einem Text von Arendt den Ausgangspunkt bilden, oder die Frage nach dem exemplarischen Status eines Falls in Arendts Denken diskutiert und mit ihren metatheoretischen Überlegungen zu Beispielen verknüpft werden.

Das Themenheft wird zweisprachig sein. Die Beiträge können in deutscher oder englischer Sprache verfasst sein, und sollten einen Umfang von ca. 10 Seiten (maximal 30.000 Zeichen) haben. Themenvorschläge mit Erläuterungen von ca. einer Seite Umfang können bis zum 31. August 2025 gesendet werden an: Dr. Jessica Güsken (jessica.guesken@fernuni-hagen.de). Deadline für die fertigen Beiträge ist der 1. Februar 2026, der avisierte Erscheinungstermin des Heftes ist Frühjahr 2026.

Die z.B. Zeitschrift zum Beispiel erscheint seit 2018, und ist am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen beheimatet. Das Themenheft „Hannah Arendts Beispiele“ wird von Dr. Carolin Blumenberg und Dr. Jessica Güsken herausgegeben. Die Hefte erscheinen sowohl gedruckt als auch online. Weitere Informationen zur Zeitschrift sowie alle bisherigen Ausgaben finden Sie unter: https://hagen-up.de/z-b-zeitschrift-zum-beispiel/

Zitierte Literatur:

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Erweiterte Ausgabe. München 2023.

Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. Übers. v. Gisela Uellenberg. München/Zürich 91994. 3

Arendt, Hannah: Denktagebuch. 1950 – 1973. Hg. v. Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann. 2. Aufl. München 2022.

Weiterführende Literatur zum Beispiel:

Blumenberg, Carolin: „Einleitung“, in: Dies.: Die Beispiele in der Kritik. Eine Untersuchung zur Rolle der Beispiele in Kants Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 2025 (im Erscheinen).

Gelley, Alexander (Hg.): Unruly Examples. On the Rhetoric of Exemplarity. Stanford/California 1995.

Güsken, Jessica: „Einleitung“, in: Dies.: Beispiele des Hässlichen in der Ästhetik (1750-1850). Göttingen 2022, S. 9-29.

Lowrie, Michèle; Lüdemann, Susanne (Hg.): Exemplarity and Singularity. Thinking through Partikulars in Philosophy, Literature and Law. Abingdon 2015.

Lück, Christian/Michael Niehaus/Peter Risthaus/Manfred Schneider: Archiv des Beispiels. Vorarbeiten und Überlegungen. Zürich/Berlin 2013.

Pethes, Nicolas/Jens Ruchatz/Stefan Willer (Hg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007.

Schaub, Mirjam: Das Singuläre und das Exemplarische. Zur Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhethik. Zürich/Berlin 2010.

 

English Version:

Call for Papers z.B.-Special Issue on „Hannah Arendt’s Examples“ Edited by Carolin Blumenberg and Jessica Güsken

The upcoming special issue of the scientific journal z.B. Zeitschrift zum Beispiel asks about the examples in Hannah Arendt’s thinking. The philosopher, who did not want to be labeled as such, has both provided examples and reflected on them—particularly in the context of her analyses of totalitarianism or her considerations on judgment. However, Arendt’s texts also repeatedly reveal a particular restraint, a caution, even a certain mistrust towards examples and their normative character, the familiar and habitual that they seem to carry with them. As Arendt states, “comprehension” does not mean “denying the outrageous, deducing the unprecedented from precedents, or explaining phenomena by such analogies and generalities that the impact of reality and the shock of experience are no longer felt“ (Origins of Totalitarianism, p. xiv). Arendt’s concept of “thinking without a banister” can thus be understood as an attempt to free oneself from traditional examples and their commonplace character. Not least, it is about thinking the unprecedented. Examples are suspected of ideological bias, especially because of their subsumption logic—placing the particular under a general category. As Arendt explains in Origins of Totalitarianism, turning something into an example is an act of simplification that forms the basis of all mass propaganda: ideologies explain “facts as mere examples of laws and eliminate any coincidences by inventing an all-embracing omnipotence which is supposed to be at the root of every accident” (p. 352).

Arendt considers the act of giving examples as a practice—not only in philosophy but primarily as a political action and practice of governance. At the same time, she discusses the performative and exemplary character of action itself, especially the relationship between role model and following, as well as the responsibility that comes with it: “Every deed is also an example. Political thinking and judgment are exemplary (Kant) because action is exemplary. Responsibility essentially means: knowing that you set an example, that others will follow; in this way, you change the world” (Denktagebuch, 644).

Thus, giving examples is an eminently political practice that operates within a tension between commonplace and event, mass propaganda and world-changing new beginning. One central question of this special issue therefore is: How do Arendt’s critical reflections relate to her own practice and politics of giving examples?

In her main work The Human Condition, only a few concrete examples appear at first glance; however, the introduction sketches a kind of framing through current events such as the launch of Sputnik into space in 1957 and the spread of automation. Conversely, Arendt’s Denktagebuch is full of examples—as well as counterexamples and critiques, for instance of Plato’s or Kants examples and their tradition. In other works, Arendt has focused on singular cases, such as Rahel Varnhagen, the case of Adolf Eichmann, and “the unprecedented crime of genocide in the midst of Occidental civilization“ (Origins of Totalitarianism, p. xvi). The problem of the examplary and the question of the paradigm come into play in different ways here. How is the relationship between individual case and example delineated? To what extent does Arendt address the relationship between law, normality, and exception in this context? And how can her examples of the “impotence of power” be understood (On Violence, p. 85)? What does she think of Pavel Kohout’s expectation of a “new example” (ibid., pp. 83f) — and what might one imagine under such a “new example”?

What role do the examples of the American Civil Rights Movement, student protests, and the Black Power movement play in her analysis of power and violence? How does Arendt delineate the relationship between individual cases and examples? Are there reappearances of examples from other texts or intertextual references through examples? Does Arendt critique other authors’ examples? Does she criticize her own examples? These are some of the questions that the contributions to this special issue are invited to explore.

The goal is to concretely examine the question of the example: For instance, a single example or multiple examples from Arendt’s texts could serve as a starting point, or the discussion could focus on the exemplary status of a particular case in Arendt’s thinking, linked with her meta-theoretical reflections on examples.

The issue will be bilingual. Contributions may be written in english or german, and should have a length of approximately 10 pages (up to 30,000 characters). Topic proposals with explanations of about one page in length can be sent by August 31, 2025, to Dr. Jessica Güsken (jessica.guesken@fernuni-hagen.de). The deadline for completed submissions is February 1, 2026, with the planned publication of the issue in spring 2026.

The scientific journal z.B. Zeitschrift zum Beispiel has been published since 2018 and is based at the Institute for German Literature and Media Studies at FernUniversität in Hagen. The special issue “Hannah Arendt’s Examples” is edited by Dr. Carolin Blumenberg and Dr. Jessica Güsken. All issues are published both in print and online open acess. Further information about the journal and all previous issues can be found at: https://hagen-up.de/z-b-zeitschrift-zum-beispiel/

Works cited:

Hannah Arendt: Origins of Totalitarianism. New Edition with added Prefaces. Harcourt Brace Jovanovich: San Diego, New York, London 1973.

Hannah Arendt: On Violence. Harcourt Brace Jovanovich: San Diego, New York, London 1970.

Hannah Arendt: Denktagebuch. 1950 – 1973. Hg. v. Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann. 2. Aufl. München 2022.

Further reading on Exemplarity:

Blumenberg, Carolin: „Einleitung“, in: Dies.: Die Beispiele in der Kritik. Eine Untersuchung zur Rolle der Beispiele in Kants Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 2025 (im Erscheinen). 6

Gelley, Alexander (Hg.): Unruly Examples. On the Rhetoric of Exemplarity. Stanford/California 1995.

Güsken, Jessica: „Einleitung“, in: Dies.: Beispiele des Hässlichen in der Ästhetik (1750-1850). Göttingen 2022, S. 9-29.

Lowrie, Michèle; Lüdemann, Susanne (Hg.): Exemplarity and Singularity. Thinking through Partikulars in Philosophy, Literature and Law. Abingdon 2015.

Lück, Christian/Michael Niehaus/Peter Risthaus/Manfred Schneider (Hg.): Archiv des Beispiels. Vorarbeiten und Überlegungen. Zürich/Berlin 2013.

Pethes, Nicolas/Jens Ruchatz/Stefan Willer (Hg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007.

Schaub, Mirjam: Das Singuläre und das Exemplarische. Zur Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhethik. Zürich/Berlin 2010.