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Ausgabe 1, Band 2 – September 2006.

Wartesaal Lissabon 1941: Hannah Arendt und Heinrich Blücher

Christina Heine Teixeira

 

„Im Mai 1941 kamen die Blüchers in New York City an. Mit fünfundzwanzig Dollar in der Tasche und mit einem monatlichen Stipendium von fünfundsiebzig Dollar, das ihnen die Zionist Organization of America gewährt hatte, mieteten sie sich zwei kleine halbmöblierte Zimmer in der 95. Straße, 317 West [...]“ notierte Elisabeth Young-Bruehl in ihrer Biographie über ihre Lehrerin Hannah Arendt. In der Identitätskarte findet sich der Stempel der Ankunft in New York:  22. Mai 1941. Dieses Datum lässt vermuten, dass Hannah Arendt (1906-1975)  und Heinrich Blücher (1899-1970), Lissabon nach Monaten der Ungewissheit und des Unbehagens am 10. Mai an Bord der S/S GUINÉ der Companhia Colonial de Navegação verlassen konnten.

1926, nach dem Militärputsch übernahm der Wirtschaftswissenschaftler António Oliveira Salazar im Frühjahr 1928 das Finanzministerium und verstand es, innerhalb weniger Jahre die Regierungsmacht ganz auf seine Person zu konzentrieren. Die Grundlagen des von ihm geschaffenen Estado Novo (Neuen Staates) festigte Salazar in der Verfassung vom 11. April 1933. Parteien und Gewerkschaften wurden aufgelöst, eine strenge Pressezensur eingeführt und die Geheimpolizei PVDE (Policia de Vigilância e da Defesa do Estado zu deutsch Polizei zur Überwachung und Verteidigung des Staates) aufgebaut. Diese Polizeitruppe kontrollierte nicht nur die portugiesische Bevölkerung, sondern auch in Portugal ansässige Ausländer und einreisende Exilanten, die vor Hitler und seinem Regime auf der Flucht waren. Salazars Polizeitruppe übernahm sowohl die Aufgaben der Kriminalpolizei, der Spionage als auch Spionageabwehr, der Staatssicherheit, der Gefängnisverwaltung sowie der Grenzüberwachung. Durch ein ausgedehntes Spitzelnetz und durch Denunzianten aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten Portugals war diese Spezialtruppe Salazars wirkungsvollstes und gefürchtestes Instrument im Kampf gegen die Opposition im eigenen Land. Flüchtlinge wurden immer wieder von dieser Geheimpolizei aber auch Mitgliedern der deutschen Gesandtschaft drangsaliert. Pläne zur Entführung prominenter Persönlichkeiten wurden jedoch selten verwirklicht. Als Beispiel für Verschleppungen sei der Publizist und Mitarbeiter der Neuen Weltbühne Berthold Jacob (i.e. Berthold Salomon) genannt.

Für Salazar war Portugal ein Transit- kein Asylland für Flüchtende aus dem nationalsozialistischen Bereich. Er befürchtete sowohl wirtschaftliche als auch soziale Probleme, vor allem aber gesellschaftspolitische Veränderungen und er mißtraute zutiefst der kulturellen und sprachlichen Fremdartigkeit der Exilanten. Politische Flüchtlinge empfand er zudem als außenpolitische Belastung. Salazar war um seinen Neutralitätsstatus bemüht, da Portugal einerseits von den Seemächten England und Amerika abhängig war, andererseits durch die Nähe der europäischen Kriegsschauplätze politische und wirtschaftliche Auswirkungen auf Portugal zu befürchten waren. Salazar verhinderte durch Jahre, dass politische Flüchtlinge Kontakte zu oppositionellen Kreisen des Landes aufnehmen konnten, so dass ein Austausch politischer Ideen nicht stattfand.

Auch wenn Portugal kein Asylland für Flüchtlinge sein wollte, so gab es doch einige, die blieben. Albert Vigoleis Thelen, Hermann Lewy, Ilse Lieblich Losa, Sybilla Blei und Sarah Halpern sind Beispiele dafür.

Lissabon war nach Frankreichs Kapitulation das einzige, das letzte freie Tor, durch das die von Hitler Verfolgten Europa mit dem Schiff oder Flugzeug verlassen konnten. Das Ehepaar Arendt-Blücher konnte im Januar 1941 eine Lockerung der Ausreisebestimmungen des Vichy-Regimes nutzen und mit dem Zug über Port-Bou, Barcelona und Madrid nach Lissabon entkommen, wo sie allerdings monatelang auf Papiere und Schiffskarten für die Ausreise warten mussten.

Hannah Arendt hatte aufgrund ihrer Position bei der Jugend-Aliyah ein Emergency Visum erhalten; aber:  in Varian Frys Schrift Auslieferung auf Verlangen (1995) wird sie nicht erwähnt, auch in Patrick von zur Mühlens Fluchtweg Spanien-Portugal (1992) ist ihr Name nicht aufgeführt. Im Frühjahr 1941 waren auch Roda Roda, Ulrich und Dana Becher, Henry William Katz, Siegfried Kracauer, Soma Morgenstern, Balder Olden, Hans Sahl, Maximilian Scheer, Siegfried Thalheimer, Otto Zoff und Kurt Wolff in Lissabon; keiner  erwähnt in seinen Aufzeichnungen die Blüchers. Im Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Bibliothek Frankfurt/M gibt es unter den Unterlagen des Emergency Rescue Committee kein Dossier mit ihrem Namen und im Archiv der portugiesischen Geheimpolizei PVDE ließ sich ebenfalls keine Spur finden. Im Archiv der Israelischen Gemeinde in Lissabon findet sich weder ein Hinweis zu Hannah Arendt noch zu Heinrich Blücher, das bedeutet allerdings nur, beide erhielten von der Gemeinde keine finanzielle Unterstützung.

Die jüdische Gemeinde Lissabon unterstützte über eine von ihr gegründete Hilfsorganisation mittellose Flüchtlinge, sorgte für ärztliche Betreuung, Unterkunft und Verpflegung, half bei vielen Problemen des Alltags, aber auch bei der Beschaffung von Visa und Schiffspassagen. Oder wie Hans Sahl die Tätigkeit von Hilfsorganisationen am Beispiel der Hicem in Das Exil im Exil plastisch formulierte: „Die Hicem bezahlte die Überfahrt, die Hicem bezahlte das Hotel und den Friseur, die Hicem bezahlte den Kuchen, den man in sich hineinschlang, das Obst, die Schokolade, alles Eßare, bis man es erbrach. Die Hicem bezahlte den Arzt und die Apotheke, die Pillen gegen die Angst, die Schlaflosig-keit, ...“ (Hicem war eine der Hilfsorganisationen, die in Lissabon halfen, das Los der Flüchtlinge erträglicher zu gestalten)

Im Winter/Frühjahr 1941 muss ein Aufenthalt in Lissabon besonders beängstigend und deprimierend gewesen sein. Die Stadt hatte sich zu dieser Zeit zu einem riesigen, überfüllten Wartesaal für Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Machtbereich verwandelt. Im Januar und Februar 1941 wurde Lissabon mehrmals  von Wirbelstürmen verheert. Die Nachricht von der Auslieferung Rudolf Breitscheids (1874-1944 in Buchenwald) und Rudolf Hilferdings (1877-1941 im Santé-Gefängnis, Paris) durch die Vichy-Regierung an die Gestapo, die offizielle Meldung vom Selbstmord Hilferdings im Santé-Gefängnis in Paris (Seine Todesursache konnte nie offiziell geklärt werden) und sich mehrende Gerüchte einer bevorstehenden Invasion Englands durch nationalsozialistische Truppen löste im Februar unter den Flüchtenden eine erhöhte Nervosität, Verzweiflung und Panik aus. Die Selbstmordrate unter den Exilanten stieg. Die Stadt war  eine brodelnde Gerüchteküche und hatte sich zu einem gefürchteten Spionage-Treffpunkt der Nachrichtendienste sowohl der Achsenmächte als auch der Alliierten entwickelt. Flüchtlinge hatten sich regelmäßig, in immer kürzeren Abständen bei der Polizei zu melden. Die Warteschlangen vor Konsulaten und portugiesischen Behörden waren endlos - wie bereits von Erika Mann in ihrer Reportage „In Lissabon gestrandet“ im Herbst 1940 berichtet. Im März 1941 forderte die  portugiesische Internationale Polizei die Flüchtlinge auf, das Land innerhalb von 30 Tagen zu verlassen, Verhaftungen wurden angedroht. Exilanten, unter ihnen Hans Habe, beschrieben immer wieder ihren verzweifelten Kampf gegen überhebliche, verständnislose und bornierte Beamte in den Vorzimmern einzelner Konsulate. Die Situation der Flüchtlinge verschärfte sich zunehmend; Schiffsraum wurde noch knapper und noch teurer und immer seltener verließen Passagierschiffe oder für den Transport der Flüchtlinge umgebaute Frachter den Hafen. Die Schiffe der amerikanischen und portugiesischen Schifffahrtslinien waren auf Monate ausgebucht. Der Schwarzhandel mit Passagen blühte.

Im Februar 1941 ging die Wochenschrift, der Aufbau, New York, in einer Meldung auf das sich dramatisch zuspitzende Transportproblem ein: „Die portugiesischen Linien können dem Riesenansturm nicht Herr werden: der Platz auf Frachtdampfern ist bei einer Gesellschaft zum Beispiel für die nächsten neun Monate ausverkauft.... die American Export Line mit ihren vier relativ kleinen Schiffen, die maximal tausend bis zwölfhundert Passagiere nach Amerika bringen können, kann allein nicht den Riesenandrang bewältigen: abgesehen davon, dass es sich um ein grosses finanzielles Opfer handelt, die Angehörigen mit dieser Linie zu expedieren.“

Der Kampf um Visa und Schiffsplätze war zermürbend, oft demütigend. Blüchers bekamen die Passagen vom HIAS, mussten aber immer wieder beim amerikanischen Konsulat wegen ihrer Einreisevisa vorsprechen. Hannah Arendt schrieb hierzu am 17. Februar 1941 aus Lissabon an Salomon Adler-Rudel in London: „[...] Wie lange wir hier bleiben werden, weiss ich nicht. Wir haben vorläufig noch keine Passagen und ich werde mich mit der Hicem herumschlagen müssen, [...] Anfang April teilte sie ihm dann mit: „[...] Wir haben eine schwache Hoffnung, noch in diesem Monat wegzukommen. Unsere Passagen sind seit langem bezahlt – fuer uns vom Rescue-Committtee, fuer meine Mutter von der Hicem – aber um die Plaetze findet hier eine wahre Schlacht statt, [...] Diese ganze Emigration erinnert mich an das alte gute Spiel „Mensch aerger Dich nicht“, bei dem man wuerfelt und je nach dem Resultat unerwartet viele Punkte vor- oder zurueckruecken muss, oder gar von vorne anfaengt. [...]“  

Die Kaffeehaus-Esplanaden rund um den Rossio im Zentrum Lissabons wurden von morgens früh bis in die späten Nachtstunden von französischen, belgischen, holländischen Emigranten und von jüdischen Flüchtlingen aus den entlegensten Winkeln der Welt bevölkert, unter die sich Spione beider Seiten mischten. In der Konditorei Suiça, der Schweizer Konditorei waren es hauptsächlich Emigrantinnen, die rauchend und Kaffee trinkend ihre Angst zu verdrängen suchten. Die freimütige Art und Weise der Emigrantinnen schockierte die portugiesische Bevölkerung. Es störte sie auch, dass diese Fremden den ganzen Tag im Café verbrachten; sie fühlten sich aus ihren Kaffeehäusern verdrängt. Offensichtlich verärgerte  portugiesische Männer ihr Einfluss auf portugiesische Frauen, der sich wohl auf mehr als nur modische Details erstreckte.

In der Zeit des Wartens auf die Schiffspassagen, lasen Blüchers sich und anderen in Kaffeehäusern und auf Esplanaden aus Walter Benjamins Manuskript Thesen über den Begriff der Geschichte vor und „debattierten über die Bedeutung dieser vom Augenblick inspirierten messianischen Hoffnung“, notierte auch bereits Elisabeth Young-Bruehl. Hannah Arendt und ihr Mann hatten Walter Benjamin noch im August 1940 in Marseille getroffen. Dort hatte er ihnen Manuskripte anvertraut.  

Am 18. Oktober, einem regnerischen Herbsttag, machte ich mich in Lissabon auf die Suche nach der von Hannah Arendt  in mehreren Briefen genannten Adresse. In einer ruhigen, ehemals wohl gut bürgerlichen Wohnstraße fand ich das inzwischen wohl aus Spekulationsgründen heruntergekommene Haus, in dem sie monatelang in Lissabon gelebt hatte - im Haus nebenan eine Kneipe mit weinlaubumrankter Esplanade; unwillkürlich stellte ich mir Hannah Arendt zusammen mit anderen beim abendlichen Gals Wein vor. Eine Umfrage unter Hausbewohnern ergab, dass Hannah Arendts Vermieterin  kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs starb, so dass keine weiteren Einzelheiten über ihren Aufenthalt in Lissabon vorgelegt werden können.

Hinzuweisen ist abschließend noch darauf, dass in der Zeit von Juni 1940, also unmittelbar nach der Kapitulation Frankreichs, bis zum Eintritt der USA in den Krieg im Dezember 1941 über 70 deutschsprachige Schriftsteller für Tage, Wochen oder Monate vorübergehend Zuflucht in Portugal fanden, bevor sie in ein Aufnahmeland weiterreisen konnten – darunter Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Hans Habe, Arthur Koestler, Annette Kolb, Jan Lustig, Franz Werfel sowie Golo und Heinrich Mann.