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Ausgabe 1, Band 2 – September 2006

Politisches Handeln jenseits der Angst –

Spiel- und Übergangsräume bei D.W. Winnicott und Hannah Arendt

Frank Stühlmeyer

 

Zur Zeit

Über Politik, über das Poltische zu sprechen, ist zur Zeit eine komplizierte Angelegenheit, weil sich vor unseren Augen vieles, was unser gemeinschaftliches Zusammenleben betrifft auf so rasante Weise verändert.

Stichworte wie Globalisierung und Individualisierung, der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, die neuen Informationstechnologien und die globalen Netze lösen bei uns allen inzwischen umfangreiche Assoziationsketten aus. Dazu haben politische Ereignisse wie der 11. September und in seiner Folge das Ende des selbstgewissen Siegeszugs des „universellen Liberalismus“ und die 1989er Revolutionen, die zur Aufhebung der Ost-West-Konfrontation führten - um nur die herausragendsten Begebenheiten der letzten Jahre zu nennen - unser politisches und kulturelles Selbstverständnis sowie unsere politischen, sozialen und kulturellen Wir-Formen nachhaltig erschüttert und fraglich werden lassen.

Kompliziert ist das Sprechen über Politik, über das Politische vor allem deshalb, weil die politischen Realitäten uns vielfältigen Anlass zur Desillusionierung geben. Die in der Folge von 1989 geäußerten Hoffnungen auf eine weltweite freiheitliche Entwicklung, ökonomisches Wachstum sowie auf globalen Frieden haben sich nicht erfüllt. Stattdessen kehrt das Politische anders – und gewalttätig anders – zurück.

Ein wieder erstarkter wirtschaftlicher und politischer Liberalismus bastelt seither an einer neuen Weltordnung. Die Verstetigung struktureller Ungleichheiten, die vielfältige Zerstörung natürlicher und sozialer bzw. kultureller Ressourcen sind einige seiner Effekte. Auf der anderen Seite versuchen vor allem ethnische „Identitätspolitiken“ die Sicherheiten und Gewissheiten einzufordern oder durchzusetzen, die an allen Ecken und Enden fraglich geworden sind. Gefochten wird um und für nationale und religiöse Identität, nicht selten mit gewaltsamen Mitteln.

Schließlich wird immer deutlicher, dass sich die Verfasstheit unseres eigenen politischen Raumes radikal ändert. Die „organisierte Moderne“, d.h. eine staatszentrierte Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse, mit ihren vorrangigen Zielen der Stabilisierung von Kontingenzen und dem Auffangen von Unsicherheiten in möglichst allen Lebensbereichen ist in Auflösung begriffen. Das wirkt bedrohlich, auch wenn natürlich viele der sozialstaatlichen und politischen Errungenschaften teuer bezahlt und/oder hart erkämpft worden sind, auch wenn offenkundig ist, dass mit der „organisierten Moderne“ nicht nur Sicherheitsgewinne, sondern auch Freiheitsverluste verknüpft sind.

Doch auch vor dem Hintergrund der Freiheitsverluste nimmt niemand die heutige Situation als politische Chance wahr. Alles wirkt eher, um es vorsichtig auszudrücken - unbehaglich, denn viel versprechend. Reaktiver Aktionismus, Visionslosigkeit, Lähmung, Ohnmacht und auch Langeweile sind einige Begriffe, mit denen man die derzeitige politische Lage – zu Recht und zu Unrecht – belegen kann. Obwohl die Zeiten hochpolitisch und das Anwachsen von Kontingenzen, Fragmentierung und Verwerfungen politisches Handeln heraus fordern, wird das Vertrauen in die Möglichkeiten von Politik immer geringer. Um diesem Dilemma seine vermeintlich offenkundigen Begründungen zu nehmen, begebe ich mich in diesem Vortrag auf einen Umweg – über die Psychoanalyse zurück zum politischen Denken.

Wenn ich auf den 1971 verstorbenen britischen Psychoanalytiker Donald W. Winnicott eingehe, so nicht deshalb, weil er zum Thema Psychoanalyse und Politik gearbeitet oder gar sozialpsychologische Studien verfasst hätte. Das tat er nicht. Er hat sein Leben vielmehr der psychoanalytischen Therapie von psychischen Störungen im Kinder- und Jugendalter gewidmet. Mit den daraus hervor gegangenen, grundlegenden Einsichten in haltende und nicht-haltende Beziehungsstrukturen im Übergang zum Denken Hannah Arendts lässt sich das oben skizzierte Problemfeld anders, vielleicht reanimierend und kreativ anstoßend lesen.

Nach einer Skizze der Winnicottschen Überlegungen zu „Übergangsobjekten“ und „Übergangsräumen“ möchte ich Parallelen seines Denkens zum politischen Denken Hannah Arendts aufzeigen. Damit sollen nicht einfach zwei unterschiedliche Register gegenseitig beleuchtet werden, sondern ein strittiger und fraglicher Punkt im Arendtschen Werk präziser gefasst und weiter gedacht werden, nämlich der der Beziehung zwischen dem politischen Handeln und dem politischen Raum als Raum des Handelns. Zu fragen ist, ob und wie der Gedanke eines politischen Raumes als Übergangsraum gefasst werden kann und welche Implikationen sich daraus ergeben.

Als Ausblick möchte ich einige aktuelle politische Phänomene ansprechen, an denen deutlicher werden könnte, dass die Blockaden und scheinbaren Unmöglichkeiten in Bezug auf das Politische auch etwas mit Blockaden und Blockierungen der politischen Übergangsräume und Übergangsobjekte zu tun haben, dass sie indifferenten, dabei an vorgebliche Faktizitäten geknüpften Ängsten entspringen.

Bevor ich mit Winnicott anfange, möchte ich noch zwei grundsätzliche Dinge anmerken, die sozusagen als Grundsetting dieses Textes arbeiten. Zum einen ist dies die einfache Feststellung, dass sich das arendtsche und das Winnicottsche Denken niemals mit Determinismen, Prozesshaftigkeiten oder notwendigen Entwicklungsprozessen abgefunden haben, sofern unser gemeinsames Zusammenleben betroffen ist. Angesichts aktueller politischer Entwicklungen, von denen viele meinen, dass sie in einer tunnelartigen Zwangsläufigkeit  ablaufen, ist dies vielleicht aber doch keine Selbstverständlichkeit. Wir haben es also bei Arendt und Winnicott mit einer anti-nihilistischen und einer anti-resignativen Denkpraxis zu tun. Freiheit ist in beiden Denkrichtungen keine Bürde, kein traumatisches Faktum, entspringt nicht einem radikalen existentiellen auf sich Zurückgeworfen-Sein, sondern trägt ihren Sinn in sich, als Lebendigkeit und Quelle von Bedeutsamkeit.

Die Emphase, die im letzten Satz mitschwingt, muss man vor der Gegebenheit verstehen, dass sowohl das Arendtsche als auch Winnicottsche Denken Antworten auf den Zusammenbruch symbolischer Räume gibt. Bei Arendt ist es die Erfahrung des Totalitarismus und die damit einhergehende dramatische Vernichtung von „Welt“; Die Winnicottschen Umrisse eines „Übergangsraums“ entwickelten sich in seiner therapeutischen Erfahrung mit psychischen Störungen, die sich nicht mehr innerhalb eines vorhandenen gemeinsamen symbolischen Raumes ansprechen und behandeln lassen, d.h. damit auch nicht mehr innerhalb eines herkömmlichen analytischen Settings. Als Antwort auf diese Zusammenbrüche hat sich bei Winnicott wie bei Arendt keine Theorie, sondern eine denkerische, eine performative Praxis entwickelt, die sich dem Risiko ihres Scheiterns aussetzt.  

Winnicott

Der französische Psychoanalytiker André Green hat schon Mitte der 70er Jahre darauf hingewiesen, dass die von Winnicott behandelten Störungen generell einen neuen Patiententypus charakterisieren, mit dem die Psychoanalyse seit den 50er Jahren verstärkt konfrontiert wird.1 Dieser Patiententypus ist mehr durch psychotische als durch neurotische Züge gekennzeichnet. Während der neurotische Patient mit seiner „unbewussten Wunschversagung“ und einer „partiellen Trennungs- und Kastrationsangst“ noch auf öffentliche Allgemeinheit, Moral und eine daraus resultierende Beziehungsstruktur rekurrieren kann, ist beim psychotischen Grenzfallpatienten diese Beziehungsstruktur selbst beschädigt oder partiell ausgefallen. Grenzfallpatienten akzeptieren zwar die analytische Situation als solche, verwerfen aber entweder die Deutungsversuche des Analytikers als Wahngebilde oder erleben Zustände der Regression, von der absoluten Glückseligkeit bis zum absoluten Schrecken. Solche „Grenzfallpatienten“ können ihr Leben entweder nicht in Beziehung zu den Tatsachen (Realität) ihres Lebens bringen und verfallen in Regression oder sie haben den Kontakt zur inneren Welt und die kreative Haltung zu den Dingen verloren und antworten mit übertriebener Konformität.
Winnicott führt diese Unfähigkeit auf eine frühkindliche,  schmerzhafte und vernichtende Erfahrung zurück, in der die für den Säugling / das Kind notwendige Fürsorge durch „die Mutter“ zu lange ausbleibt. Er schreibt, dass die Leere, die zunächst als neutral und bedeutungslos erfahren wird, dann zu einem unerträglichen Zustand wird, "wenn zu einem Zeitpunkt, an dem es dringend erforderlich gewesen wäre, einfach nichts geschah."2 Es kommt zu einem schmerzhaften Zusammenbruch, der als Vernichtung erlebt wird, als traumatischer Bruch in der Lebenskontinuität. Anzumerken ist hier, dass „Die Mutter“ für ihn eine Metapher für die „hilfreiche Umwelt“ ist, also nicht zwingend und ausschließlich die reale Mutter.

Im Gegensatz dazu kann in dem Zeitfenster der Leere aber auch ‑ ehe die Leere schmerzhaft wird und nur die eigene Ohnmacht spiegelt und bevor die Mutter, die fürsorgende Allmacht wiederkehrt ‑ sehr wohl etwas „passieren“: Es kann ein „Übergangobjekt“ auftauchen, das die Anwesenheit der Mutter in ihrer Abwesenheit zu zeigen vermag. Mit einem solchen Übergangsobjekt, durchaus etwas Einfaches, Unfertiges, z.B. ein Stück Stoff, ein Haarband etc, hat sich zwischen die neutrale Leere und das "Dasein" der Mutter „etwas“ geschoben, das Anwesenheit und Abwesenheit für das Kind überhaupt erst als unterschiedene Zustände erschafft. Das Übergangsobjekt wird zum Symbol, das das "Noch-Nicht" der Anwesenheit der Mutter präsent macht, aber in diesem Aufschub das Versprechen ihrer Wiederkehr, der Mangelaufhebung gibt.

Mit seiner Hilfe erlebt ein Kind sein erstes "Freiheitsmoment", da es ihm gelingt, Erleben als Erfahrung zu symbolisieren, oder umgekehrt gesagt, über ein Symbol die Erfahrung der Erfahrung zu machen. Das Übergangsobjekt ist aber nicht miss zu verstehen als ein Zwischenschritt, mit dem sich das Kind an die Realität herantastet, bis es sie schließlich "als solche" akzeptieren kann. Es geht umgekehrt darum, dass die Realität mit dem Übergangsobjekt erst "erzeugt und gefunden" wird, da sie für die Symbolbildung in Anspruch genommen wird. Die Realität kann so zu etwas werden, was sie "von sich aus" nie sein kann, nämlich eine Realität, die etwas bedeutet. Es geht also um die grundlegende Erfahrung der Befähigung zur Repräsentation und der haltgebenden und versprechenden Funktion von Repräsentationen. Unterstellt ist bei dieser Wortwahl, dass Re‑präsentation nicht einfach spiegelbildlich, abbildlich funktioniert, sondern immer eine Verschiebung und einen Aufschub einschließt, als Kreuzung einer Anwesenheit in der Abwesenheit.

Winnicott weist darauf hin, dass man das Kind z.B. in Bezug auf das Übergangsobjekt nie mit der Frage konfrontieren darf, ob es den „Gegenstand nun selbst geschaffen“ hat oder ob er ihm „nur bequem zur Hand gewesen“ sei.3

"Gefunden" würde bedeuten, dass die symbolische Vereinigung von äußeren Zufällen abhinge, während "erschaffen" hieße, dass dem Symbol kein Moment einer Äußerlichkeit anhaften würde, es also unfähig wäre, überhaupt etwas zu symbolisieren. Als Symbol eines Versprechens hält das Übergangsobjekt aber genau den Ort zwischen dem Außen und dem Innen.

Was Winnicott mit der Konstituierung des Übergangsobjekts schließlich beschreibt, ist die Herausbildung der Abwesenheit aus der Leere, die Entstehung von Bedeutung aus der Bedeutungslosigkeit, die Erschaffung von Symbolen. Damit die Fähigkeit zur Symbolbildung voranschreiten und sich verstetigen kann, führt er den Begriff des „holdings“ (des Haltens) der Mutter, der hilfreichen Umwelt ein, wobei dieses „holding“ sich durch ein „good enough“ – ein hinreichend gut ‑ auszeichnet. Beide Begriffe „holding/good enough“ bilden einen schwerlich zu verobjektivierenden Zusammenhang. Denn es geht um das rechte Maß von „nicht zu viel“ und „nicht zu wenig“ an Zuwendung. Im Falle des „zu viel“ erschiene die Mutter als allmächtige Instanz und die Leere als Vorbedingung der Abwesenheit kann nicht entstehen. Im Falle des „zu wenig“ an „Zuwendung“ führt dies zum traumatischen, d.h. nicht benennbaren, nicht wiederholbaren Einbrechen der Leere, d.h. das Traumatische Ereignis ist da – insofern es sich an bestimmten Symptomen festmachen ließe, aber andererseits ist es nicht da – insofern es eingekapselt, unsprachlich und zeitlos bliebe.

Sobald aber ein Kind über einen gewissen Zeitraum das "Versprechen" des Übergangobjekts erfahren konnte, kann sich es das Vertrauen auf die allumfassende Macht der mütterlichen Mangelaufhebung ausdehnen und übertragen, in eine rahmengebende Struktur münden. Das, was Winnicott "potential space", ins Deutsche übersetzt „Übergangsraum“ nennt. Zwei Missverständnissen muss hier kurz begegnet werden: Ein Übergangsobjekt ist ein geduldiges, aber eben kein behütetes oder konserviertes Objekt. Es wird gebraucht und kann und muss durchaus auch Hass und Destruktion aushalten. Ferner entsteht mit dem Gelingen eines Übergangsraums und der Symbolisierung durch Übergangsobjekte keineswegs ein ganzheitliches Selbst, das für den Rest seines Lebens in Frieden leben kann. Vielmehr kann das Individuum Konflikte halten und aushalten, hat sie aber nicht von vornherein aus dem Weg geräumt.

Mit den Übergangsphänomen – d.h. Übergangsobjekte und Übergangsraum ‑ kann ein symbolischer Raum entstehen und betreten werden. Zugleich entstehen damit Freiheitsspielräume, die Erfahrungen bedeutsam machen und die Kreativität ermöglichen. Winnicott spricht sogar davon, dass aufgrund solcher Spielräume schließlich alle Handlungen in einem kreativen Sinne ausgeführt werden können – vom Kochen bis hin zum Blick auf die Uhr.4 Die angesprochenen „Grenzfallpatienten“ dagegen haben diese Spielräume nicht. Ihr Symbolisierungsproblem macht es ihnen unmöglich, Erfahrungen zu re‑präsentieren. Die Dinge drohen entweder unmittelbar zu werden oder ziehen in weiter Ferne bedeutungslos an ihnen vorbei.

Arendt

Wenn wir uns dem Denken Hannah Arendts zuwenden, so stoßen wir ebenfalls, wenn auch in einem anderen, nämlich politischen Kontext und mit einer anderen Begrifflichkeit, auf Fragen, die die Kreativität und die Symbolisierung bzw. Entsymbolisierung betreffen. Es ist nahe liegend, dass der politische Raum im Arendtschen Sinne konstitutiv mit einer kreativen Dimension verbunden sein muss. Als Freiheitsraum ist er ja nur deshalb möglich, weil das Handeln in ihm jedwede gesellschaftliche Determiniertheit und Zwanghaftigkeit ereignishaft unterbrechen kann. Ebenso oder noch offensichtlicher ist der Zusammenhang des Arendtschen Denkens mit den Fragen der Entsymbolisierung. Arendts Erfahrung des Totalitarismus schrieb sich durch ihre Texte als Erfahrung der Zerstörung und des Zusammenbruchs symbolischer Räume.

Es war die Erfahrung, dass politische Freiheit und politisches Handeln, damit die Möglichkeit die Sinnhaftigkeit und Bedeutung dessen zu kreieren, was uns gemeinsam angeht, förmlich ausradiert wurde. Liest man entsprechende Passagen aus ihrem Werk, so ist ein Wesenszug totalitärer Diktaturen, dass sie auf die totale Entpolitisierung des sozialen Lebens zielen. Nicht nur werden alle politischen Rechte unterbunden, sondern es wird zugleich noch versucht, die Gedankenfreiheit, die Willensfreiheit und die Freiheit künstlerischer Produktivität durch Einschränkung und Verbote zu vernichten. Vor allem die Gebiete, in denen ein schöpferischer Raum entstehen und wohnen könnte, werden zerstört.5
Hier schließt sich auch die Arendtsche Analyse von Ideologie an, die sie im Zusammenhang mit ihren Arbeiten zur Entstehung des Totalitarismus entwickelt. Arendt stellt die Zwanghaftigkeit von Ideologien in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Wesen der Ideologie sei es, aus einer Idee eine Prämisse zu machen, aus der dann alles zwangsmäßig abgeleitet werden kann.6 Der – von ihr so bezeichnete – „Selbstzwang zum deduzierenden Denken“ sei identisch mit unserer Angst, „uns in Widersprüche zu verwickeln und durch solche Widersprüche uns selbst zu verlieren.“7

Die Erfahrung des Totalitarismus, als geschlossenste und gewalttätigste Form von Ideologie, lässt Arendt radikal jedwede strukturbedingte Zwanghaftigkeit in Form von Prozesshaftigkeiten und determinierenden Entwicklungen verwerfen. Stattdessen setzt sie auf ein „Zwischen“, auf den öffentlichen/symbolischen Raums, der Politik und politisches Handeln trägt und verwirklicht. Politik vollzieht sich in und mit gemeinsam geteilten Übergangsphänomenen, in einem gemeinsamen symbolischen Raum, in und mit Sprache. In diesem Sinne sind Übergangsobjekte für die politisch Handelnden immer schon da, ob und wie sie von ihnen jedoch genutzt, sozusagen erhandelt werden, ist offen. Politik im Arendtschen Sinn ist keine substantielle Qualität des Menschen, keine quasi anthropologische Gegebenheit.

Arendt schreibt:

 „(....)  der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug.“8

Und nur im Handeln in diesem „Zwischen“ und als Aktualisierung dieses „Zwischens“ ist Freiheit, entstehen neue Bedeutungen, neuer Sinn.

Arendt schließt alle Versuche aus, die dieses Zwischen von einem Innen oder Außen her bestimmen oder dominieren wollen. Obwohl sie betont, dass dieses Zwischen außerhalb des Menschen liegt, ist es nicht als Äußerlichkeit im Sinne einer Objektivität gedacht, der gegenüber der Handelnde ohnmächtig wäre. Sie insistiert ferner darauf, dass das Politische und die Freiheit auch nicht von einem intentionalen Innen her bestimmt wird, gleich ob es sich als Wahl- oder Willensfreiheit oder als moralischer Wert verkauft. Würden die Ziele außerhalb des Zwischens und des Handelns liegen, gleich ob von einem Innen oder von einem Außen her definiert, würde es sich um die Umsetzung eines Plans oder um den Ablauf eines Prozesses handeln.

Arendts Zwischen und damit das politische Handeln ist also jenseits eines objektiven Außens und eines autonomen, souveränen Innens angesiedelt. Das heißt auch, dass niemand über den Zwischenraum souverän verfügen kann, in dem Sinne, dass er/sie es willentlich erschaffen, aktualisieren oder kontrollieren kann – ebenso wenig wie das Kind das Übergangsobjekt/den Übergangsraum willentlich erschaffen oder wählen kann. Wie das kindliche Übergangsobjekt hält das gemeinsame „Zwischen“ einen Abstand zur Allmacht und zur Ohnmacht, ist im tieferen Sinne also wirklich ein Spielraum, in dem Grenzen akzeptiert und verschoben werden können.

Jedoch scheint das Zwischen bei Arendt als immer und überall gleich gegeben und nur in den extremen Momenten – Totalitarismus – gewaltsam verschlossen. Es wirkt in Bezug auf das Handeln zuweilen eigenartig freischwebend, so als sei die Frage des Angestoßenseins überflüssig, als seien die durch den Bezug selbst gegebenen Anlässe nur zweitrangig. Es scheint fast so als könnte das Handeln einfach so in das Zwischen hinein gehen und die gemeinsame Welt spontan irgendwohin transformieren. In diesem Sinne ist es sehr wohl möglich, dass man, wie oft getan, das Arendtsche Verständnis des politischen Handelns auch im Sinn einer permanenten politischen Spontaneität auslegt, sozusagen als eine spontane Handlungsrevolution. Hannah Arendt hat diesen Bewegungsüberschuss wohl gespürt und immer die Wichtigkeit einer freiheitsgebenden und freiheitssichernden Struktur in Form von Gesetz und Verfassung betont. Allerdings, so ist anzumerken, wird durch eine von außen gesetzte Struktur gerade nicht der Übergangsraum selbst geschaffen, sondern nur die Möglichkeit des Übergangsraums gesichert.

Einerseits stellt Arendt den politischen Raum als einen potentiellen Raum, d.h. einen Übergangsraum dar, andererseits scheint die Unbedingtheit ihres politischen Handlungsbegriffs den Übergangsraum und seine -objekte nicht treffen zu müssen, um ihn / sie in der Handlung aktualisieren zu können. Allerdings gibt es in ihrem Essay-Band „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“ eine weiterführende Passage, wo sie das Vor der Freiheit und des Handelns erkundet ‑ und durchaus Fragen nach dem Angestoßensein von Handeln und der Bedingung von Freiheit gestellt werden.

Bezug nehmend auf die (politische) Krise der Moderne, in der alte metaphysische Fragen ihren Sinn verloren haben und Traditionsfäden gerissen sind, schreibt Arendt von einer Zwischenperiode, in der den Handelnden „ein Intervall in der Zeit zu Bewusstsein kommt, welches ganz von Dingen bestimmt ist, die nicht mehr sind, und von solchen, die noch nicht sind. In der Geschichte haben diese Intervalle mehr als nur einmal gezeigt, dass sie das Moment der Wahrheit enthalten.“9

Für Arendt sind solche schöpferischen Intervalle Momente der politischen Erneuerung und/oder Neugründung, wie sie sich beispielhaft in den Revolutionen von 1776 (Amerika) und 1789 (Frankreich) gezeigt haben.

Ich glaube, dass Arendt sich hier hinsichtlich des Intervalls – dem Zwischenraum in der Zeit - und seiner schöpferischen Potenziale mit Winnicotts Übergangsraum trifft. Im Intervall zwischen einer nicht länger bindenden Vergangenheit und einer sich versprechenden Zukunft wird es möglich, aus der determinierenden Zeitlinie herauszutreten. Die freiheitliche Gründung (die positive politische Freiheit) vollzieht sich zwar nicht im Raum der Leere/Abwesenheit, wird aber durch sie vorbereitet und getragen. Allerdings ist dieses Intervall keine Leere, weder neutral noch traumatisch, damit kein ungehaltener Raum. Die Erfahrung des „Noch Nicht“ und des „Nicht Mehr“ wirkt hier weder bedrängend noch bleibt sie einfach fern. Nur so besteht die Möglichkeit, vergangene Spuren auf eine Zukunft hin zu öffnen. Beispielhaft hierfür ist sind die Bezüge auf republikanische und christliche Momente in der amerikanischen Revolution, die in Anklängen noch in der amerikanischen Kommunitarismus-Debatte am Ende des letzten Jahrhunderts auftauchten. Oder, um es am Gegenbeispiel zu verdeutlichen: Wären wir wirklich mit einer völligen Leere konfrontiert, käme es voraussichtlich, statt zu der Erfahrung der Freiheit, sehr schnell zu einem Zusammenbruch des Übergangsraums selbst. Das schrecklichste Beispiel hierfür ist wohl die Umbruchperiode, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa beginnt und schließlich im Totalitarismus endete.

Ebenso wie Winnicott sagen würde, dass es letztendlich kein Übergangsobjekt ohne einen Übergangsraum geben kann, so könnte man mit Arendt sagen, dass es kein wirkliches Handeln ohne das „noch nicht“ – „nicht-mehr“ Intervall gibt. Anders formuliert: Bedingung von beginnendem politischen Handeln ist die Begegnung und symbolische Artikulation der Abwesenheit.

An dieser Stelle könnte man – trotz der sonstigen Nähe - auch eine Differenz zu poststrukturalistischen Theorien markieren, in denen das, was strukturbedingt immer fehlen wird, d.h. die Kluft / der Spalt selbst das Handeln auslöst, quasi zum Handeln, zur Bewegung zwingt. Beispiel ist das Lacansche Begehren, das nie spielerisch „aufgehoben“ werden kann, oder das traumatische Erleben des Scheiterns der eigenen Identität bei Ernesto Laclau.

Ein politischer Neuanfang im Sinne Arends ist keine Überschreitung des Vorangegangenen, sondern ein Ereignis im Zwischenraum von Vergangenem und Zukünftigen. In diesem Sinne werden Übergangsobjekte nicht neu erfunden, sondern geöffnet, von Verschüttungen und Zurichtungen befreit wie es z.B. Jacques Derrida in Marx’ Gespenster mit dem Marxismus als einem positivierten, buchstäblich gewordenen Übergangsobjekt  des 20. Jahrhunderts tut.10

Politischer Raum als Übergangsraum

Natürlich führen die demokratischen Revolutionen in Frankreich und den USA zu Zäsuren. Oder mit den Worten des frz. politischen Denkers Claude Lefort:

„Demokratie ist die geschichtliche Gesellschaft schlechthin, eine Gesellschaft die im offenkundigen Kontrast zumTotalitarismus die Unbestimmtheit in in ihre Form aufnimmt und erhält.“11

Man könnte auch sagen: Demokratie ist eine Angelegenheit, bei der Menschen bereit sind, sich der Erfahrung der Abwesenheit, des Entziehens von Sinn immer wieder auszusetzen, im Vertrauen auf die Möglichkeit einer neuen, gerechten Gefasstheit der Gesellschaft. In der Erfahrung der Abwesenheit erhalten sich widerständige Momente, dasjenige, was nicht aufgeht, was zunächst nicht integriert werden kann, die individuelle/kollektiven Wünsche, die den Mainstream durchkreuzen.

Jede Demokratie trifft verschiedene institutionelle Vorkehrungen, die die Möglichkeit der politischen, positiven Freiheit sichern sollen, d.h. den Raum für Unbestimmtheit offen lassen sollen. Allerdings können diese Vorkehrungen immer nur den Möglichkeitsraum umreißen, also das Recht, Rechte zu haben. Ob und wie sich jedoch ein demokratischer Raum mit der Erfahrung der Abwesenheit konfrontieren kann, ist weder formal noch objektiv zu bestimmen. Wie offen plural oder geschlossen konformistisch dieser Raum ist, erweist sich innerhalb der täglichen Performance des Politischen und an den sie herausfordernden, besonderen politischen Momenten.

Dies zeigt sich auch an der konstitutiven Gespaltenheit demokratischer Räume, d.h. in ihren spezifischen Konflikten und tradierten Konfliktmustern. Ein sicheres Zeichen aller modernen und noch-modernen sog. politischen Theorien ist, dass Abwesenheit, Negativität und Konflikt letztendlich nicht zugelassen werden können, sondern in der einen oder anderen Form immer aufgehoben werden müssen, um ein Ziel, das Gute zu erreichen. Man geht davon aus, dass etwas noch fehlt, aussteht, das nur bestimmt und hinzugefügt werden muss. In einer solchen Konsequenz können irritierende Momente niemals gesehen, geschweige denn als Auslöser eines Ereignisses oder als Moment der Freiheit erfahren werden. Sie müssen vielmehr als Momente der Störung, sogar der Sabotage am Guten erfahren werden.

Dagegen impliziert ein geöffnetes Konfliktmuster eine unaufhebbare Form von Abwesenheit, Ausstehendem, und fordert fortlaufende die Bereitschaft, sich konflikthaft aufeinander zu beziehen. Und ebenso wie der Konflikt den politischen Raum durchläuft, markiert er das einzelne Subjekt selbst, das die grundsätzliche Unbestimmtheit seiner Entscheidungen erfährt und damit erst auf die anderen geöffnet streiten kann. Jeder echte Konflikt heißt, dass keine der Streitparteien den vollen, den alleinigen Sinn hat, d.h. eine argumentative, logische Aufhebung des Streits lässt sich nicht antizipieren. Zwischen den Streitparteien klafft ein Raum der Abwesenheit auf, oder anders gesagt: Die Konfliktparteien bleiben aufeinander bezogen, gerade weil eine Sache nicht von ihnen geteilt wird, eben die strittige Sache selbst. Man denke hier an die Konflikte zu Abtreibung, Asyl und Kriegseinsätzen.

Im Streit sind Allmacht und Ohnmacht suspendiert und die Möglichkeit eröffnet, dass sich etwas anderes, neues entwirft. Das Risiko des Scheiterns und der Niederlage ist Bedingung für die Möglichkeit eines anderen Entwurfs.

Das in solcher Konflikthaftigkeit gebildete „ politische Wir“ ist nie in seiner Präsenz gegeben. Es erfährt sich immer nur nachträglich als politische Gemeinschaft, wenn aus der Begegnung mit der Abwesenheit etwas anderes, neues entstanden ist. Ein politischer Raum und ein „politisches Wir“ (ein Zwischen) ist also weder eine objektivierbare, sozial fundierte Gesellschaft noch eine organisch gewachsene, substantielle Gemeinschaft.

Wenn ich hiermit die „Logik des Konflikts“, die Notwendigkeit der Konflikthaftigkeit anspreche, so schließt sich die Frage nach der konkreten politischen Ausprägung solcher Konflikte an. Denn auch hier zeigt sich ein haltender Übergangsraum, einer der „good enough“ ist, daran, dass er die Konflikthaftigkeiten aushaltbar macht, ohne das Versprechen, den Bezug auf das, was noch aussteht, aufzugeben. Sobald der Übergangsraum geschwächt ist und entweder Überschreitung oder Positivität dominieren, verfällt der Konflikt. Entweder sind wir dann mit einem bloßen Antagonismus konfrontiert, bei dem die andere Seite unerträglich wird und eliminiert werden muss. Oder wir verschwinden in einer positiven Differenzordnung, in der die eine Sache und Position so gut wie die andere ist.

Der Spielraum, die Grenzfähigkeit des Übergangsraums, ist dagegen bestimmt durch sein zugleich „real“ und „nicht real“ sein.

Wenn ein kollektiver Übergangsraum diesen Spielraum vollständig verliert, dann kann er entweder ausschließlich „real“ werden. Das hieße in diesem Zusammenhang, dass ein einziger politischer Diskurs die soziale Wirklichkeit buchstäblich dominieren und kontrollieren würde. Wünsche, Anliegen etc. würden keinen Eingang mehr finden, der Raum wäre gleichsam versteinert. Auf der kollektiven Seite wären wir mit einer buchstäblichen, im äußersten Fall gewaltsamen sozialen Ordnung konfrontiert (Bsp. Totalitarismus, aber auch frz. Nach-Revolution). Auf der individuellen Seite würde dieses Real-Sein eine soziale Hyperkonformität bewirken, eine soziale Anpassungsleistung, die jedwede kreative Beziehung zur eigenen Erfahrung verloren hätte. Als Beispiel fällt sofort Arendts Beobachtung von Adolf Eichmann ein, die seine banale Konformität mit dem Regime nachzeichnet. Eichmann erschien nicht als diabolische Figur, sondern als jemand, der komplett unfähig war, mit seinen Erfahrungen emotional und kreativ Kontakt aufzunehmen.

Oder umgekehrt, wenn der Übergangsraum schier „nicht real“ wäre, dann hätten wir es mit einer absoluten, gleichgültigen Differenzordnung zu tun. Wiederum von der kollektiven Seite betrachtet, würden politische Diskurse jede Fähigkeit verlieren, die Wünsche eines Kollektivs zu versammeln und die Individuen zu berühren. Individuell führte dieses „Nicht-Real“-Sein in einen fast psychotisch zu nennenden Zustand, da das Leben und die Erfahrungen nicht mehr in Beziehung zu einer gemeinsamen Welt, zu einer sozialen Realität gebracht werden könnten.

Today?

Welche Relevanz hat all dies für unsere heutige Situation? Es ist natürlich nicht so, dass mit Übergangsraum und Übergangsobjekten ein Lösungskonzept vorgeschlagen wird, eine Art Wunderraum, der nur eröffnet und betreten werden muss, um eine Wunschumsetzungsmaschine in Gang zu setzen. Aber vielleicht kann mit den Begriffen eine andere Aufmerksamkeit und ein anderer Zugang zum uns umgebenden demokratischen Übergangsraum ermöglicht werden. Denn, obwohl das demokratische Setting weitgehend akzeptiert wird, misstraut man gerade den Potenzialitäten des politischen Raums. Oder man flüchtet in Regressionen.

An dieser Stelle möchte ich auf den Titel des Vortrag zurückkommen: Politisches Handeln jenseits der Angst. Mit dieser Angst ist die Angst vor der gemeint.

Als angstbesetzt würde ich jene regressiven Tendenzen bezeichnen, die zur politischen Verschmelzung tendieren. Die Erfahrung von Perspektiv- und Ausweglosigkeit, die Konfrontation mit einer „Leere“ findet für viele Jugendliche in unterschiedlicher Ausprägung tatsächlich statt. Vereinfachte und entdifferenzierende Identifikationsmuster samt den dazugehörigen rigiden Ausschließungsmechanismen sollen für die Wieder-Verankerung im Hier und Jetzt sorgen.

Die NPD-Erfolge in Sachsen sind in Teilen gewiss darauf zurückzuführen. Einschränkend muss man jedoch hinzufügen, dass man sie einerseits als Protest, als eine Herausforderung an die Mainstream-Politik sehen kann und muss. Andererseits – und dies ist das eigentlich Bedenkenswerte und Beunruhigende, scheint es jedoch nicht nur eine in sich verkapselte Ideologie zu sein. So deuten eine breite und sich ausdifferenzierende Jugendkultur beispielsweise darauf hin, dass es hier auch hörende und weiter tragende Momente gibt.

Auch wenn ich diese Regressionstendenzen nicht einfach abtun oder verharmlosen will, so scheinen sie mir nicht die vorherrschende Grundstimmung wider zu spiegeln. Diese ist eher gekennzeichnet durch einen Zug zur Entwertung des politischen Raums, einen Zug zur Implosion und Gleichgültigkeit. Die gängige Erklärung dafür ist, dass sich unsere Gesellschaft pluralisiert hat und dass sich diese Pluralität nicht mehr einfach repräsentieren lässt.

Für andere wiederum ist die Krise der Repräsentation genau der Startpunkt, um von einer möglichen Re-Politisierung der Gesellschaft zu sprechen, da die Pluralität die Möglichkeit der politischen Artikulation und positiven Hegemonisierung bietet. Plausibel daran ist, dass hoch individualisierte Menschen weniger für Verschmelzungspolitiken anfällig sind und meist den Liberalisierungsprozess mittragen. Ihre Angst jedoch ist eher umgekehrt die, dass das Politische zu real wird, zu viel von ihnen fordern könnte, zu sehr in ihr Leben eindringt. Sie gehen davon aus, dass auf die Erfahrung der Leere/Abwesenheit politisch nur mit Buchstäblichkeit reagiert werden kann und demnach jeder Versuch einer neuen Hegemonisierung notwendig nur ein schließender und homogenisierender, damit freiheitsberaubender Diskurs sein kann. Man zieht sich lieber selbstgenügsam zurück in kulturell definierte Subkulturen und Lebensstilgemeinschaften. Dies ist die andere Form der politischen Regression.

Dabei scheint es so, als wüsste ein Großteil der Menschen, dass irgendetwas mit unserer politischen Verfasstheit nicht in Ordnung ist, dass irgendetwas nicht Benennbares fehlt. Der Satz „Es spricht mich an“ wird in Bezug auf unsere jetzige politische Kultur wohl selten zu hören sein.

Findet zu bestimmten Fragen dann doch eine Politisierung statt, so zum Beispiel hinsichtlich des Irak-Krieges, so wirkt es so, als ob die Fundierung in einem möglichst universellen Moraldiskurs genau die Distanz zur eigenen Konfrontiertheit  mit dieser Frage gewährleisten soll.

Vielleicht ist im Zusammenhang mit diesen liberalen kulturellen Einkapselungen auch die zunehmende Inanspruchnahme von Experten- und Managerwissen für politische Zwecke zu verstehen. Sie fungiert sozusagen als ein Schild der (Pseudo-) Objektivität, das vor anderen Zumutungen der Politik schützen soll. Denn was auf einer vermeintlich „objektiven“ Ebene als Sachzwang festgestellt wird, kann man als „notwendiges Übel“ mit Blick auf das Realitätsprinzip noch verschmerzen.

Doch trotz all dieser Rückzüge bricht das „Verdrängte“, das nicht der Konfrontation Ausgesetzte, an anderen Stellen wieder durch. So ist zum Beispiel der Hunger nach (extremen) Körpererfahrungen oder die Sinnsuche in esoterischen und / oder mystischen Bereichen kein nebensächliches Phänomen mehr. In diesem Kontext wäre dann der eingangs erwähnte neue Patiententypus sozusagen die Spitze des Eisbergs. Die Unfähigkeit zur Repräsentation der eigenen Erfahrungen und Wünsche, hätte – wie vermittelt auch immer – etwas mit der Unzugänglichkeit eines gemeinsamen politischen Raums zu tun.

Das Paradoxe an diesem Zustand der Unzugänglichkeit und Entleerung ist, dass wir immer geneigt sind, diesen Zustand als Folge uneinholbarer sozialer oder ökonomischer Prozesse zu sehen, statt den Zustand auch als Produkt eigener Zwanghaftigkeiten und Angstmomente zu sehen. Mit und gegen Max Weber müsste man also nicht von einer „entzauberten“, sondern im schlechten Sinne „verzauberten Welt“ sprechen.

Vielleicht hat diese anhaltende Verzauberung aber auch mit dem zu tun, was Hannah Arendt in Bezug auf die schöpferischen Momente in der Zeit sagte:

„Wir sind für das Wohnen in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft weder ausgestattet noch vorbereitet.“

Anmerkungen

1 Vgl. André Green: Analytiker, Symbolisierung und Abwesenheit im Rahmen der psychoanalytischen Situation, in: A. Mitscherlich (Hg.): PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Band XXIX, 1975, S. 503-541

2 Donald W. Winnicott: Die Angst vor dem Zusammenbruch, in: M. Mitscherlich-Nielsen / H. Dahmer / L. Rosemkötter (Hg.): PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jahrgang XLV, 1991, S. 1116-1126

3Vgl. Donald W. Winnicott: Die Lokalisierung des kulturellen Erlebens, in: A.. Mitscherlich (Hg.): PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jahrgang XXIV, 1970, S. 260-269

4  Vgl. Donald W. Winnicott: Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums, Stuttgart, 1990, S. 43 ff.

5 Vgl. Hannah Arendt: Freiheit und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 201-226

6  Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, 1993, S. 717 ff.

7  Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, 1993, S. 722

8  Hannah Arendt: Was ist Politik., München, 1993, S. 11

9 Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 13; Vgl. dazu auch: Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken, München, 1993, 193 ff.

10  gl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster, Frankfurt/M., 1995

11 Claude Lefort: Die Frage der Demokratie, in: U. Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M., 1990, S. 291