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Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005

Henriette Arendt (11.11.1874 Königsberg/Pr - 22.8.1922 Mainz)

Die erste deutsche Polizeiassistentin des Deutsches Reiches seit 1903

Mascha Riepl-Schmidt

Stuttgart, Königreich Württemberg. Ja, tatsächlich, sie ist Hannah Arendts Tante!

Erst nach neueren intensiven Recherchen im Zusammenhang mit der Tagung „Wie weiblich ist das Verbrechen?“ am 18.10.2003 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg  in Stutttgart - organisiert vom Netzwerk Frauen&Geschichte Baden-Württemberg  e.V. in Kooperation mit dem Haus der Geschichte - war es mir möglich, diesen personellen Zusammenhang endlich - auch nach intensiven Auseinandersetzungen mit dem Mainzer Standesamt - korrekt zu belegen.

Doch noch immer sind mir die familiären Hintergründe, besonders auch das Verhältnis zur Familie des Bruders und zur Nichte nicht bekannt. Henriette Arendt geht nur andeutungsweise auf ihre Familie in Königsberg ein. Das anfängliche schwierige Verhältnis zu ihrer Stiefmutter, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, wird in „Schwester Gerdas Tagbuch“ evoziert. Auf ihren Bruder kommt sie nicht zu sprechen, er wird nur in ihrem Lebenslauf für die Behörde erwähnt. In Elisabeth-Young Brühls Hannah Arendt-Biographie taucht Henriette Arendt, verheiratete de Matringe, zwar im Stammbaum auf, ihre beruflichen Zuschreibungen sind aber nicht korrekt. Dass sie in Stuttgart eine „Skandalgeschichte“ geschrieben hat, scheint nicht bekannt zu sein. Und auch in den Stuttgarter Chroniken wird es tunlich vermieden, die „Affäre“ Arendt  zu beleuchten.

Als ich vor nun 20 Jahren mit der Recherche begann, war das im Stuttgarter Raum befindliche Quellenmaterial noch kaum untersucht worden. Heute gilt Hannahs Tante als Urahnin der deutschen Polizeibeamtinnen. Das „European Network of Policewomen“ veranstaltete unter dem Titel „100 Jahr Frauen in der Polizei“ am 26.Juni 2003 ebenfalls im Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart eine Fachtagung, auf der Henriette Arendt als erste Frau in der deutschen Polizei gewürdigt wurde.

Im folgenden ist eine gekürzte Fassung einer Kurzbiographie zu lesen, die ich für die Landeskundliche Kommission Baden-Württemberg vor kurzem erstellt habe.

V Max Arendt, 1843-1913, Königsberg /Pr., Großkaufmann im Teehandel, langjähriger Stadtverordneten-Vorsteher, von 1910-13 Vorsteher der  Repräsentantenversammlung der jüdischen Gemeinde, von 1908-1913 Vorsitzender der Zentralarmenkommission in Königsberg. M Johanna, geb. Wohlgemuth, ca 1850-1875 Königsberg G 2: Paul Arendt, Ingenieur, * 25.10.1873 - + 30.10.1913 Königsberg verh. 13.04.1902 mit Martha geb. Cohn, * 28.05.1874 Königsberg + 26.07.1948 (auf dem Schiff von New York nach England), Eltern der Philosophin Hannah Arendt, * 14.10.1906 Hannover + 4.12.1975 New York

1891/92

Examensabschluss der Oberen Abteilung der École Supérieure in Genf nach vorhergehendem Besuch der Höheren Töchterschule in Königsberg

 

1892

halbjähriger Kurs einer Handelsschule in Berlin

 

1892/95

Korrespondentin in Königsberg im väterlichen Geschäft

 

1895/96

1 Jahr Ausbildung zur Krankenpflegerin im Jüdischen Krankenhaus Berlin

 

1898

Eintritt in den Berliner Schwesternverband vom Roten Kreuz "Augusta Haus", 3 Jahre in verschiedenen Krankenhäusern u. Nervenheilanstalten tätig, u.a. in Kiew/Russl.

 

1901

Stationsschwester der Neuen Lungenheilanstalt Schömberg

 

1902

Eintritt in den konfessionslosen Stuttgarter Hilfspflegerinnenverband

 

20.02.1903-18.12.1908

Polizeiassistentin in Stuttgart

 

seit 1909

Domizil im eigenen Haus in der Schweiz

 

1911-1914

Vortragstätigkeit gegen den internationalen Kinderhandel, Vortragsreise nach England, wird in London beim Ausbruch des 1. Weltkrieges als Spionin verhaftet

 

Febr. 1915

Scheinheirat mit dem Vetter Offizier Réné de Matringe aus Lyon

 

1915

Auslieferung nach Rotterdam, erhält dort einen Reisepass des Kaiserlichen Deutschen Konsulats

 

Nov. 1915

Wien, Arbeit in einer Versorgungseinrichtung für galizische Flüchtlinge

 

28.03.1916

Abschiebung als feindliche Ausländerin, ihre Nationalität ist seit der Heirat bei den Behörden nicht geklärt, A. gilt auch als Französin, obwohl sie einen deutschen Pass besitzt. Darf nach Deutschland einreisen

 

1916-1922

Arbeit beim Roten Kreuz, zuletzt als Pflegeschwester in einem Mainzer Krankenhaus

 

Henriette Arendt, die erste Polizeiassistentin des Deutschen Reiches wurde im Februar 1903 in Stuttgart angestellt. Doch dieser Akt, der heute als historisch bahnbrechend eingestuft werden muss, führte nach sechs Jahren zu einer unehrenhaften Entlassung der Polizeischwester „Henny“ aus dem städtischen Amt. Sie hatte nur von den wenigen „frauenbewegten“ Anhängerinnen und liberalen Politikern Unterstützung bekommen, die das Doppelbödige und die doppelte Moral ihres Auftrages erkannt hatten und die trotz der Niederlage dieser ersten Polizeiassistentin des Deutschen Reiches weiterhin die psychologische und institutionelle Notwendigkeit von weiblichen Beamten in der „Sitte“ unterstützten. In der Folge waren bis 1913 in 19 deutschen Städten Polizeiassistentinnen eingestellt worden, die weiterhin den männlichen Beamten in keinerlei Weise gleichgestellt waren und außer der Kinder- und Jugendarbeit "nur" für Frauen und Mädchen zuständig waren, die „sittlich gefährdet“ und in die Prostitution abzugleiten drohten. Erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es dann erstmals Frauen in Polizeiuniform. 1926/27 wurde die „Weibliche Kriminalpolizei“ eingerichtet. Doch erst Mitte der siebziger Jahre des 20. Jhdts wurden Kriminalbeamtinnen auf die Kriminalkommissariate verteilt, um dort mehr oder weniger gleichberechtigt  mit ihren Kollegen Dienst zu tun.

Die Schaffung einer Dienststelle, wie sie die Polizeiassistentin Arendt innehatte, war wohl kaum auf die Einsicht zurückzuführen, diesen Beruf für Frauen zu öffnen. Die wilhelminische Gesellschaft samt ihrer Ordnungsorgane war vielmehr nicht länger in der Lage,  mit dem sozialen Elend, der Armut und der Wohnungsnot der weniger begünstigten Population der sogenannten Gründerjahre fertig zu werden, mit dem Problem wilder und reglementierter Prostitution, mit Hygienebestimmungen und Geschlechtskrankheiten, die noch nicht erfolgreich therapierbar waren, mit alleinstehenden Frauen, deren ernsthafte Berufstätigkeit dubios erschien, weil sie im allgemeinen Bewusstsein noch keine Selbstverständlichkeit hatte: Außerhalb des Hauses arbeitende „Frauenspersonen“ waren noch immer verdächtig - hatten sie doch erst seit rund einer Generation überhaupt die Möglichkeit erkämpft, erwerbstätig sein zu dürfen. Kurz, die Position, in der sich Henriette Arendt seit 1903 in Stuttgart befand, konnte zwar Ursachen und Zusammenhänge aufdecken, aber kaum Möglichkeiten zur Lösung dieser Probleme bieten. Am Ende wurde ihr nie ein Prozess gemacht. Der Gemeinderat hatte ihrer Kündigung einstimmig zugestimmt. Wohl auch deshalb, weil es Arendts Gegnern auch noch gelungen war, ihre sittlich-moralische Haltung anzugreifen und ihr den Vollzug einer „Affäre“ mit einem Polizeiassessor im Dienstzimmer anhängte. Eine Pension bekam sie nicht, sie hatte sich resigniert und krank von Stuttgart verabschieden müssen.

Die erste Polizeiassistentin diente in Schwesterntracht und sollte in rein fürsorgerischer Tätigkeit zwischen der Stuttgarter Polizeibehörde und den vorgeführten Frauen vermitteln. In einem fast rund um die Uhr dauernden Arbeitspensum - bei einem monatlichen Gehalt von 250 Mk - hatte Fräulein Arendt keine Mittel für die Betreuung ihrer Schützlinge nach der Entlassung und für deren gesellschaftliche Wiedereingliederung. In einem Rechenschaftsbericht nach vier Jahren gibt sie an, dass sie von 4.266 eingelieferten Frauen 810 an Rettungsanstalten, in deren Heimatort oder wieder zurück in den ursprünglichen Beruf überweisen konnte. Dabei griff sie auf ihr Privatvermögen und mit Erlaubnis ihres Vorgesetzten auf die Einkünfte aus ihrer publizistischen Aufklärungsarbeit zurück. Durch dieses kritische, öffentliche Offenlegen ihrer Tätigkeit wurde der Fall Arendt zum Politikum.

Ursache für die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit war außerdem die Gesetzeslage und hier besonders der § 361,6 des Strafgesetzbuches, wonach „Weibspersonen“ mit Haft bestraft wurden, wenn sie der öffentlichen Ordnung und dem weiblichen Anstand zuwiderhandelten. Jeder Polizist konnte jede beliebige Frau unter dem bloßen Verdacht der gewerbsmäßigen Unzucht auf die Polizeiwache bringen und an ihr eine Zwangsuntersuchung vornehmen lassen. „Missgriffe“ hatte es etliche gegeben. Es hatte genügt, dass Frauen allein unterwegs waren. Die Polizeischwester bemängelte diese Polizeipraxis auf's Schärfste. Konfliktsituationen entstanden aber nicht nur im Bereich der Polizeihierarchie, sondern auch durch die schon in Stuttgart bestehenden Wohlfahrtsvereine und die dort engagierten Honoratiorengemahlinnen, die sich durch eine Koordinationsstelle, wie sie Henriette Arendt plante, nicht gängeln lassen wollten. Die „Arendt“ agierte nicht gefällig und diplomatisch, sondern laut und auffällig. Die eskalierenden Schwierigkeiten, die ihre weitere Amtszeit bestimmten, hatten zum großen Teil mit dem Vorwurf zu tun, sie sei eine Nestbeschmutzerin, die sich bereichern wolle. Veruntreuungen gab es aber keine. Trotz aller polizeilichen Überwachungen der „A“ nach ihrem Weggang, die sich in ihrer Personalakte niederschlugen, sie widmete sich fortan der Verfolgung des internationalen Kinderhandels, war nun jetzt erst ihr korrektes Todesdatum zu ermitteln.

Q Personalakten im Staatsarchiv Ludwigsburg F801/26 und F 201/97

W Chronologische Auswahl: Henriette Arendt, Mehr staatliche Fürsorge für Gefallene und Gefährdete! Der beste Weg zu Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Stuttgart 1907

diess., Bilder aus der Gefängniswelt, Von Schwester Henriette Arendt, Stuttgart 1907

diess., Menschen, die den Pfad verloren, Erlebnisse aus meiner fünfjährigen Tätigkeit als Polizeiassistentin in Stuttgart, Stuttgart 1907/1908

diess., Dornenpfade der Barmherzigkeit. Aus Schwester Gerdas Tagebuch, Stuttgart 1909

diess., Erlebnisse einer Polizeiassistentin, Süddeutsche Monatshefte, München 1910

diess., Kleine weiße Sklaven, Berlin 1911

diess., Kinderhändler, Recherchen und Fürsorgetätigkeit vom 1.9.1911-1912, Stuttgart 1912

diess., Kinder des Vaterlandes, Neues vom Kinderhandel, mit Jahresbericht Über meine Recherchen und Fürsorgetätigkeit vom 1.9.1912 - 31.8.1913, Stuttgart 1913

L Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt, Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/Main 2004

Heike Maier, „Taktlos, unweiblich und preußisch“, Henriette Arendt, die erste Polizeiassistentin Stuttgarts (1903-1908), Eine Mikrostudie, Stuttgart 1998

Maja Riepl-Schmidt, Henriette Arendt, Die erste Polizeiassistentin Stuttgarts, S.198-212, in: Maja Riepl-Schmidt, Wider das verkochte und verbügelte Leben, Frauenemanzipation in Stuttgart seit 1800, Stuttgart/Tübingen 1990 und 1998

Mascha (Maja) Riepl-Schmidt, Henriette Arendt, „Dem schwäbischen Volkscharakter zu wenig Rechnung getragen...?“ Staatsanzeiger für Baden-Württemberg  4/2004

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