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Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005

Hannah Arendt / Salomon Adler-Rudel

Briefwechsel in den Originalsprachen

 

 

Lissabon, den 17. Februar 41.

 

Lieber Rudel -

 

eben ersah ich aus Ihrem Brief an Dijour, daß es Ihnen nicht schlecht geht, daß Sie noch existieren usw. Ich habe mich so sehr gefreut, daß ich gleich schreiben will. Viel besser wäre es natürlich, wenn wir jetzt gegen 11 Uhr abends eine unserer traditionellen Verab­redungen haben könnten. Aber der Mensch wird bescheiden.

Bitte, geben Sie mir Nachricht von sich und schreiben Sie auf, was Sie tun. Ich bin sehr begierig, die alten Freunde wiederzufinden - und Sie sehen, ich rechne Sie sehr dazu, ob­wohl Sie kein Jugendfreund sind. Das passiert mir sonst nicht. Ich sitze hier mit meinem Mann, wir haben seit September Danger-visen, mit denen wir als Staatenlose nicht heraus und nicht durch Spanien kamen. Jetzt hat es endlich geklappt. Es ist uns verhältnismäßig gut gegangen. Und man hat uns so gut wie gar nicht belästigt. In Gurs war ich noch keine 4 Wochen. Leider ist das aber keineswegs die Regel und die überwältigende Majorität un­serer Freunde sitzt in Arbeits- oder Konzentrationslägern unter unvorstellbaren Bedin­gungen. Die Mortalität ist nicht nur in Gurs so hoch - dort 25 - 40 Menschen pro Tag. Und es sitzen keineswegs nur die Juden, die man jetzt aus Deutschland exportiert hat. Es sitzen die jüdischen Freiwilligen und die sog. Prestatäre (sofern sie untauglich waren sind Sie in Gurs), es sitzen Kinder (4.000!) und Greise (1.500 über 70 Jahren), Männer und Frauen, ganz wahllos und anarchisch. Schreiben Sie mir, wenn Sie etwas wissen wollen.

Wie lange wir hier bleiben werden, weiß ich nicht. Wir haben vorläufig noch keine Pas­sagen und ich werde mich mit der Hicem herumschlagen müssen, was auch nicht schöner geworden ist mit der Zeit. Was sich in Marseille abspielt und abgespielt hat, - wo ich nichts mit ihr zu tun hatte - ist wirklich ziemlich beispiellos. Auch Dijour ist nun gänzlich gefressen und ähnelt jedem x beliebigen Funktionär wie ein Ei dem andern.

Ich habe gestern an Fritz Lichtenstein geschrieben, dessen Schwester in Marseille ist und der es sehr sehr schlecht geht. Falls mein Brief nicht angekommen sein sollte: Adres­se Mme Farrès, Hotel Verdun, 12 rue des Dominicaines à Marseille. Solange ich dort war, habe ich ihr durch Jarblum immer Geld verschaffen Können, weiß aber nicht, ob das nach meiner Abfahrt noch klappen wird.

 

Ihnen von Herzen alles Gute

Ihre

Hannah Arendt-Bluecher

 

6a rua Sociedade farmaceutica I

6. März, 1941

Frau Hanna Arendt-Bluecher,

6a rua Sociedade Farmaceutica I,

Lissabon,

Portugal.

 

Liebe Hanna Arendt,

 

Es ist so selten, in diesen Tagen einen erfreulichen Brief zu erhalten, daß ich Ihnen kaum sagen kann, wie glücklich ich bin, zu wissen, daß Sie und Ihr Mann wenigstens der Hölle entronnen sind, und ich hoffe und wünsche nur, daß Sie sehr bald auch die Überfahrt nach New York antreten können. Daß dies nicht einfach ist, weiß ich leider aus persönli­cher Erfahrung nur all zu gut. Obgleich ich weder an eine Invasion glaube, noch an dem Sieg Englands zweifle und gleich allen anderen Menschen hier mich mit Airraids abgefun­den habe, dauert die Affaire doch etwas zu lange für mich, besonders wo ich doch nie die Absicht hatte, in England zu bleiben. Ich versuche also seit Monaten, irgendwie nach Amerika zu kommen, zweifle aber allmählich, ob mir dies gelingen wird. Sollte es aber doch möglich sein und sollte ich reisen können, so werde ich nicht verfehlen, Sie am Abend nach meiner Ankunft in irgend eine Kneipe zu bestellen.

Ich erzählte Eva, die ebenfalls seit Monaten vergeblich den Versuch macht, nach Paläs­tina zu kommen, von Ihrem Brief und sie fragte mit Recht, wo eigentlich Ihre Mutter ge­blieben ist, da Sie sie nicht in Ihrem Brief erwähnen. Wenn Sie nächstens wieder schrei­ben, lassen Sie mich vielleicht auch das wissen.

Briefe müssen in diesen Tagen kurz sein, ich will aber doch nicht darauf verzichten, ei­nige allgemeine Bemerkungen zu machen, die Sie vielleicht interessieren werden:

(1) Der Krieg: Ich weiß nicht, was Ihre Zeitungen darüber berichten und welche Vor­stellung man in Frankreich und in Lissabon von den Angriffen auf England hat. Lassen Sie sich aber gesagt sein, daß London noch immer steht, wenn auch da und dort häßliche Lücken im Straßenbild zu sehen sind. Ähnliches gilt für viele andere Städte dieses Landes. Natürlich ist Schaden angerichtet worden, aber nicht im Entferntesten in dem Umfange, von dem man außerhalb Englands manchmal auf Grund von Zeitungsnotizen und Bildern zu glauben scheint. Die Lebensmittelversorgung klappt, der Eisenbahnverkehr ist völlig in Ordnung, Gas und Lichtversorgung niemals gestört. Air raids sind sicher keine Annehm­lichkeiten, aber ich glaube, das Charakteristische für London zum Beispiel ist nicht etwa die Tatsache, daß 150.000 Menschen nächtlich in der Untergrundbahn schlafen oder eini­ge hunderttausend mehr andere Shelter benutzen, sondern viel mehr der Umstand, daß 7 - 8 Millionen Menschen nachts in ihren Betten schlafen und jeden Morgen pünktlich an ihren Arbeitsstellen eintreffen. Überhaupt muß man sagen, daß, wenn es auch kein Ver­gnügen war, all das hier mit zu erleben, es war doch irgendwie ein großes Erlebnis, das ich nicht gern missen würde. Zuzusehen und zu erleben, wie ein Volk, das in seinem In­nern Kriege wirklich verabscheut und bis aufs Äußerste friedliebend ist, die traurige Not­wendigkeit dieses Krieges hinnimmt und ohne zu murren oder zu klagen Entbehrungen erträgt und Opfer bringt, ist schon lohnend genug. Ganz abgesehen davon, daß es erfreu­lich ist, immer wieder festzustellen, daß die Entschlossenheit und die Kraft, diesen Krieg zu einem guten Ende zu führen, von Woche zu Woche stärker wird.

(2) Flüchtlinge: Nach einer verhältnismäßig langen Periode der Ruhe und Ungestört­heit, hatten die Flüchtlinge manches zu erleiden. Masseninternierung, gewisse Beschrän­kungen in der Bewegungsfreiheit, Entzug des Rechtes, Radio zu besitzen und einiges mehr. Aber auch hier war es charakteristisch zu sehen, wie sehr bald, nachdem die ersten Panikwochen, die dem Zusammenbruch Frankreichs folgten, vergangen waren, die öf­fentliche Meinung lebendig wurde und gegen die Maßnahmen der Internierung und De­portierung nach Übersee Stellung nahmen. Es ist immerhin ein gutes Zeichen für den letzten Rest demokratische Einrichtung, der noch in Europa verblieben ist, daß das engli­sche Parlament in einer Zeit, in der dieses Land um seine Existenz kämpft, dem Schicksal einiger zehntausend Refugees und der Frage, ob ihnen Unrecht zugefügt wurde und wie es gutzumachen sei, einen sehr erheblichen Teil seiner Zeit widmet und in diesem Zeital­ter der vermeintlichen Unfehlbarkeit von Regierungen war es immerhin ein Beweis des Vorhandenseins eines letzten Restes von normalem Menschenverstand, wenn ein Minis­ter im Parlament aufstehen konnte, um freimütig einzugestehen, daß in der ganzen Flüchtlingsaffäre eine Fülle von Fehlern und Unsinn begangen wurde und daß die Regie­rung bemüht ist, das alles wieder gut zu machen. Die Wiedergutmachung vollzieht sich zwar langsam, aber dafür sicher. Die Zahl der Internierten ist auf 1/3 zurückgegangen, Ar­beitsmöglichkeiten für Refugees sind in erheblichem Umfang gegeben, Bewegungsfreiheit ist erleichtert, der Besitz von Radio wieder gestattet und was vielleicht am charakteris­tischsten ist, die Regierung hat eigentlich fast 100%ig die Versorgung jener Flüchtlinge übernommen, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selber zu bestreiten und bisher von den verschiedenen Committees unterstützt wurden. Diese Aufgabe wird im Jahre 1941 mehrere hunderttausend Pfund erfordern, aber ich glaube, daß die Bereitwil­ligkeit, mit der die Regierung diese Last übernommen hat, noch viel wesentlicher ist, als die tatsächliche Hilfe, die vielen alten und arbeitsunfähigen Menschen auf diese Weise zu Teil werden wird.

So viel für heute, lassen Sie mich bitte wissen, was mit Ihnen dort geschieht. Grüßen Sie Dijour von mir.

Sie und Ihren Mann grüßt herzlichst,

 

Ihr,

S. Adler-Rudel.

 

 

 

 

Lissabon, den 2. April 1941.

6a - I rua Sociedade Farmaceutica

 

Lieber Rudel -

 

Ihr Brief vom 6. März ist vor einigen Tagen glücklich bei mir eingetroffen und ich habe mich sehr gefreut, direkte Nachricht von Ihnen zu haben. Und da ich heute wieder mal eine Schreibmaschine habe auftreiben können, will ich ein wenig ausführlicher schreiben.

Um mit dem Persönlichen zu beginnen: ich schrieb bereits an Eva, daß meine Mutter vermutlich noch in diesem Monat auch hier eintreffen wird, da es mit gelungen ist, für sie ebenfalls ein Rescue-Visum zu erhalten. Der Marseiller Konsul gab es mir schließlich ohne alle Formalitäten auf unser Visum hin. Wir konnten aber nicht mehr abwarten, bis sie alle Transitvisen hatte, da die unsrigen inzwischen abliefen und da überhaupt der Auf­enthalt für uns sehr leicht mit schweren Unannehmlichkeiten hätte verbunden sein kön­nen, was bei ihr nicht der Fall ist. Unsere Pariser Wohnung hat meine Mutter noch auflö­sen können – sie hat Paris erst im Dezember verlassen – und die Bibliothek ist bei den Quäkern untergestellt. – Wir haben eine schwache Hoffnung, noch in diesem Monat weg­zukommen. Unsere Passagen sind seit langem bezahlt – für uns vom Rescue-Committee, für meine Mutter von der Hicem – aber um die Plätze findet hier eine wahre Schlacht statt, an der wir uns nicht beteiligen. Diese ganze Emigration erinnert mich an das alte gute Spiel „Mensch ärgere Dich nicht“, bei dem man würfelt und je nach dem Resultat un­erwartet viele Punkte vor- oder zurückrücken muß, oder gar von vorne anfängt. Schluß mit dem Persönlichem!

Ich weiß nicht, wie weit Sie von der Lage der Flüchtlinge in Frankreich unterrichtet sind. Daß die überwältigende Majorität in Lägern sitzt und verhungert, wissen Sie natür­lich. Im Gegensatz zu dem, was Sie aus England berichten, war bereits im Mai vorigen Jahres bei der Gesamtinternierung klar, daß die militärischen Behörden - nicht die zivi­len! - die Internierung nicht als eine Schutzmaßnahme auffaßten, sondern ganz einfach sämtliche antifaschistischen Elemente zu internieren trachteten. Die eigentlichen Zivilin­ternierten, zu denen auch Réfugiés gehörten, die sich weigerten, die sogenannten Presta­tionen (militärischen Arbeitsdienst) zu unterschreiben, hatten es bei weitem besser als die sogenannten Prestatäre. Davon bilden nur diejenigen eine Ausnahme, die englischen Truppen zugeteilt worden waren. Nach dem Zusammenbruch und unter der heutigen Mi­litärdiktatur kam diese Auffassung ganz krass zur Geltung. Es wurde nicht entlassen, son­dern im Gegenteil frisch interniert. Nichtjuden, die sich der deutschen Kommission ge­genüber weigerten, aus dem französischen Arbeitsdienst auszutreten und nach Deutsch­land zurückzukehren, werden neuerdings in das Suspektenlager nach Vernet abtranspor­tiert. Jede Änderung der französischen Außenpolitik - und sie ändert sich ca. alle 4 Wo­chen - wirkt sich sofort und unmittelbar den Réfugiés gegenüber aus. So erhielten wir bei­spielsweise völlig unerwartet unsere Visas de sortie, als gerade ein amerikanisches Le­bensmittelschiff erwartet wurde. Überhaupt war nach der Laval-Krise eine wesentliche Entspannung festzustellen: es kamen keine neuen Internierungen mehr vor, es wurden wieder normale Aufenthaltspapiere ausgegeben, es gab plötzlich sogar die sogenannten sauf-conduits, die man für jede Eisenbahnfahrt braucht - wir waren z.B. genötigt unsere gesamte Emigration illegal in dieser Hinsicht durchzuführen. Seit einigen Wochen aber hat sich die Situation wieder sehr verschlechtert. Man bereitet neue Masseninternierun­gen vor, verlangt von allen Ausländern genauen Nachweis über Emi­grationsvorbereitungen, Existenzmitteln etc. Letztere Frage ist besonders interessant, was die Réfugiés anlangt: die französische Regierung hat nämlich im Mai vorigen Jahres nicht nur frisch interniert, sondern sämtliche Gelder neu beschlagnahmt. Diese Gelder sind na­türlich in Paris und der ganzen besetzten Zone in die Hände der Deutschen gefallen, die an Réfugiés selbstverständlich nicht einen Pfennig zahlen. Un point, c'est tout. - Auch die Auslieferungsgefahr hat sich außerordentlich verschärft. Bis zu der Auslieferung von Hil­ferding und Breitscheid hatten die Deutschen lediglich das Recht, nach vorher bereitge­stellten Listen die Auslieferung zu verlangen, und sie taten es lediglich, wenn gegen die Betreffenden Prozeßverfahren in Deutschland schwebten. Es sind daher bis Januar im Wesentlichen Devisenschieber und solche Leute ausgeliefert worden - es ist kein einziger politischer Fall bekannt geworden. Dies hat sich neuerdings ganz geändert. Die Deut­schen können jetzt jeden Einzelnen ohne Liste verlangen und die Auslieferung hat inner­halb von 24 Stunden zu erfolgen. Damit entfällt die Möglichkeit, daß von wohlwollenden lokalen Behörden gewarnt wird - was vielfach vorgekommen ist. Und was schlimmer ist, damit entfällt jede Möglichkeit durch Zufall doch noch durchzuschlupfen. Die deutschen Kommissionen waren in allen Lägern und haben inzwischen natürlich über jeden Fall an die betreffenden Heimatsbehörden berichtet.

Der Antisemitismus der Pétain-Regierung ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, lediglich dem Zwang der Okkupationsbehörden zuzuschreiben, sondern entspringt durch­aus eigener Initiative und trägt im Ganzen ein durchaus französisches Gepräge. Dies wollen die französischen Juden noch nicht einsehen. Charakteristisch an dem Statut ist der letzte Paragraph, der die jüdischen Ausländer ausdrücklich - und nicht nur fak­tisch! - hors la loi stellt, indem er den Präfekten die Vollmacht gibt, sie jederzeit und ohne Angaben von Gründen auf unbestimmte Zeit zu internieren. Von dieser Erlaubnis hat der Präfekt aus Toulouse und Limoges ausgiebigen Gebrauch gemacht. Auf diese Weise sind in diesen Départements sämtliche ehemaligen Kriegsfreiwilligen interniert. Dazu eine sehr charakteristische Geschichte: zu diesen Kriegsfreiwilligen gehörten auch 30 Mann aus einem Bataillon de marche; sie waren von 3.000 Mann übrig geblieben und daher sämtlich mit der medaille de guerre dekoriert. In dem Lager verbot man ihnen erst ein­mal diese Auszeichnung zu tragen, und auf ihren Protest gegen die Internierung und ih­ren Hinweis auf ihre Dienste unter französischer Flagge erwiderte man ihnen: C'est à cau­se de vous que nous avons perdu la guerre, vous avez voulu la guerre. Verhältnismäßig si­cher sind auch faktisch nur diejenigen, welche sich vor allem mit Erfolg gedrückt haben. - Um zu dem Antisemitismus zurückzukehren: die Regierung vertritt den typischen franzö­sischen militärischen und klerikalen Antisemitismus des Dreyfus-Prozesses, der Ausnah­men kennt und überhaupt inkonsequent ist, sofern es sich nicht um Ausländer handelt. Gegenüber dieser leicht antiquierten Form, setzt sich in Paris der rabiate Antisemitismus von Céline immer mehr durch, der m.E. rebus sic stantibus sehr viel mehr Aussicht hat, sich wirklich durchzusetzen. Aber davon ein ander Mal.

Schreiben Sie mir bald wieder einen langen Brief. Ich war Ihnen für Ihre Informationen sehr dankbar. Und vor allem kommen Sie bald! Es wird schon gehen. Und sagen Sie mir, ob ich Ihnen drüben vielleicht etwas erledigen kann, ich täte es von Herzen gern.

 

Mein Mann läßt herzlich grüßen. Alles Gute und viele Grüße

Ihre Hannah Arendt

 

 

 

Mrs. Hanna Arendt, 2. Mai, 1941.

6a-I rua Sociedade Farmaceutica,

Lissabon

Portugal

 

Liebe Hanna Arendt;

 

Ich danke Ihnen sehr für Ihren ausführlichen Brief vom 2. April und hoffe und wünsche, daß meine Antwort Sie nicht mehr in Lissabon erreicht; ich werde Ihnen deshalb etwas kürzer schreiben, als ich es sonst getan hätte.

Ihre ausführliche Darstellung über die Lage der Refugees in Frankreich hat mich sehr interessiert; obwohl ich manche Informationen über Amerika erhielt und auch hier gele­gentlich in der Presse etwas darüber gesagt wurde, fehlte mir doch eine etwas mehr ins Detail gehende Darstellung, um ein wirkliches Bild von den dortigen Zuständen zu haben. Und nun, da ich es zum Teil durch Ihren Brief habe, frage ich mich, wozu es gut ist. Von all den schweren Erlebnissen dieser Zeit ist wohl das Schwerste, daß wir beim Empfang solcher Nachrichten von dem Gefühl der völligen Hilflosigkeit mehr erschüttert sind, als von dem tatsächlichen Geschehen, und dieses ist ja schon schlimm genug. Von hier aus kann leider weder durch Intervention noch durch Geld auch nur das Geringste geschehen. Privatpersonen versuchen, etwas Hilfe für Verwandte zu geben, das ist aber auch alles, was geschehen kann. Angesichts des Umfanges, den das Unheil gerade in den letzten 4 Wochen noch angenommen hat, habe ich es allmählich aufgegeben, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was geschehen könnte oder geschehen soll. Ich bin und bleibe zu tiefst da­von überzeugt, daß dieser Krieg von England gewonnen und ein gutes Ende haben wird, aber die Zahl der Juden, die bis dahin in die Gewalt der Nazis kommt, hat einen derarti­gen Umfang angenommen, daß es mir manchmal scheinen will, daß, wenn der Krieg lan­ge dauert - und er wird lange dauern - ein gut Teil des jüdischen Problems in Ost-Europa durch natürlichen Ablauf - Tod und Untergang - sich von selber erledigt. Die Weisen der Welt, die eines Tages den neuen Frieden beraten, werden damit der Notwendigkeit entho­ben sein, besondere Maßnahmen für Juden treffen zu müssen.

Was mich persönlich betrifft, so scheine ich allmählich in die Reihe derer aufzurücken, die zwar schon Affidavits haben, aber plötzlich entdecken, daß auf Grund ihrer Quote kei­ne Visa mehr vorhanden sind und bis zum neuen Quotenjahr warten müssen, dann werde ich wahrscheinlich feststellen, daß es keine Schiffsmöglichkeiten mehr gibt oder Amerika bereits im Krieg ist und eine Einwanderung unmöglich. Das stört mich aber alles weiter nicht, so zu tun, als wenn ich wirklich schon in einigen Monaten reisen würde.

Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Lissabon verlassen oder, falls dies schon geschehen sein sollte, daß Sie in Amerika angekommen sind. Dank für Ihr Anerbieten, dort etwas für mich zu erledigen, aber ich nehme an, daß Sie genügend derartige Kommissionen haben und ich glaube auch, daß die Dinge, die ich von Amerika erwarte, in den nächsten Tagen ohnehin in Ordnung sein werden.

Ihnen und Ihrem Mann alles Gute wünschend, bin ich,

Immer Ihr,

S. Adler-Rudel.

 

 

 

 

Mrs. Hanna Arendt, 1. Oktober, 1942

317 W.85th Street,

New York.

 

Liebe Hanna Arendt,

 

Wäre ich ein prinzipienfester Mann, dann würde ich diesen Brief nicht schreiben, denn, um es gleich vornweg zu nehmen, ich war, sagen wir mal, leicht gekränkt, daß Sie seit Ih­rer Ankunft in USA nicht eine Zeile schrieben. Ich schrieb Ihnen sofort nach Erhalt Ihres Briefes aus Lissabon am 2.5.1941 und füge (und deshalb ist dieser Brief in deutsch) eine Kopie meines damaligen Briefes bei. Es war für mich selber nicht uninteressant nachzule­sen, was ich vor fast 11/2 Jahren über die Dauer des Krieges und die Zukunft der Juden in Ost-Europa sagte. Inzwischen kann man all dies auf die Judenheit des europäischen Kon­tinents ausdehnen. Und so bitter es auch ist, und so schwer es mir auch fällt, es auszu­sprechen, ich komme doch immer wieder zu der Erkenntnis, daß nur wenige Juden in Eu­ropa den Krieg überleben werden.

Im Gegensatz zur Beurteilung von Presse-Nachrichten und Gräuel-Meldungen, die in der Regel übertrieben sind, bin ich diesmal leider überzeugt davon, daß kaum ein Bruch­teil des grauenvollen Geschehens in Europa zu unserer Kenntnis kommt.

Vielen herzlichen Dank für die Zusendung des Sonderdruckes aus den JEWISH SOCI­AL STUDIES. Der Artikel kam, so zu sagen, im richtigen Moment, als ich gerade einen Vortrag über die Juden in West Europa seit der Emanzipation vorbereitete, und ich konn­te eine ganze Menge Dinge, die mir sonst entgangen wären, mitbenutzen. Ich finde, daß der Artikel ausgezeichnet geschrieben ist, und bei der Fülle des Materials hätte er wahr­scheinlich bei etwas ausführlicherer Formulierung gewonnen. Nochmals vielen und herz­lichen Dank, daß Sie an mich gedacht haben.

Im übrigen zog ich meine Informationen über Ihren Verbleib aus dem AUFBAU, wo ich ab und zu Ihre column lese. Ihr Versuch mit der Jung-Jüd. Gruppe amüsierte mich eini­germaßen, da ich ungefähr zur selben Zeit in unserem internen Zirkel hier etwas Staub aufwirbelte mit ketzerischen Vorschlägen über Reorientierung "of our policy". Wie üblich hat man mich durch hundertundein Argument, die sogar richtig sein mögen, kleinge­kriegt, und ich habe es sehr bald wieder aufgegeben, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich alles, was Sie in Ihrem Aufsatz gesagt haben oder vorschlagen, bejahe. Aber darüber läßt sich schwer schreiben. Eine Unterhaltung im WICKING wäre vielleicht fruchtbarer, aber das wird wohl nicht so bald möglich sein.

Von mir hier ist seit dem 2. Mai 1941 nicht viel mehr zu sagen, als daß ich die Hoffnung, nach Amerika zu kommen, aufgegeben habe. Ebensowenig scheint es möglich zu sein, in absehbarer Zeit nach Palästina zurückzugehen. Ich werde also weiter in London sitzen und odd jobs tun wie: refugees organisieren, mich mit freien Deutschen und Österrei­chern herumschlagen, Reconstruction-Pläne ausarbeiten – die kein Mensch liest – Schreiben, Reden und sonst nichts vernünftiges.

Alle Versuche, regelmäßigen Kontakt mit Amerika zu haben, scheitern offenbar daran, daß die zunehmende Amerikanisierung unserer Freunde ihrer persönliche Zuverlässigkeit – soweit sie solche jemals hatten – wesentlich beeinträchtigt. Ich will Sie nicht soweit auf die Probe stellen, um Sie nicht auch zu den Vorerwähnten legen zu müssen. Aber wenn Sie mal eine gute Stunde haben, einen interessanten Aufsatz sehen oder sonst vernünfti­ges Material (Tatsache, Zahlen und kein Schmus), dann denken Sie an mich und schicken Sie es mir, unter der Voraussetzung, daß Ihnen daraus keine Ausgaben entstehen, da ich ja diese zur Zeit nicht zurückerstatten kann.

Wenn Sie sonst noch mal nichts besseres zu tun haben, schreiben Sie eine Zeile, wie es Ihnen geht, was Sie treiben, ob und was Ihr Mann arbeitet und was Sie sonst glauben, daß für mich wissenswert ist.

 

Bis dahin alles Gute,

Ihr,

S. Adler-Rudel.

 

 

 

 

23. Februar 1943.

317 West 95th Street

New York, N.Y.

 

Lieber Rudel -

 

Ich war so froh, daß Sie kein prinzipien-fester Mann sind. Aber nicht nur, weil es mir zu­gute kam, sondern vor allem weil ich prinzipien-feste Männer nicht leiden kann. Und dann, nicht wahr, unsere Abende im Viking haben wir doch beide nicht vergessen und wissen, daß wir sie irgendwo und irgendwann wieder aufnehmen werden. Daß ich nicht geschrieben habe, hängt nicht mit „Amerikanisierung“ oder sonstwas zusammen , son­dern nur damit, daß ich eigentlich nie Briefe schreibe, irgendwie unfähig dazu bin und da­mals aus Lissabon nur schrieb, um „guten Tag“ zu sagen und weil ich mich auch sachlich zu einem Bericht verpflichtet fühlte. Den Dreyfus hatte ich geschickt anstatt eines Briefes und es freut mich, daß Sie etwas aus ihm haben benutzen können. Er ist um mehr als ein Drittel von der Redaktion zusammengestrichen worden, da er für die Zeitschrift zu lang geraten war. Dabei sind natürlich, was Formulierung anlangt, manche Unglücksfälle pas­siert - die aber bisher noch niemand außer Ihnen bemerkt hat. Der Artikel ist nur ein Kapitel aus dem Antisemitismus-Buch, an dem ich seit einiger Zeit schreibe. Ein größeres Kapitel über "Ausnahmejuden" in Deutschland, England (Disraeli) und Frankreich (Proust) ist gerade fertig geworden, und jetzt schlage ich mich mit einer Ableitung des Ra­ce-Thinking für eine nicht-jüdische Zeitschrift rum; danach kommt eine Analyse der Pan-Bewegungen heran mit dem ihnen inhärenten Antisemitismus.

Daß ich versucht habe, gleich Ihnen, mit dem Kopf durch die Wand unseres offiziellen Schwachsinns zu gehen, haben Sie ja gesehen. Die Wand, hat sich herausgestellt, ist aus Gummi und ich habe es auch wieder aufgegeben. Schreibe daher zum Entsetzen der Re­daktion auch keine Column mehr.

Wollen Sie mir nicht eines Ihrer Memoranden schicken? Und, bitte, an welchen Dingen sind Sie interessiert? Was wollen Sie haben? In solchen Dingen bin ich zuverlässig.

Mein Mann hat hier bisher als Expert für bestimmte militärgeschichtliche und -wissenschaftliche Dinge gearbeitet, ein Buch mitherausgegeben etc. Augenblicklich ist er Assistant in einem chemischen Research-Laboratorium wo Plastics hergestellt werden. Dabei fühlt er sich erstaunlicherweise sehr wohl, vermutlich weil da nicht nur Papier fa­briziert wird. Er hat auch genug Freizeit, um seine Sache schreiben, bzw. mir diktieren zu können. Ich lasse mich zum ersten Mal in meinem Leben ernähren, wenn ich auch etwas immer zuverdiene und finde das eigentlich gar nicht so schlecht für eine gewisse Zeit.

Über das Land hier hätte ich im Viking viel zu berichten. Schriftlich ist das eher schwie­rig. Es ist sehr sehr schade, daß Sie nicht hergekommen sind; es ist für alle, die mit jüdi­schen Dingen zu tun haben, eine sehr wesentliche Erfahrung. Es gibt hier, und das ist das erste was einem so wohltuend auffällt, unbestritten ein jüdisches Volk von Amerika. (Und unsere teueren westeuropäischen Juden, die versuchen Amerikaner zu werden ohne die­sem Jewish people of America zuzugehören, sind Narren, die versuchen sich auf dem Mond häuslich einzurichten.) Aber dieser Volkscharakter wird es schwerlich je zu mehr als zur Folklore bringen, die jeden ernsten politischen Willen im Ansatz erstickt. In gewis­sen Sinne ist die überwältigende Mehrheit dieser Juden zwar nicht zionistisch aber pro-palästinensisch - nur daß das nicht mehr besagt als entweder das leere Ideal, das der busi­nessman braucht oder die praktischere Konzeption von Palästina als einem riesig erwei­terten und nach modernsten Erfindungen eingerichteten Hôpital Rothschild. Eine we­sentlich andere Konzeption haben aber auch Zionisten nicht, trotz allen Geredes von der Jewish Commonwealth unter der sich eigentlich keiner was vorstellen kann. Sie haben hier unter den Juden natürlich einen krassen Materialismus, aber Sie haben sehr oft auch einen krassen Idealismus. Beide sind gleich realitätsfremd und schlagen dazu noch häufig und unerwartet genug ineinander um. Auf dem Grunde beider Attitüden liegt die vor al­lem bei allen osteuropäischen Juden felsenfeste Überzeugung, daß Amerika eigentlich das "Land der Verheißung" ist - was ihr politisches Verständnis nicht gerade stärkt, obwohl diese Haltung ja verständlich genug ist. Die europäische Katastrophe hat sie in dieser Meinung noch sehr bestärkt. Damit wird Palästina zu einem weltfremden Ideal, das man auch besser durch Politik nicht "beschmutzt", oder zu einer reinen Wohltätigkeitsangele­genheit für die Juden, welche leider Gottes eben nicht nach Amerika kommen können. Da aber die Juden hier noch wirklich ein Volk sind und nicht zur Clique degeneriert, ist ihr Solidaritätsgefühl noch verhältnismäßig intakt und das ist immer wieder erfreulich.

 

Lieber Freund, das ist ein für meine Verhältnisse sehr langer Brief. Schreiben Sie mir jetzt wieder?? Wie es Ihnen persönlich geht. Was macht die Tochter?

 

Es grüßt Sie freundschaftlich und von Herzen

 

Ihre

Hannah Arendt.

 

 

 

 

Mr. Adler-Rudel November 2, 1943

Woburn House

Woburn Place

London W.C.l.

 

Dear Rudel -

 

what I need most bitterly is a new machine which should be capable of transposing thoughts into written words, put these into envelopes and mail them to the right address. As long as this machine has not been invented, I probably shall not be able to keep out of letter-trouble and consequently out of trouble with my friends. I actually have written you many letters – only I am well aware that you never did get any of them. Only reason: Lack of the proper machinery.

But: I called Mrs Perls ar once! And she turned out to be a most charming woman, very natural and intelligent without being smart. I introduced her to the editor of the Contem­porary Jewish Record and she made with him all necessary arrangements. That is at least one thing which was accomplished as it ought to be. As to your old request for American Magazines, there is one difficulty, and that is that one is not allowed due to war-time re­gulations, to send single copies of magazines or clippings. I shall try in the next few days to send you a whole set of Harper’s Magazine and I hope that they will go through. This might give you a very fair picture of the development of public opinion in this country. As to Jewish Magazines, I subscribe only to the Jewish Social Studies which are not very in­teresting. And single copies as I use to buy for myself can hardly be mailed.

I worked pretty hard during the summer and am now rather inclined to take it easy. The origin of the race-doctrine was my main topic and as soon as the article is published (probably in January) you will receive a re-print. Another piece, an essay about the "hid­den tradition" in Western Jewry (from Heine to Kafka) in which I simply decided to write about all things Jewish of which I am genuinely fond, may be printed by the Jewish Social Studies, but they could not yet make up their minds to publish an article without any foot­notes. In this moment I am breaking my head about the Minority-question - for the Con­temporary Record. But I doubt that they will like it very much. - Apart from those things which I enjoy doing, I did some small and well-paid assignments which are not worth mentioning them. And then, all swelled up, I sat down and decided to do some writing only for money - and out came the very first article with which I could not earn a penny. What taught me a well-deserved lesson. I never got "adjusted" to anything in my life - so why was I foolish enough to try it? Probably lack of money, or mere greed.

In the meantime, Monsieur has become a "visiting lecturer" at Princeton University. That is a rather heavy blow if you have been so proud to have got a husband without an academic degree - a thing more exceptional in my environments than a man without a nose. But it settles the money question while it lasts.

I was much impressed with your visit in Sweden and I am wondering whether your plans about going to Palestine can be realized. I can well understand that you want to settle down; the only trouble is that the so-called world is not likely to "settle down" for a long while. Sometimes I hear from you and catch a glimpse of your activities. And always I regret our walking and talking and drinking on the Montparnasse.

Please, don't let me wait too long. I am always so glad to get a letter from you.

 

Yours, Hannah.

 

 

 

 

Mrs. Hannah Arendt, 22nd December, 1943

317 West 95th,

New York, N.Y.

 

Dear Hannah Arendt,

 

(…)

Thanks for your efforts to send me some publications. But it is really not so important as far as general matters are concerned, and even with regard to Jewish affairs and publicati­ons; I am now a bit better off than I was a few months ago. But somewhere in my memory is the idea that I saw a line printed which reads as follows:

"Hannah Arendt", "Who are the Refugees". I really do not know if I have actually seen this line or whether it is just some imagination. In any case, if you should have written such an article, do let me have it as soon as possible, because it is just what I need. And of course, if any of the other things which you are writing should be published, don't forget to send me copies.

There is not much to say from us here. My trip to Sweden did have a certain success with regard to the Jews from Denmark. My other project seems still to be subject to diplo­matic negotiations, and I must confess, it is rather amusing to see from time to time state­ments as for instance a few days ago one by Mr. Brakenridge Long, and to know that it is my baby they are nursing, but as I know my baby and the circumstances of its births, I know too that it is already dead and it is a dummy they are rocking. By the way, I was pre­paring for another trip to Sweden when the incident with the passenger plane occurred and transport has been suspended for the time being. But it is still possible that I may lea­ve any day now. As usual, it will again be too late. It seems that not only men are against us but the elements too do everything to prevent us from saving the remnants of our people.

I was very pleased with your news about your husband's appointment at Princeton Uni­versity, although I have no idea what a visiting lecturer is, and, by the way, if he visits them about what does he lecture? Take it easy, it seems to be your fate not to escape the academic past. In any case as it is apparently an important event, I am offering you my congratulations.

And that is all.

 

With best regards and all good wishes,

 

Yours,

S. Adler-Rudel.