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Ausgabe 1, Band 1 – Februar 2005

Aristoteles Gleiche sind bei Arendt Andere

Überlegungen zur philosophischen Anthropologie Aristoteles’ und Hannah Arendts

Monika Gisler

 

Hannah Arendts Desiderat einer Rückgewinnung des Wissens um Politik und um die Existenz eines politischen Raums und die ihn konstituierenden Elemente Handeln, Öf­fentlichkeit und Pluralität, lässt sie an die Wurzeln der westlichen Tradition politischen Denkens zurückkehren, zur antiken griechischen Welt und deren zeitweiliger Organisati­on in Stadtstaaten, den sogenannten Poleis. Ihr Blick auf die antike Tradition geschieht nicht um der „Kontinuität unserer Tradition willen”, sondern zur Habhaftwerdung von Erfahrungen, die „wir zwar alle noch irgendwie kennen, die aber doch später in solcher, eben klassischer Reinheit nicht mehr artikuliert worden sind.”1 Traditionen sind oft nicht zu durchschauen und werden unreflektiert übernommen und fliessen in neue Theorien und Denkmuster ein. So wird die griechische Polis ”so lange am Grunde unserer politi­schen Existenz auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort ”Politik” im Munde führen.“2

Arendts Bestimmung eines neuzeitlichen Politikbegriffs orientiert sich unter anderem an den theoretischen Konzepten Aristoteles’. Die politische Theoretikerin Arendt wurde oft – und zu Recht – als Aristotelikerin bezeichnet; ihre theoretischen Grundlagen sind fundamental aristotelisch. Im antiken Modell der Polis erkannte Arendt einige der weni­gen Epochen der westlichen Geschichte, in welchem Politik im ursprünglichen Sinne ver­wirklicht worden war. Sie entwickelte daraus ein Politik-Konzept, welches seinerseits Grundlage weiterer Überlegungen bildete.

Grund genug, die Theorien Aristoteles’ und Arendts einander gegenüber zu stellen und gegeneinander abzuwägen. Im Vergleich der beiden politischen Konzepte, vor allem ent­lang der Frage nach dem politischen Raum und dem Menschen, der diesen konstituiert, soll gezeigt werden, wann die Aristotelikerin Arendt aristotelisch argumentiert und wann sie diesen Pfad verlässt, um eine eigene philosophische Anthropologie zu entwerfen. Denn im Aufzeigen des Verhältnisses des Menschen zum politischen Raum – so meine These – vertritt Arendt ein Verständnis der Menschen und ihrer Befähigung zum Han­deln, das ihr Konzept grundlegend von demjenigen Aristoteles’ unterscheidet. Ausgehend von diesen Überlegungen kann zudem gezeigt werden, dass hierin auch ein ethisches Mo­ment Arendts liegt.

In der 1958 erschienenen Vita Activa zeigt Arendt bekanntlich die historischen und an­thropologischen Voraussetzungen der Neuzeit auf, die das totalitäre System des National­sozialismus möglich gemacht haben. Der Bruch der Neuzeit sei gekennzeichnet durch die Zündung der Atombombe und die Ermöglichung totalitärer Herrschaftssysteme.3 Daraus entwickelt Arendt ihre Theorie des Handelns: Sprechen und Handeln garantieren den Zu­griff des Menschen auf die Welt.
Diese zwei menschlichen Tätigkeiten gelten als die eigentlich politischen. Sie begrün­den jenen Bereich menschlicher Angelegenheiten, aus dem alles, was ausschliesslich der Sicherung der Lebensnotwendigkeiten dient, ausgeschlossen ist, den öffentlichen Raum. Arendt definiert diesen ebenso wie Aristoteles zunächst negativ, als Ausschluss: Der pri­vate Bereich des Oikos, in den die Tätigkeiten Arbeiten und Herstellen gehören, wird vom öffentlichen Raum der Polis, getrennt.4 Der private Bereich war für die Bereitstellung der Ressourcen für ein Leben in der Öffentlichkeit zuständig.
Aristoteles unterscheidet die zwei Bereiche dahingehend, dass nur, wer den Bereich des Privaten überwunden hatte, zu einem Leben in der Öffentlichkeit geeignet war. Wem dies gelang, der war frei von der Sorge um das Lebensnotwendige und insofern zuständig un­ter Seinesgleichen, nämlich anderen Freien, in und für die Polis zu wirken. Die Trennlinie zog Aristoteles entlang der Hierarchien, die in den zwei Bereichen unterschiedlich vor­herrschten; während im Raum des Privaten der Hausherr über die Familie, inklusive dem „Hausgesinde” wachte, war er, qua seiner Natur dazu berechtigt, Herrschaft auszuüben.5 Der Bereich des Privaten war daher durch Unfreiheit und Herrschaft gekennzeichnet. Die Polis, der öffentliche Raum dagegen zeichnete sich dadurch aus, dass er der Bereich war, wo Gleiche unter Gleichen auftreten, d. h. öffentlich Handeln und Sprechen konnten.6 Im Aussen, im Öffentlichen, in der Polis gelingt das politische Handeln unter Gleichen: Das politische Handeln ist das Handeln in und um der Polis willen.
Dieses politische Konzept hat Arendt von Aristoteles übernommen. Sie erweitert es nun dahingehend, dass sie betont, dass das Handeln auf die Präsenz anderer Menschen und die Verständigung mit diesen angewiesen ist. Dazu bedarf es eines Raums, der in der Öf­fentlichkeit angelegt ist. Arendt nennt diesen Ort den Erscheinungsraum, es ist der Ort, an dem Worte, Taten und Ereignisse wirklich werden können. Erst die Anwesenheit in der Öffentlichkeit garantiert Wirklichkeit, bedeutet Gesehen- und Gehört-Werden: „Han­delnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die per­sonale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren.“7 Erst im Sprechen und Handeln unterscheiden sich Men­schen aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein.8 Sprechen und Han­deln mit und unter anderen Menschen garantieren den Zugriff auf die Welt. Was immer in diesem Erscheinungsraum vor sich geht, ist politisch per definitionem. Damit wird die Polis des Aristoteles bei Arendt transzendiert.9

Nach Aristoteles unterscheiden sich die menschlichen Tätigkeiten hinsichtlich ihres Ziels. Endzweck des menschlichen Lebens ist das Streben nach dem höchsten Gut und da­mit, als gutes Handeln, seinem Ziel inhärent. Das Ende ist das Vollendete, das Beste. Die­ses Ziel ist in der Polis, als die Möglichkeit zur Verwirklichung des höchsten Guts, ange­legt. Durch das Handeln als Streben nach dem vollkommenen Glück, der Eudaimonia, be­stimmen sich Sinn und Zweck des Gemeinsamen als das gute Zusammenleben.

Arendt dagegen setzt die Tätigkeiten in Bezug zur Welt. Die durch Handeln und Spre­chen entstandene Welt menschlicher Bezüge, die nie an ein Ende kommen kann, ist nicht durch Kraft oder Stärke Einzelner entstanden, sondern durch die Vielen im Zusammen. Da jedoch nur das Handeln in Bezug auf andere stattfindet, ist nur dieses eine politische Tätigkeit. Denn Politik fängt da an, wo die Sorge um das Leben aufhört.

Das Partizipieren an dieser gemeinsamen Welt, einmal im Hinblick auf die Verwirkli­chung von Glück (Aristoteles), einmal in der Sorge um die Welt (Arendt) muss gesichert werden. Denn nur im Zusammen mit anderen erfährt der Mensch, was Freiheit positiv ist, nämlich mehr als gezwungen werden. Wie Arendt feststellt, war Freiheit bereits in der Antike ein radikal politischer Begriff: Als Inbegriff der Polis und dem Bereich des Politi­schen war Freiheit dem antiken Politikverständnis inhärent, weshalb kein Nachdenken über Freiheit stattfinden musste. Für Arendt ist Freiheit ein politisches Phänomen, das weder im Denken noch im Wollen, sondern einzig im Handeln erfahrbar und auf einen für das Handeln erstellten Raum angewiesen ist.10 Politik heisst somit zunächst und grundlegend: Stiftung und Sicherung von Freiheit. Freiheit wird damit bei Arendt zum obersten Prinzip des Politischen. Im Gegensatz dazu erklärt Aristoteles nicht die – dem antiken Denken anhaftende – Freiheit, sondern die Verwirklichung des höchsten Guts, das Glück, zum obersten Prinzip.
Die Zerstörung eines diese Freiheit sichernden Raums erfolgt durch die Vernichtung der den Raum konstituierenden Elemente und Bedingungen.11 Es ist die Garantie der Wirklichkeit, das menschliche in-der-Welt-sein, welche Arendts ureigenstes Anliegen ist. Werden Handlungsspielräume eingeschränkt, verlieren die Menschen die Garantie dieser Wirklichkeit, Sprechen und Handeln mit anderen sind nicht mehr gewährleistet. Das to­talitäre System des Nationalsozialismus zerstörte dieses in-der-Welt-sein des Menschen grundlegend.12 Arendt konstatiert aus diesem Wissen und dieser Erfahrung, dass in der Neuzeit das Handeln als die politische Tätigkeit schlechthin verloren gegangen ist.
Bereits Aristoteles warnte vor der Gefahr, Wirklichkeit nicht mehr verbürgen zu können. Daraus entwickelte er seine Lehre der Institutionen, in denen der Einzelne die Isolation überwinden und seiner Vernunftnatur gemäss in der Institution der Polis ein wirkliches Leben realisieren konnte.13
Aristoteles erkennt damit gleichermassen wie Arendt die menschliche Isolierung als unpolitisches Moment an, das es zu schützen gilt. Arendt sieht die zu verbürgende Wirk­lichkeit anders als Aristoteles nicht im guten Leben des Einzelnen in der Gemeinschaft, sondern in der Garantie eines Bezuges zur Welt.14 Nicht das Glück des Einzelnen interes­siert Arendt, sondern die Sorge um die Welt. Während Aristoteles diese Verwirklichung nur in der Einrichtung von Institutionen gewährleistet sieht, vernachlässigt Arendt die Frage der Institutionalisierung weitgehend. Wohl trifft sie eine Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem politischen Raum, den allein sie als Garanten der Stabilität und Kontinuität von Politik sieht und der durch Gesetze und auf Versprechen basierende Verträge abstützt. Eine eigentliche Verfassungs- oder Staatslehre wie sie von Aristoteles entworfen wurde, finden wir bei Arendt nicht.
In Buch I der Politik definiert Aristoteles den Staat als Gemeinschaft um des guten Le­bens willen und wendet sich danach der Bestimmung des Menschen als staatenbildendes Wesen zu.15 Der Mensch wird teleologisch als „von Natur auf die staatliche Gemeinschaft hin angelegt”16 politisch bestimmt. Denn der Einzelne vermag nicht autark zu leben und tendiert zur Gemeinschaft. Die Unterscheidung vom Tier gelingt erst über die Sprache und damit über den Logos: Dank der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht zeichnet sich der Mensch durch Vernunft aus und wird damit zum Einzigartigen: Zoon logon echon. Seine Bestimmung ist es, Teil der Gemeinschaft zu wer­den. Der gute und gelingende Staat setzt sich aus Einzelteilen zusammen, die den Einzel­nen festigen und ihn als Ganzes überragen. Das Prinzip, das auf die Polis verweist, ist die Vernunft, das Politische im Menschen angelegt.

Die Bestimmung der Polis schliesst demzufolge die Bestimmung des Menschen mit ein: Das Gelingen des Einzelnen kann nur im Gesamtverband verwirklicht werden. Dieses höchste Gelingen liegt in der Glückseligkeit.

Der Ort des Politischen ist bei Aristoteles somit zunächst innen angelegt: der Mensch wird teleologisch als auf die Polis hin angelegt bestimmt und als politisch bezeichnet. Der Mensch ist auf ein Ziel und auf ein Ende hin ausgerichtet. Dadurch ist er noch nicht auf andere angewiesen.

Der Mensch des Aristoteles ist damit genau das, was er bei Arendt nicht ist: ein Mensch, der aus sich heraus politisch ist. Dies moniert Arendt: „Die Philosophie hat zwei gute Gründe, niemals auch nur den Ort zu finden, an dem Politik entsteht. Der erste ist: Zoon politikon: als ob es im Menschen etwas gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies ge­rade stimmt nicht; der Mensch ist a-politisch”.17 Dies wird offensichtlich, wenn wir uns nochmals die Bestimmung der politischen Tätigkeit des Handelns vor Augen führen: Erst im Handeln entsteht ein Zwischen, als Raum zwischen den Menschen. Politik entsteht erst in diesem Zwischen, das Welt verbürgt und sich als ihr Bezug etabliert. Es kann kein essentielles Innen, keine „politische Substanz”18 geben. Es kann den Menschen – als poli­tisches Wesen – auch nicht im Singular geben, ebenso wenig wie es nur einen Menschen (oder eben die Reduktion der Vielen auf das Eine in der Isolation) geben kann.
Darin unterscheidet sich Arendt grundlegend von Aristoteles. Ihre Kritik gilt zum einen dem Fortschrittsdenken auf ein Ziel hin, das einem Prozess unterworfen wird, dessen Lo­gik vom Untergang gekennzeichnet ist.19
Zum zentralen Motiv der politischen Philosophie Arendts wird vielmehr ihre Philoso­phie der Natalität, der Gebürtlichkeit. Im Faktum des Geborenwerdens ist das angelegt, was Arendt als das Anfangen-Können, das mit jedem Neugeborenen neu gesetzt und im menschlichen Handeln um ein Vielfaches wiederholt wird, angelegt ist. Das Wunder der Freiheit besteht darin, dass Menschen imstande sind, Prozesse zu unterbrechen und einen neuen Anfang zu setzen: In der Natalität liegt die existentielle Bedingung dafür, dass Menschen etwas Neues anfangen können.20 Damit ist nicht mehr die Sterblichkeit für die Abendländische Philosophie massgebend, sondern die Gebürtlichkeit, das Han­deln aus der Freiheit der Natalität.21 Aus diesem Befund ergeben sich für Arendt Bestim­mungen des Menschen und seinem Verhältnis zur Politik, die sich grundlegend von der aristotelischen Philosophie unterscheiden.

Das Anfangen-Können geht mit der einzigen Tätigkeit der Vita Activa, die sich ohne Zu­tun von Materie, Material und Dingen zwischen den Menschen abspielt, dem Handeln einher. Es schafft die Bedingungen für Kontinuität, für Erinnerung und damit für Ge­schichte. Diese Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen; Handeln ist in diesem Sinn ein Neuanfangen. Dass es Momente des Neuanfanges in der neuzeitlichen Geschichte tatsächlich gegeben hat, zeigt ihre Untersuchung der frühmodernen Revolutionen, in denen sie ein Moment des An­fangs sieht:

„Die Lösung besteht nun ohne allen Rückbezug auf ein Vergangenes darin, dass man versteht, dass der Mensch für die logisch unlösbare Aufgabe, einen neuen An­fang zu setzen, gleichsam existentiell vorbestimmt ist, insofern er ja selbst einen Anfang darstellt: Insofern der Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als ein 'Neuer' durch Geburt erscheint, ist er mit der Fähigkeit des Beginnens begabt.”22
Mit der Geburt treten die Menschen in eine gemeinsame Welt. Es ist die Sorge um die Welt, die dieses auf die Welt ausgerichtet sein, als politisch bestimmt. Als Partizipierende an dieser Welt sind die Menschen Viele, das Subjekt der Politik ist nicht der Mensch, son­dern die Menschen, als Bürgerinnen und Bürger.23 Diese Vielheit, Pluralität bei Arendt, ist es, die im Miteinander der Menschen die Welt gestaltet. Der Mensch zeichnet sich qua seiner Gebürtlichkeit durch seine Einzigartigkeit aus. In diesem Sinne ist Pluralität die Vielfalt der Menschen, erst sie sichert Realität in der Welt. Pluralität ist eine Grundbe­dingtheit menschlichen Handelns überhaupt und fungiert als Bedingung, dass es „so et­was wie Politik unter Menschen gibt.”24 Sie ist die eigentliche conditio per quam des Men­schenseins in der Welt. Für Menschen heisst leben, unter Menschen zu weilen und ster­ben soviel wie aufhören, unter Menschen zu sein. Dies verdeutlicht sie mit dem Rekurs auf Augustinus' „initium ut esset, creatus est homo” und meint damit, dass dieser Anfang immer und überall da und bereit sei.25

Wie erwähnt ist der Mensch des Aristoteles’ auf die Polis hin ausgerichtet, oder anders gesagt, die Polis hat das Menschsein des Menschen zum Inhalt. Dies ist die Prämisse des Satzes „der Mensch ist ein politische Lebewesen”. Der Begriff des Menschseins lässt sich erst dann bestimmen, wenn es die Polis gibt. Diese wird als die Aktualität der menschli­chen Natur begriffen. Im Gegensatz dazu ist der Mensch bei Arendt apolitisch und wird erst als handelndes Wesen im Zusammen mit anderen und in Bezug auf die Welt zum po­litischen Lebewesen. Sowohl Aristoteles als auch Arendt versuchen mit diesen unter­schiedlichen Prämissen die Teilnahme am Staat zu begründen. Doch trotz des genuin an­gelegten Politischseins bei Aristoteles ist nicht jeder Mensch gleichermassen dazu befä­higt, am Leben der Polis teilzunehmen. Bei der Auswahl der zur Polis Befähigten findet eine Selektion statt. Es bleiben diejenigen ausgeschlossen, die ihrer Natur gemäss zum Bereich des Lebensnotwendigen gehören (Frauen, Sklaven). Die Natur hat, Aristoteles zu­folge, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Areté – Tugend – ausgestattet. Dabei geht es vor allem um das Faktum, in bestimmte Lebensverhältnisse hineingeboren wor­den zu sein. Die Entscheidung, wer als Gleicher an der Polis teilhaben darf und die Fähig­keit zum Regieren besitzt, ist sowohl naturbestimmt als auch an die Vorteile der Geburt geknüpft.

Arendt spricht gleichfalls von den Gleichen und Freien als Partizipierende am politi­schen Raum. Menschen sind aber anders als bei Aristoteles von Natur aus apolitisch. Sie können jedoch jederzeit politisch werden, wenn sie sich dazu entscheiden. Grundsätzlich steht diese Entscheidung allen offen, da sie qua ihrer Geburt die Fähigkeit besitzen, einen Anfang setzen zu können. Der Zutritt zum politischen Raum bedingt eine Entscheidung, stattfinden kann er jederzeit. Die Gleichheit bestimmt sich im Anfangen können und nicht gemäss der Natur, auch nicht qua äusserer Güter. Die Menschen sind dann Gleiche, wenn sie gemeinsam handeln und damit einen Anfang setzen. Dies kann zu jeder Zeit geschehen und widerspricht auch nicht dem Faktum der Pluralität. Diese bestimmt sich durch die Gleichheit zur Verständigung und der gleichzeitigen Verschiedenheit durch Hervorhebung des Einzelnen, es resultiert in der Vielheit von Einzigartigen.

Noch einmal: Das Anliegen der politischen Philosophie Arendts ist die Rückgewinnung einer gemeinsamen Welt, die den Menschen Wirklichkeit verbürgt. Damit begründet sie ihren normativen Ansatz. Bei Aristoteles dagegen finden wir den Menschen als ein auf die Gemeinschaft hin angelegtes Wesen, der hier, und nur hier ein gelingendes Leben errei­chen kann. Nur in der Zusammenarbeit des Einzelnen mit anderen ist die Glückseligkeit mittels Streben nach der besten Verfassung zu finden.

Diese der antiken Welt anhaftende teleologische Ausrichtung in der Bestimmung des Menschen finden wir bei Arendt nicht. Nach Arendt ist das Politische zwischen den Men­schen angelegt, bestimmt durch ihr gemeinsames Sprechen und Handeln. Es ist das Ver­ständnis des Menschen, das Arendt neu entwickelt und mit dem sie sich grundsätzlich von Aristoteles unterscheidet. Nicht das Ziel als das ausgereifte Beste, die Vollendung, in­teressiert Arendt, sondern die dem Menschen innewohnende Gabe des Neuanfangens.

Aristoteles unterscheidet die Politik als das gute Handeln im Kollektiv von der Ethik, die die Frage nach dem guten Leben des Einzelnen aufwirft. Eine solche Unterscheidung gibt es bei Arendt im Hinblick auf das Handeln nicht. Denn Handeln ist nur im Zusam­men mit anderen möglich, um ein Zwischen zu etablieren, das zum Erscheinungsraum und damit zum öffentlichen Raum wird. Für Arendt kann es auch kein Endprodukt ge­ben, auf welches das Handeln ausgerichtet ist. Die Tätigkeit ist vielmehr in ihrer Aktuali­tät, als Prozess im Erscheinungsraum, ausschlaggebend. Kein Endprodukt anzustreben heisst auch, keine Interessenspolitik zu verfolgen. Hierin liegt Arendts Ansatz einer Ethik: es ist die Entscheidung zum Handeln, die das Ethische des Menschen bestimmt.

Arendt plädiert, entlang des aristotelischen Politikkonzepts, für eine Sphäre der des Le­bensnotwendigen enthobenen Existenz. Die Frage nach dem guten Leben besteht nun darin, sich für eine der beiden Alternativen zu entscheiden: ein Leben im Umkreis des Notwendigen zu führen oder das genuin Nichtnotwendige, die Freiheit als Selbstzweck, zu etablieren. Ist eine Moral kategorisch bestimmt (wie etwa die utilitaristische oder die kommunitaristische) kann ein solches Aushandeln nicht stattfinden. Ein abgeschlossenes Endprodukt kann es für Arendt deshalb nicht geben. Vielmehr geht es darum, einen Er­scheinungsraum zu schaffen, in dem gehandelt werden kann. Ethisches Handeln heisst also zunächst, einen politischen Raum zu kreieren. Damit ist jedoch das Verhältnis des Individuums zur Ethik noch nicht endgültig geklärt.

Einem Individuum ist es möglich, im Zusammen-Handeln mit anderen politisch tätig zu werden. Die Entscheidung des politisch Tätig-Werdens ist meines Erachtens das ethi­sche Moment in Arendts Denken. Dieses „sich-Einsetzen-für-etwas”, das darin anklingt, kommt dann zum Tragen, wenn Neuanfänge gesetzt werden. Arendt zeigt dies am Bei­spiel der Untersuchung des zivilen Ungehorsams. Der Entscheid zum Ungehorsam liegt beim Individuum und befindet sich ausserhalb jeder Zweck-Mittel-Kategorie und des per­sönlichen Interesses.26 Ziviler Ungehorsam ist eine politische Handlungsweise, die entwe­der der Verteidigung der Verfassung gegen die Politik einer Regierung oder dem Druck auf eine Regierung dient, sich Reformen gegenüber zu öffnen, die allgemein als dringend notwendig erachtet werden. Im Zusammen mit den Mitgliedern einer Gruppe kann eine Meinungsbildung über eine gemeinsame Politik stattfinden. In diesem Moment werden gute Menschen zu guten BürgerInnen. Mit ihrer Entscheidung zum zivilen Unge­horsam werden gute Menschen ebenfalls zu guten BürgerInnen, in einem Staat allerdings, den sie kritisieren. Gegenüber Aristoteles, in dessen Überlegungen gute Menschen nur in einem guten Staat gute Bürger sein können, zeigt sich hier ein fundamentaler Wider­spruch. Arendt überwindet diesen indem sie sagt, dass gute Menschen nicht identisch mit guten BürgerInnen sind: „Gute Menschen werden erst in Notsituationen erkennbar, in denen sie plötzlich wie aus dem Nichts, in allen Gesellschaftsschichten auftauchen. Der gute Bürger muss dagegen auffällig in Erscheinung treten.”27 Die Unterscheidung zwi­schen guten Menschen und guten BürgerInnen besteht also primär darin, dass erstere aus Gewissensgründen handeln, was an sich apolitisch ist. Denn das individuelle Gewissen ist unpolitisch, da es nicht vorrangig an der Welt interessiert ist, in der Unrecht begangen wird.28 Erst durch das Auftreten in der Öffentlichkeit und im Handeln mit anderen wer­den Menschen zu BürgerInnen. Beide können ein Tun in Anspruch nehmen, nur einmal aber ist es politisch, dann nämlich, wenn es nicht Zweck geleitet geschieht. BürgerInnen werden dann zu guten BürgerInnen, wenn sie richtig, das heisst nicht aus Gewissensgrün­den handeln, sondern im Hinblick auf ein Ziel, das ausserhalb ihrer selbst liegt. Dieses Ziel ist kein letztgültiges, sondern gewinnt im Prozess des Sprechens und Handelns mit Anderen ständig an Aktualität. BürgerInnen werden somit nicht durch den Staat zu guten BürgerInnen, sondern über den Entscheid zu handeln und den daraus sich ergebenden Konsequenzen der Schaffung eines politischen Raums. Dank der ihnen eigenen Fähigkei­ten des Anfangen-Könnens, wie es zum Beispiel auch in Revolutionen zum Ausdruck ge­bracht wird, gelingt es ihnen, neue Prozesse zu beginnen. Sie sind damit nicht zwingend darauf angewiesen, dass ein öffentlicher Raum ewig oder als immer gleicher besteht.

Der Sinn von Politik ist Freiheit - sagt Arendt, und meint damit, in Anlehnung an das antike aristotelische Modell der Polis, das positiv bestimmte Freisein von der Notwendig­keit der Lebenssicherung. Die an der Polis, am Politischen Partizipierenden sind die Frei­en und Gleichen, die ihr gemeinsames Handeln innerhalb der Polis verwirklichen. Damit kommt der Stabilisierung und Sicherung des politischen Raums oberste Priorität zu. Ari­stoteles konzentriert sich auf die institutionelle Stabilität von Verfassungen während Kriegszeiten und ihr Beitrag zur Vermeidung von Bürgerkriegen, Arendt auf die Möglich­keit der Ausdehnung totalitärer Systeme im Falle eines Verlusts politischer Räume. Im Hinblick auf die Bestimmung ihres politischen Konzepts verfährt Arendt entlang dem Ari­stotelischen Modell.

Aristoteles' Ethikbegriff geht vom Gedanken der Glückseligkeit als oberstem Prinzip oder Ziel aus. Erst wenn die Eudaimonia für die guten Bürger im guten Staat verwirklicht werden kann und umgekehrt der gute Staat durch das Gute zum besten Staat wird, ist das Ideal einer Staatsform erreicht. Damit verknüpft Aristoteles Ethik mit Politik, und der Be­griff des Politischen kann als Partizipation an der Polis bestimmt werden. Gleichzeitig macht Aristoteles geltend, dass nicht alle gleichermassen zur Beteiligung am Staat geeig­net sind. Der normative Politikbegriff Aristoteles' baut damit letztlich auf Ausschluss auf.

Fragen wir nach der Ethik, d. h. dem guten Leben und dem guten Handeln, so ergeben sich grundlegende Unterschiede zwischen Aristoteles und Arendt. Freiheit heisst für Arendt die Freiheit der Entscheidung zum politischen Handeln und zur Herstellung eines politischen Raums. Darin, dass für jeden Menschen die Freiheit besteht, sich für die Teil­nahme an der Polis entscheiden zu können, ist bei Arendt ein impliziter Ansatz eines Ethikverständnisses angelegt. Diese Freiheit, die jedem Menschen qua seiner Gebürtlich­keit zukommt, bedingt allerdings die Notwendigkeit der Freiheit von der Sicherung des Lebensnotwendigen, um den Erscheinungsraum zu initiieren und den politischen Raum zu gestalten und am Leben erhalten zu können. Die ethische Entscheidung ist bereits wie­der vom politischen Verständnis der Freiheit abhängig. Darin ist der normative Gehalt des Politikbegriffs Arendts zu sehen.

Da die Entscheidung zum politischen Handeln dank der Gabe des Anfangen-Könnens allen Menschen zukommt, ginge es für uns nun darum, das Politische dahingehend zu be­stimmen, dass allen Menschen die politische Freiheit zur Überwindung des Lebensnot­wendigen zukäme. Wie ein solcher Raum des Politischen konzipiert und erweitert werden könnte, muss Thema weiterer Überlegungen sein.

Anmerkungen

1 Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1994: 201-226; hier 217.

2 Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1989: 241.

3 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1989: 7-13.

4 Aristoteles, Politik (Bücher I-VIII), übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon, Zürich/München 19967, hier: Politik: I 2-8.

5 Ebd.: II 11; VII 9.

6 Ebd.: VII 8.

7 Hannah Arendt, Vita activa: 169.

8Ebd.: 165.

9Ebd.: 190-193.

10 H. A., Freiheit und Politik: 210-221.

11 Ebd.: 204.

12 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 1986.

13 Aristoteles, Politik: VII.

14 H. A., Freiheit und Politik: 210; 225.

15 Aristoteles, Politik, I 1.

16 Ebd.: III 6.

17 Hannah Arendt, Was ist Politik?, in: dies., Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1993: 9-12, hier: 11.

18 Helmut Dubiel, Das nicht angetretene Erbe. Anmerkungen zu Arendts politischer Theorie, in: ders., Ungewissheit und Politik, Frankfurt/Main 1994: 29-66; hier: 61.

19 Hannah Arend, Elemente und Ursprünge: 247.

20 Ebd.: 730.

21 Hannah Arendt, Vita activa: 16.

22 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 19944: 272.

23 Vgl. Hans Saner, Die politische Bedeutung der Natalität bei Arendt, in: Daniel Ganzfried/Sebastian Hefti (Hg.), Arendt – Nach dem Totalitarismus, Hamburg 1997: 103-119; hier: 110.

24 Hannah Arendt, Vita activa: 15.

25 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge: 730.

26 Hannah Arendt, Ziviler Ungehorsam, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, aktualisierte erweiterte Neuausgabe und mit einem Nachwort versehen von Marie Luise Knott, Hamburg 1999, 119-159.

27 Ebd.: 129

28 Ebd.: 126