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Ausgabe 1/2, Band 6 – November 2011

Eichmann, Arendt und das Theater in Jerusalem

Zur Semantik des Theaters in der Rezeption des Eichmann-Prozesses

Mirjam Wenzel

Literaturwissenschaftlerin und Leiterin der Medienabteilung am Jüdischen Museum Ber­lin

Der Prozess gegen Adolf Eichmann im Jahr 1961 fand im Jerusalemer Beit Ha’Am statt – einem Theaterraum mit Bühne und Zuschauerrängen, der eigens für diese Zwecke in einen Gerichtssaal mit einer Glasbox für den Angeklagten, einem Podest für die Richter, Protokol­lanten und Übersetzer, einem Zeugenstand und einer Verschalung für vier ver­steckte Kameras umgebaut wurde. Nicht nur der Ort, sondern auch der Ablauf des Ver­fahrens erinnerten zeit­genössische Beobachter und Kommentatoren – unter diesen Han­nah Arendt und Susan Sontag – an zentrale Paradigmen des Theaters. Dementsprechend prägten bestimmte Vorstellungen aus der theatergeschichtlichen Tradition wie etwa die der Katharsis und Begriffe wie Bühne, Regisseur, Rolle und Zuschauer die Wahrnehmung des Prozesses. Dieser Essay zeichnet die Semantik von Theater und Gericht in der Rezep­tionsgeschichte des Eichmann-Prozesses nach und konzentriert sich dabei auf Texte und Filme, die sich mit dem Verfahren selbst auseinan­dersetzen: den Prozessbericht von Han­nah Arendt, Eichmann in Jerusalem (1963), die Filme Verdict for Tomorrow von Leo Hur­witz (1961) und Un Spécialiste von Eyal Sivan und Rony Brauman (1999) sowie die Vi­deoinstallation “Criminal Case 40/61: Reverb” von An­drea Geyer (2009).

Ein Gerichtsprozess beginnt mit einem Zeremoniell: Von Respektsbekundungen beglei­tet, ziehen die Richter in den Gerichtssaal ein und eröffnen die Verhandlung. Auf Ankunft und Beginn folgt ein Verfahren von Rede und Gegenrede, das im Urteilsspruch seinen Ab­schluss findet. In diesem rhetorischen Feld, das weite Teile der Verhandlungen prägt, be­wegen sich auch die ersten Sätze von Arendts Prozessbericht1, der zunächst unter dem Se­rientitel A Repor­ter at Large: Eichmann in Jerusalem in der Zeitschrift New Yorker ver­öffentlicht wurde, noch im selben Jahr (1963) in Buchform unter dem Titel Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil bei Viking Press und ein Jahr später in deut­scher Übersetzung im Piper Verlag erschien:
'Beth Hamishpath‘ – Das Haus der Gerechtigkeit: bei diesen Worten, die der Ge­richtsdiener mit gewaltigem Stimmaufwand in den Saal ruft, springen wir von den Sitzen, denn sie verkünden die Ankunft der drei Richter, die barhäuptig, in schwar­zen Roben von einem Seiteneingang her den Gerichtssaal betreten, auf der obersten Stufe des schräg ansteigenden, erhöhten Podiums ihre Sitze einnehmen und die Ver­handlung er­öffnen.2
In der englischsprachigen Ausgabe übersetzt Arendt das hebräische Wort für Gerichtshof, Beit HaMishpath, als „The House of Justice“. Mit dieser Wortwahl unterstreicht sie nicht nur die Affinität zwischen dem Gerichtshof (House of Justice), einem hohen Richter (Ju­stice) und der Gerechtigkeit (ebenfalls Justice), die von struktureller Bedeutung für ihren Bericht ist. Der erste Satz des Buchs verbindet die Polysemantik der Wendung „House of Justice“ auch mit einer huldigenden Geste an die Richter und betont dadurch den thea­tralen Aspekt des Ge­schehens. Der Ruf des Gerichtsdieners, der die Sitzung einleitete, er­wecke denselben Ein­druck, so Arendt wenig später, „wie wenn im Theater der Vorhang aufgeht“.3

Yasco Horsman kommentiert diese theatrale Inszenierung des Gerichts zu Beginn von Arendts Prozessbericht mit den Worten:

By opening the book with a quotation from the ‚Beth Hamishpath‘ of the usher that raised the curtain to the legal scene, [Arendt; Erg. M.W.] suggests that her own writing opens up a literary ‚house of justice‘, comparable to the one in Jerusalem.4
Im Verlauf des ersten Kapitels stärkt die Prozessbeobachterin an mehreren Stellen die Analo­gie zwischen Theater und Gericht, die der Beginn ihres Berichts, das im Text eröff­nete Ge­richtsverfahren, inszeniert. Sie nimmt Bezug auf die ursprüngliche Funktion des Jerusalemer Beit Ha’am als einem „Volkstheater“5 und stellt den Gerichtssaal als einen Theaterraum dar, der den Zuschauern einen Platz „im Parkett und auf der Galerie“ zu­weist, von dem sie auf „das Proszenium und die Bühne mit den Seitentüren für die Auf­tritte der Schauspieler“ bli­cken.6 In ihren Beschreibungen wird die räumliche Ordnung des Saals von zwei Blickachsen strukturiert: dem Gegenüber von Zuschauern und Rich­tern auf der einen und der Konfronta­tion zwischen Eichmann und den Zeugen, dem Ver­teidiger und dem Ankläger auf der anderen Seite.
Die für Arendts Bericht zentrale Achse gibt die Blickrichtung der Zuschauer wieder, die dem Blick der Richter begegnete, und, wie im Folgenden gezeigt werden soll, mit dem Be­griff Gerechtigkeit in eins gesetzt wird. Rechts und links von dieser Blickachse befanden sich der kugelsichere Glaskasten des Angeklagten und der Zeugenstand, die „einander direkt gegen­über [standen; Erg. M.W.], so daß der Angeklagte und die Zeugen dem Publikum das Profil“ zukehrten.7 Die sich kreuzenden Blicke Eichmanns und der Zeugen wurden von den Positio­nen des Anklägers und des Verteidigers ergänzt, die dem Zuschauerraum den Rücken zuwen­deten. Im Unterschied zur erhöhten Richterbank, die das Gericht ins Zentrum des Raumes und des Berichts rückte, lag die Position Hausners nicht nur am Abgrund der Bühne; sein Auftre­ten wurde von Arendts Bericht auch als theatralisch kritisiert. Hausners Tendenz, „Theater zu spielen“8, bestand Arendt zufolge darin, dass er sich häufig „zum Publikum“ wandte,9 sich „gern in Szene“ setzte10 und „Posen“ einnahm, die „auf eine außergewöhnliche Eitelkeit schlie­ßen“ ließen.11 Auf Anweisung des israelischen Premierministers Ben Gurions, den Arendt als „unsichtbare(n) Regisseur“12 des Prozesses verstand, rief Hausner eine eindrucks­volle „Prozession“13 von Personen in den Zeugenstand, die „bereits in Büchern ihre Erfahrun­gen niedergelegt hatten und nun ‚bezeugten‘, was gedruckt vorlag“.14 Seine auf Wirkung be­dachte Anklagestrategie hatte ihrer Meinung nach zum Ziel, die Vernichtung der europäi­schen Juden auf der Bühne des Gerichtssaals als eine Tragödie zu inszenieren. Aufgrund sei­nes Verhaltens drohte das Verfahren, so Arendt, immer wieder in einen „Schauprozess“15 umzu­schlagen, in dem das gezeigt werden sollte, was man gemäß der aristotelischen Tradition zu sehen wünschte: einen handlungsmächtigen Täter, den es von redemächtigen Zeugen zu überführen und von kompetenten Richtern zu verurteilen galt, und einen Gerichtsprozess, in dessen Rahmen der Holocaust als ‚Tragödie des jüdischen Volkes‘ wahrgenommen und überwunden werden sollte.

Die Affinität des Eichmann-Prozesses zum Theater fiel nicht allein Hannah Arendt, sondern auch Susan Sontag auf, die in ihrem Essay über Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter schrieb:

[T]he truth is that the Eichmann trial did not, and could not have conformed to legal standards only. [...] The function of the trial was rather that of the tragic drama: above and beyond judgment, catharsis.16
Sontags Ausführungen konzentrieren sich auf das Spannungsverhältnis zwischen den Pa­radigmen von Legalität und Moral auf der einen und denen einer Tragödie auf der ande­ren Seite. Das Verfahren gegen Adolf Eichmann bot, Sontag zufolge, zwar eine katharti­sche Lö­sung für „das tragische Ereignis des modernen Zeitalters“,17 den Holocaust, an, die es jedoch zugleich verfehlte. Der Prozess vollzog ihrer Ansicht nach zwar einen „großartigen Akt der Überantwortung“, der von den Erinnerungen und der „Erneuerung der Trauer“ durch die Zeu­gen ausging18, unterlag jedoch dem Problem, dass er so tun musste, als ob die Schuld des Ange­klagten nicht von vorneherein feststand:
The trial is a dramatic form which imparts to the events a certain provisional neutral­ity; the outcome remains to be decided; the very word ‚defendant‘ implies that a defense is possible. In this sense, though Eichmann, as everyone expected, was condemned to death, the form of a trial favored Eichmann. Perhaps this is why some feel, in retrospect, that the trial was a frustrating experience, an anti-climax.19

Die ‚provisorische Neutralität’ des Prozesses gegen Adolf Eichmann führte nach Ansicht Sontags dazu, dass die Urteilsverkündung nicht als tragischer Höhepunkt oder als Lösung der dramatischen Spannung wahrgenommen wurde. Das moralische Gebot, Eichmann als schul­dig zu verurteilen, und die nüchterne juristische Form wiesen die theatralische Sehnsucht nach einem kathartischen Akt also von vornherein in die Schranken.

Im Unterschied zu Sontag betrachtete Arendt die Vorstellung, dass ein Gerichtsverfah­ren den Wunsch nach einer historischen Katharsis stillen könnte, von vorneherein als problematisch. Wie insbesondere ihre Schilderung der Anklagestrategie verdeutlicht, führte sie die katharti­schen Momente, die die eindringlichen Schilderungen im Zeugen­stand bargen, vor allem auf die politischen Absichten zurück, die „der Regisseur“ mit dem Prozess verband. Wie Arendt zu kritisieren nicht müde wurde, bestand das von Ben Guri­on vorab in mehreren Artikeln formulierte Ziel des Verfahrens nicht allein in einer Verur­teilung der Taten Eichmanns, son­dern vielmehr darin, den Holocaust unter einem be­stimmten Blickwinkel, nämlich dem der politischen Situation Israels, zu perspektivieren und die Konsolidierung einer Geschichts­schreibung zu forcieren, die in dem von Moshe Dayan formulierten Credo münden sollte: „Das historische Erbe der sechs Millionen – der historische Imperativ, den sie uns hinterlas­sen haben – , besteht in der Aufgabe sicherzu­stellen, daß so etwas nie wieder geschehen wird.“20 Arendt zufolge aber galt es, in einem Gerichtsverfahren „Fragen von scheinbar hö­herer Bedeutung, welche die Öffentlichkeit beschäftigen, [...] beiseite“ zu lassen und sich ganz allein dem zu widmen, was im Zen­trum eines Strafverfahrens stehe, nämlich der Frage, wessen sich der Täter schuldig ge­macht habe und worin seine Verantwortung bestand.
Der von Sontag kritisierte Widerspruch zwischen juristischer Form und tragischem Ge­genstand, den Abläufen eines Gerichtsprozesses und den Interessen der Öffentlichkeit, bildet also den Ausgangspunkt des textuellen Verfahrens von Eichmann in Jerusalem. Im Unterschied zu Sontag aber wendet sich Arendt dezidiert von diesem Spannungsverhält­nis ab und einem an­deren Widerspruch zwischen Form und Gegenstand, nämlich den Prämissen eines Gerichts­verfahrens auf der einen und der Tat sowie der Person Adolf Eichmanns auf der anderen Seite zu. Ihre Analogie zwischen Theater und Gericht basiert auf der Überlegung, „daß beide mit dem Täter beginnen und enden“, also denjenigen „in den Mittelpunkt“ rücken, „der gehandelt hat“21 Arendt schildert den Prozess in Jerusalem als ein Verfahren, in dessen Zentrum die Notwendigkeit wie auch die Schwierigkeit stand, die Tat und das spezifisch moderne Täter­profil zu beurteilen. Ihre Perspektive rückt das Verfahren somit in die Tradition des epischen Theaters von Bertolt Brecht,22 die sie mit folgenden Worten charakterisiert:
Das epische Theater unterscheidet sich von der Dramatik der Tradition dadurch, daß es ihm nicht auf Charaktere, ihre Entwicklung in der Welt und ihre Konflikte mit ihr, an­kommt, sondern auf bestimmte Geschehensabläufe unter bestimmten Umständen, die das Publikum sofort als seine eigenen in typisierter Form zu verstehen hat, und in wel­chen Typen agieren, deren Verhaltensweisen am Maßstab der Ereignisse selbst gemes­sen werden.23

Ganz im Sinne dieser Beschreibung von Brechts epischem Theater konzentriert sich Ein Be­richt von der Banalität des Bösen auf die Rekonstruktion der Tat Adolf Eichmanns. Arendt eruiert deren Umstände und porträtiert den Angeklagten nicht etwa als monströ­sen Charakter, sondern als Typus eines modernen Schreibtischtäters, der unter den Be­dingungen totalitärer Herrschaft weit verbreitet ist. Sie betont den exemplarischen Cha­rakter des Verfahrens und bemüht sich darum, moralische und juristische Maßstäbe zu finden, mit denen das Ereignis des Holocaust und die Verhaltensweise Eichmanns ad­äquat erfasst werden könnten.

Arendts Prozessbericht nimmt eine Distanz zu dem Dargestellten ein, die jenem Ab­stand ent­spricht, mit dem Brechts ‚Demonstrant‘ in der Abhandlung „Die Straßenszene“ den von ihm bezeugten Autounfall wiedergibt. Das Charakteristische dieser Demonstrati­on besteht Brecht zufolge darin, „daß der Demonstrierende das Verhalten des Fahrers oder des Überfahrenen oder beider in einer solchen Weise vormacht, daß die Umstehen­den sich über den Unfall ein Urteil bilden können.“24 Ebenso wie Brechts anti-aristoteli­sche Dramatik darauf abzielt, die „Einfühlung“25 des Zuschauers in das dargestellte Ge­schehen zu unterminieren, um dessen politische Urteilsfähigkeit zu steigern, lässt sich Arendts Untersuchung der Frage, wie die Beteiligung des „Fachmann[s] in der Judenfra­ge“26 an dem Vernichtungsgeschehen einzuschät­zen sei, als ein Versuch verstehen, ihre Leser zu „Fachleuten“27 für das historische Geschehen zu machen. Um dies zu ermögli­chen, nimmt Arendt die Rolle des Demonstrieren­den in Brechts Straßenszene ein und zeigt an einem spezifischen Fallbeispiel, wie schwierig und zugleich notwendig es ist, die Tat einer einzelnen Person im Rahmen der industriellen Massenvernichtung zu verstehen und über sie zu richten.
Den konstitutiven Abstand zum Geschehen, den diese Rolle mit sich bringt, legitimiert Arendt mit dem Hinweis auf die „ungekünstelt[e]“, „nüchtern[e] und intensiv[e]“ Ver­handlungsführung der drei Richter, die „der größten Versuchung, in dieser Inszenierung schließlich doch Theater zu spielen“28, widerstanden habe.

Sie beruft sich dabei auf folgende Worte des Vorsitzenden:

Wenn ein Gericht amtiert, dann sind die Richter, aus denen es sich zusammensetzt, Menschen aus Fleisch und Blut, mit Gefühlen und Empfindungen, aber es ist ihnen durch das Gesetz die Pflicht auferlegt, diese Gefühle und Empfindungen in den Hin­tergrund zu stellen. [...] Es läßt sich nicht leugnen, daß die Erinnerung an die Mas­senmorde der Nazis jeden Juden erschüttert, aber solange dieser Fall uns vorliegt, wird es unsere Pflicht sein, dieses Gefühl zurückzudrängen, und diese Pflicht werden wir erfül­len.29
Die Erschütterung, mit der die Richter den Zeugnissen unerhörter Leiden zuhörten, er­weckte, so Arendt weiter, beim Publikum „nie“ den Eindruck, „zur Schau getragen“ zu sein.30 Dank der richterlichen Sublimationsleistung hatte das Verfahren, so Arendt, trotz der staatsanwaltli­chen Theatralik dennoch einen „nürchtern(en)“ Charakter.31 Im Sinne Arendts erinnerte der Prozess vor allem deshalb an die Parameter des epischen Theaters, weil er von der metonymi­schen Verbindung zwischen Gerechtigkeit, Gericht und den Richtern sowie deren Verlän­ge­rung in die Reihen der Zuschauer getragen wurde. Die ent­scheidenden Vorgänge ihres Pro­zessberichts vollziehen sich dementsprechend auf der zentralen Blickachse im Gerichtssaal: der Blickverbindung zwischen den Zuschauern und den Richtern. Über eben diese Blickachse wacht in ihrem Text „ein strengerer Herr [...] als der Premierminister mit all seiner Macht“, nämlich die Gerechtigkeit. Diese verlange, so Arendt, „äußerste Zurückhaltung und den Ab­bruch aller Beziehungen zur Öffentlich­keit“, lasse „gerade noch die Trauer, aber nicht einmal den Zorn“ zu und diktiere „strengs­te Enthaltsamkeit gegenüber allen Verlockungen, sich durch Scheinwerfer, Kameras und Mikrophone ins Rampenlicht zu spielen“.32 Die Gerechtig­keit gebiete, dass das dramati­sche Geschehen sich an die Prämissen eines juristischen Ver­fahrens halte, sich auf eine Ermittlung der Fakten konzentriere und vor öffentlichen und emo­tionalen Einflüssen ver­schließe.

Arendt erhebt die Frage des emotionalen Abstands zum Geschehen nicht nur zu einem ge­rechten Anliegen, sondern auch zum Dreh- und Angelpunkt der eigenen Darstellung. Sie nimmt damit folgende Überlegungen von Peter Weiss zum Dokumentartheater gewis­sermaßen vorweg:

Das dokumentarische Theater kann die Form eines Tribunals annehmen. Auch hier hat es nicht Anspruch darauf, der Authentizität eines Gerichtshofs von Nürnberg, ei­nes Auschwitzprozesses in Frankfurt, eines Verhörs im amerikanischen Senat, einer Sitzung des Russell-Tribunals nahezukommen, doch kann es die im wirklichen Ver­handlungsraum zur Sprache gekommenen Fragen und Angriffspunkte zu einer neu­artigen Aussage bringen. Es kann, durch den Abstand, den es gewonnen hat, die Aus­einandersetzung von Gesichtspunkten her nachvollziehen, die sich im ursprüngli­chen Fall nicht stell­ten.33
Als Beobachterin zweiter Ordnung im Sinne Luhmanns, die den Beobachtern erster Ord­nung, den Richtern, nicht nur gegenübersteht, sondern diese auch als Beobachter wahr­nimmt,34 ver­fasst Arendt eine Prozessbeschreibung, die eine szenische Darstellung des Geschehens vor­nimmt und dieses zugleich mit ostentativem Abstand unter „Gesichts­punkten“ analysiert, die „sich im ursprünglichen Fall nicht stellten“. Ihr Bericht von der Banalität des Bösen gleicht einem textuellen „Tribunal“, das nicht nur prozessiert, was „im Sinne der Gerechtigkeit“ hätte verhandelt werden sollen, sondern auch darstellt, wo­nach „die Stimme der Gerechtigkeit“35 verlangt, nämlich den Fall Adolf Eichmann in ei­nem Urteil abzuschließen. Cornelia Viss­mann und Thomas Weitin haben die aporetische Situation, die diesem textuellen Verfahren zugrunde liegt, wie folgt auf den Punkt ge­bracht:
Das Dilemma, nicht nicht entscheiden zu können, erfährt bei Hannah Arendt eine ent­scheidende Umwertung. Den Eichmann-Prozess vor Augen, in dem ein Urteil über je­manden gefällt werden muss, der den Typ desjenigen verkörpert, der sich nie­mals ein Urteil anmaßt, wird Urteilen – Judging – zu einer notwendigen Tätigkeit, ohne die kein Verstehen und keine Verantwortlichkeit möglich ist.36
Eichmann in Jerusalem setzt die Tätigkeit des Urteilens in Szene. Diese gipfelt im Epilog, der, wie Arendt selbst hervorhebt, nicht mehr „einfache Berichterstattung“, sondern eine in Szene gesetzte Urteilsverkündung ist, die sich nicht auf existierendes Recht beruft, son­dern neues Recht setzt. Getragen von der Spannung zwischen Eichmanns Unfähigkeit, ei­genständig zu denken, und der moralischen wie politischen Notwendigkeit, den Fall beur­teilen zu müssen, betont ihr Bericht die Notwendigkeit „zu urteilen, und zwar kräftig“.37 Er bezieht sich mit dem Motto „O Deutschland, bleiche Mutter“ auf Bertolt Brecht, be­ginnt mit einer szeni­schen Huldigung an die Gerechtigkeit und endet mit den patheti­schen Worten der abschlie­ßenden Urteilsverkündung:
So bleibt uns also nur übrig, daß Sie eine Politik gefördert und mitverwirklicht haben, in der sich der Wille kundtat, die Erde nicht mit dem jüdischen Volk und einer Reihe anderer Volksgruppen zu teilen, als ob Sie und Ihre Vorgesetzten das Recht gehabt hät­ten, zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht. [...] Dies ist der Grund, der einzige Grund, daß Sie sterben müssen.38

Arendts posthum an Eichmann gerichtetes Urteil entscheidet über dessen Unfähigkeit, zwi­schen Recht und Unrecht zu differenzieren, indem es herausstellt, dass der Angeklagte als Vollstrecker eines massenhaft ausgestellten Todesurteils operierte. Es unterstreicht, dass eine Versöhnung mit dem Angeklagten unmöglich sei, weil dieser jegliche Solidarität zwischen den Menschen aufgekündigt habe. Und es schließt den dialektischen Prozess der Urteilsfin­dung ab, in den die Leser im Verlauf ihrer Lektüre involviert werden.

Das textuelle Gerichtsverfahren, das Arendts Prozessbericht in Szene setzt, beginnt und endet nicht nur mit einer performativen Doppelung von Anfang und Ende eines Prozes­ses. Es gleicht einem Dokumentarstück, das seine Zuschauer, die Leser, in einen Prozess der Urteils­bildung involvieren will und nicht nur sachlich und unparteiisch, sondern auch in besonderem Maße der Gerechtigkeit verpflichtet zu sein meint.

 

Der Film Un Spécialiste: Portrait d’un Criminel Moderne von Eyal Sivan und Rony Brau­man, der 1999 zum ersten Mal auf der Berlinale gezeigt wurde, bezieht sich im Abspann explizit auf Arendts Prozessbericht. Er besteht ausschließlich aus historischem Material, nämlich den filmischen Aufzeichnungen, die während des Prozesses von vier Kameras unter der Regie von Leo Hurwitz aufgenommen wurden und etwa 90 Bänder, also 350 Stunden Videomaterial umfassen. Der Film rekonstruiert nicht etwa die Reihenfolge, in der das Mate­rial ursprünglich gedreht wurde, sondern nimmt eine szenische Montage einzelner Aus­schnitte vor. Darüberhinaus unterzieht er das dokumentarische Material ei­ner intensiven Nachbearbeitung, indem er nicht nur Farb- und Tonkorrekturen vor­nimmt, sondern auch Ge­räusch-, Licht- und Überblendungseffekte einsetzt. Benjamin Robinson beschreibt die Absicht dieses Postproduktionsverfahrens wie folgt:

Using Brechtian effects such as an eerie, quasi-industrial soundtrack, film-tinting, and digital manipulations of light, space, and motion, Sivan and Brauman remind viewers that the film... is indeed an artful condensation of a four-month trial.39

Un Spécialiste beginnt mit einem Vorspann, in dem die Protagonisten der Handlung na­mentlich vorgestellt werden:

Adolf Eichmann – Angeklagter, Robert Servatius – Anwalt der Verteidigung, Gideon Hausner – Generalstaatsanwalt, Gabriel Bach, Ya’akov Bar Or – Vertreter der Staats­anwaltschaft, Moshe Landau – Vorsitzender, Richter Benjamin Halevi, Richter Yitz­hak Raveh – in einem Film von Eyal Sivan und Rony Brauman.

Dieser der Gattung des Spielfilms entlehnte Auftakt betont nicht nur, dass die im Folgen­den zu sehenden Personen eine Rolle spielen, sondern unterscheidet auch zwischen Per­son und Funktion im Prozess. In dieser Unterscheidung zeigt sich nicht allein der Brecht’­sche Gestus der Demonstration, sondern auch ein spezifisches Merkmal des Films, näm­lich eine Interven­tion in die Verlässlichkeit historischer Fakten und Narrative: Der Vor­spann unterläuft nicht nur die Differenz zwischen Dokumentar- und Spielfilmkonventio­nen, Fakt und Fiktion, Ge­schichte und Gedächtnis. Er suggeriert auch, dass der nun fol­gende Film – gleich einem The­aterstück – anders hätte besetzt werden, Eichmann also etwa den Generalstaatsanwalt und dieser den Angeklagten hätte spielen können.

Der auf diesen Vorspann folgende Prolog des Films betont eben diese Affinität des Ge­zeigten zum Theater, indem er zunächst einen Blick auf den menschenleeren Ort der Handlung, das zu einem Gerichtssaal umgebaute Beit Ha’am zeigt und diesen dann suk­zessive mit Personen anreichert. Inmitten der nachträglich hinzugefügten Geräusche und Stimmen lassen sich die Aufzählung der fünfzehn Anklagepunkte und die Begriffe „Cri­mes against the Jewish People“ und „Crimes against humanity“ identifizieren, die von dem ersten O-Ton des Films: dem Ruf der Worte „Beit HaMishpath“ abgelöst werden. Der Einzug der Richter in den Gerichtssaal, der den Prozess wie auch Arendts Bericht er­öffnet und dem babylonischen Stimmengewirr im Film ein Ende setzt, wird in Un Spécialiste aus Eichmanns Perspektive wiedergegeben. Der Film unterstreicht damit be­reits zu Beginn den Blickwinkel, unter dem das Geschehen im Gerichtssaal thematisiert wird. Denn es sind weniger die Zeugenaussagen, sondern vielmehr der Mann im Glaskas­ten, der im Zentrum der filmischen Handlung steht. Dementsprechend rekurriert Un Spécialiste vor allem auf Aufnahmen aus dem zweiten Teil des Prozesses, dem Kreuzver­hör mit Eichmann, das von der 75. bis zur 109. Sitzung, also vom 20. Juni bis 25. Juli 1961 andauerte. In welchem Maße der Film dabei von dem chronologischen Ablauf des Verfahrens abweicht, wird bereits in der gezeigten Eröffnungssequenz deutlich, die nicht etwa mit der ersten, sondern der siebten Sitzung beginnt, die einleitenden Sätze von Hausners Eröffnungsrede sowie einen Ausschnitt aus seinen Ausführungen während des Kreuzverhörs am 13. Juli 1961 wiedergibt. Dabei unterstreicht – ganz im Sinne Arendts – das Zeitraffer-, Überblendungs- und Verfremdungsverfahren, dem die Rede des General­staatsanwalts unter­zogen wird, die Theatralik von dessen Auftritt. Der Hauptteil des Films ist in 13 Kapitel un­tergliedert, die Schuld und Verantwortung Eichmanns erörtern und dabei systematisch auf die verschiedenen Topoi aus Arendts Prozessbericht rekurrie­ren – wie etwa auf die Frage, ob Eichmann Befehlen gehorcht habe oder aber selbst Be­fehlsgeber war, inwiefern er ein Gewis­sen hatte, worin seine spezifische Verantwortung in der Planung der systematischen Ermor­dung bestand, was seine Sprache und sein Denken kennzeichnete und wie seine Zusammen­arbeit mit den so genannten „Judenräten“ aussah. In Ergänzung zu Arendts Beobachtungen im Gerichtssaal hebt der Film dabei das penible bürokratische Denken und Handeln Eichmanns hervor, indem er zeigt, wie dieser während der Verhandlungen mitschreibt, in den Unterlagen blättert, einzelne Aufzeichnungen in den Akten verifiziert und diese dem Gericht entgegen­hält.

Auch wenn Un Spécialiste sich weitgehend an die Topoi von Eichmann in Jerusalem hält, unterscheidet sich das Vorgehen des Films dennoch wesentlich von dem textuellen Verfahren Arendts. Dies wird insbesondere am Ende des 13. Kapitels deutlich, das den im Glaskasten sitzenden Eichmann in der Totalen zeigt und in der digitalen Nachbearbeitung des Materials sukzessive alle ihn in umgebenden Accessoires: Tische, Stühle, Mikropho­ne, Wächter und Akten entfernt. Anstatt das Urteil wiederzugeben oder aber – wie Arendt – dem Ausgang des Prozesses ein eigenes Urteil entgegenzuhalten, stellt das Ende des Films den Täter gewisser­maßen frei.

Diese De-Kontextualisierung der Figur Adolf Eichmann wird von einer Schnitttechnik be­gleitet, die das historische Material derart neu strukturiert, dass dem Zuschauer jegli­cher An­haltspunkt fehlt, um das Gesehene dem ursprünglichen Kontext zuordnen zu kön­nen. Sivan und Brauman unterlaufen nicht nur die Chronologie der Verhandlungen, sie schneiden, wie insbesondere Stewart Tryster nachgewiesen hat,40 auch Ausführungen zu­sammen, die in voll­kommen verschiedenen Zusammenhängen getätigt wurden. Die Zu­sammenstellung von Fra­gen und Antworten und die Kürzungen innerhalb einzelner Aus­führungen legen Bedeutungs­zusammenhänge nahe, die sich nicht am historischen Mate­rial verifizieren lassen. Sivans und Braumans Postproduktion nimmt also sowohl eine De-Kontextualisierung einzelner Szenen, als auch eine Enthistorisierung des dokumentari­schen Materials vor, was, so Gal Raz, fol­gende Implikationen hat:
In addition to the distortion of the chronology of the trial, the film also creates a sort of ‚historical vertigo’ by avoiding relevant information regarding Israeli and international public opinion about the case and the omission of the specific dates for its opening and the conclusion.41

Das ‚historische Schwindelgefühl’, welches Gal Raz als einen Effekt der De-Kontextuali­sierung beschreibt, korrespondiert mit den Kameraperspektiven, die der Film mit Vorlie­be ver­wendet. Anstatt das Geschehen im Gerichtssaal aus der Sicht der Zuschauer wieder­zugeben und damit eben jene Blickachse aufzugreifen, die Arendts Prozessbericht struk­turiert, rekur­riert Un Spécialiste vor allem auf Aufnahmen, die sich auf der Blickachse zwi­schen Eich­mann, Servatius, Hausner und den Zeugen bewegen. Das Schnitt-Gegen­schnitt-Verfahren des Films vollzieht nicht nur eine Gegenüberstellung von Eichmann und Hausner, es strengt dar­über hinaus auch einen Vergleich zwischen Körperhaltung und Redeweisen der beiden Perso­nen an. Dieser Vergleich beschränkt sich nicht allein auf das Feld von Ästhetik und Rhetorik, sondern gilt durchaus auch den politischen Syste­men, die Eichmann und Hausner repräsen­tieren.

Der Verzicht auf die Wiedergabe des Urteils, die De-Kontextualisierung von Aussagen und Szenen wie auch der Wegfall jeglichen Hinweises auf die politischen wie historischen Zu­sammenhänge des Verfahrens, hat nicht nur zur Folge, dass der Film seine Zuschauer mit einem ‚Schwindelgefühl’ entlässt, sondern unterscheidet Un Spécialiste auch von dem Urteilsver­fahren, das Arendt in ihrem Prozessbericht anstrengt. Das Theater, als welches der Film des Jerusalemer Prozess wiedergibt, hat im Unterschied zu dem textuellen Ver­fahren Arendts also keinerlei didaktische Funktion, sondern vielmehr einen denunziatori­schen Charakter: Es stellt das Verfahren als Schauprozess dar. Die Abwesenheit jedweder glaubwürdigen dritten In­stanz – sei es nun der Richter, der Zuschauer oder ein Kommen­tator –, die ein Urteil über Eichmann fällen könnte, zeigt darüber hinaus, in welchem Maße die Wahrnehmung des Eichmann-Prozesses von Eyal Sivan und Rony Brauman sich von der zeitgenössischen filmi­schen Rezeption unterscheidet:

Leo Hurwitz, der unmittelbar nach Ende der Verhandlungen und noch vor der Urteils­verkündung das unter seiner Regie entstandene Material zum ersten zusammenhängen­den Kinofilm über den Eichmann-Prozess zusammenstellte, maß nämlich einer dritten Figur, die das Ge­schehen – ganz im Sinne Brechts – einordnet, eine besondere Bedeutung bei. Sein halbstündi­ger Dokumentarfilm Verdict for Tomorrow (US 1961) wird von dem Radio- und Fern­sehmoderator Lowell Thomas eröffnet, der das dokumentarische Materi­al im Verlauf des Films kommentiert und dabei betont, in welchem Maße das Geschehen im Gerichtsaal der dramatischen Handlung auf einer Theaterbühne gleiche, das es nun mit Hilfe der Kamera zu beurteilen gelte, indem er etwa räsonniert:

Through the eyes of the camera the whole world had a front room seat in the histori­cal courtroom-drama.

Der Film Verdict for Tomorrow nimmt das Urteil im Eichmann-Prozess vorweg, indem er die Kamera zum Ermittler ernennt und Ausschnitte aus dem Gerichtsverfahren mit histo­rischen Dokumentaraufnahmen von den nationalsozialistischen Verbrechen kombiniert. Er er­muntert die Zuschauer im Kinoraum noch vor Ende des Prozesses, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sich direkt an das Publikum wendend, fragt Lowell Thomas:

What will the verdict be? What purpose has the trial served?... We hope, this has made you stop and think, so as to render your own final verdict.

Der Urteilsbildungsprozess, zu dem Verdict for Tomorrow anregt, indem er die Kamera zum Ermittler und die gezeigten Bilder zum Beweismaterial erhebt, bezieht sich nicht al­lein auf die Taten des Angeklagten Adolf Eichmann. Der Film legt seinen Zuschauern auch nahe, das Jerusalemer Gericht selbst zu beurteilen. Er zeichnet das juristische Ver­fahren nicht nur nach, sondern dupliziert und justiert es zugleich. Das filmische Verfah­ren, dessen Verdict for Tomorrow sich bedient, um mit und über den Jerusalemer Prozess zu urteilen, gleicht in vielerlei Hinsicht dem textuellen Verfahren von Eichmann in Jeru­salem. Beide geben das Geschehen im Gerichtssaal wie auch die historischen Vorkomm­nisse mit einer gewissen Dis­tanz wieder, um die Zuschauer und Leser – ganz im Sinne der Notizen zum Dokumentarthe­ater von Peter Weiss – in eine „Stellung des Beobachtenden und Analysierenden“42 zu verset­zen und so zu einem abschließenden Urteil zu ermuntern. Und beide appellieren an ihre Rezi­pienten, das Verbrechen, das von Eichmann und seinesgleichen an der Menschheit verübt wurde, nicht nur zu beurteilen, sondern sich auch dafür verantwortlich zu erklären, dessen Wiederholung vorzubeugen.

 

Nicht nur Verdict for Tomorrow und Eichmann in Jerusalem unterstreichen – ob nun in der Figur des Kommentators, Richters oder Zuschauers – die Bedeutung der dritten In­stanz; auch in der 6-Kanal-Videoinstallation Criminal Case 40/61: Reverb von Andrea Geyer haben die Äußerungen von Reporter und Richter eine zentrale Funktion.43 Die an­lässlich einer Einzel­ausstellung der Künstlerin an der University of California (Irvine) entstandene Arbeit besteht aus sechs in einem Kreis aufgestellten Monitoren oder Projek­tionsleinwänden, die jeweils einen Videofilm zeigen, der prototypische Gesten und Äuße­rungen von sechs ver­schiedenen Figuren inszeniert. Die Videos sind so miteinander syn­chronisiert, dass ihre Äußerungen sich aufeinander zu beziehen scheinen. Alle Figuren werden von ein und dersel­ben Schauspielerin (Wu Ingrid Zang) dargestellt und befinden sich im Zentrum des Bildes: sie sitzen oder stehen an einem Tisch, auf dem sich entweder Akten und Bücher oder Mikro­phone oder ein Radio befinden. Hinter ihnen erstreckt sich eine braune, verschlossene Ar­chivregalwand über die gesamte Breite des Bildes. Auch wenn die sechs Figuren sich allein in Mimik, Gestik und Kleidungsstil voneinander unter­scheiden, weist die Arbeit ihnen dennoch distinkte Rollen zu, indem sie ihre Funktionen im Prozessgeschehen wie folgt benennt: Accu­sed, Defense, Judge, Audience, Prosecutor, Reporter.

Im Unterschied zum Vorspann von Un Spécialiste werden Geschichte und Identität der Fi­guren in Geyers Installation nicht identifiziert. Die Installation überlässt es vielmehr dem Betrachter, in ihnen die Schemen historischer Personen zu erkennen. Dabei fungie­ren die Mimik, Gestik und Accessoires, mit denen sie dargestellt werden, als Codes, deren Dechiff­rierung auf die Bekanntheit des mediatisierten Prozessgeschehens setzt. Dement­sprechend lässt sich auch die Rolle des Reporters unschwer einer distinkten historischen Person, nämlich Hannah Arendt zuordnen. Die Videoarbeit zitiert sowohl aus Eichmann in Jerusalem, als auch aus anderen Büchern der Autorin, wie etwa The Origin of Totali­tarianism. Sie unterstreicht den deiktischen Gestus der Formulierungen Arendts und stellt diesem die Rhetorik des Rich­ters zur Seite, dessen Ausführungen ebenfalls über die konkrete Situation im Gerichtssaal hinausweisen. Dabei eröffnen die Äußerungen von Re­porter und Richter eine gleichermaßen abstrahierende wie auch erklärende Perspektive auf das Prozessgeschehen selbst.

Während Eyal Sivan und Rony Brauman im Vorspann ihres Films zwischen Person und Rolle, Fakt und Fiktion differenzieren, dient das historische Geschehen der Installati­on von Andrea Geyer lediglich als Referenz. Die dargestellten Personen sind tot und die Archiv­schränke mit ihren Hinterlassenschaften, dem dokumentarischen Material, das Si­van und Brauman bearbeiteten, verschlossen. Im Unterschied zu Verdict for Tomorrow, Un Spécialiste und Eichmann in Jerusalem geht die Arbeit von Geyer also konsequent da­von aus, dass der Holocaust und seine unmittelbare Nachgeschichte vergangen, die Zeit­zeugen verstorben sind und ihre Zeugnisse nunmehr als Bestandteil des kollektiven Ge­dächtnisses re-inszeniert und verstanden werden müssen. Dies wird bereits im Titel Cri­minal Case 40/61: Reverb deutlich, der mit dem Ausdruck „Reverb“ (dt.: Hall) unter­streicht, dass das Gezeigte auf Beobachtungen dritter Ordnung basiert, die das historische Geschehen anhand des Ar­chivs, in dem Beobachtungen zweiter Ordnung aufbewahrt wer­den, zu rekonstruieren und zu verstehen suchen.

Geyers Installation stellt nicht nur einen Nachhall von Geschichte dar, sie nimmt auch ein Re-Enactment von Texten und filmisch dokumentierten Gesten vor, das seinerseits erneut Theater ist und sein will. Die Arbeit transformiert die historischen Aussagen zu prototypischen Sprechakten und unterstreicht deren performativen Charakter. Die insze­nierten Figuren han­deln, indem sie sprechen. Der Raum, der sich zwischen den sechs Mo­nitoren entfaltet, bildet einen theatralen Ort, an dem Handlungsträger interagieren. Die Installation gleicht also einem Theateraufführung, in deren Zentrum der Betrachter steht, der eben diesen Raum betreten muss, um die Installation wahrnehmen zu können. Der Anfang der Arbeit mit Hannah Arendts Überlegungen zum Verstehen kann deshalb so­wohl als ein Motto von „Criminal Case 40/61: Reverb”, als auch als eine Aufforderung an den Betrachter verstanden werden:

Comprehension [...] means the [...] attentive facing up to, and resisting of, reality - whatever it may be.44

Mit dieser Aufforderung spielt die Installation zwar auf den Prozess der Urteilsbildung an, den Arendts Prozessbericht inszeniert, schreibt diesen aber nicht fort. Während Eich­mann in Jerusalem sich der Aufgabe widmet, ein adäquates Urteil über die Taten Eich­manns und mit­hin über Geschichte fällen zu wollen, bildet das historische Geschehen in der Installation von Geier lediglich den Ausgangspunkt einer audio-visuellen Reflexion über den Prozess der Ur­teilsbildung selbst. Eichmann in Jerusalem und Verdict for Tomorow leiten die Leser und Zuschauer dazu an, eine Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen, indem sie den Prozess als Theaterstück wiedergeben. Das Theater, als welches die Sprechakte, die im Zusammenhang mit dem historischen Verfahren getätigt wurden, in Criminal Case 40/61: Reverb inszeniert werden, hat hingegen keinerlei Aufgabe mehr: Es ist bloßes mediales Ereignis.

Anmerkungen

1Eine ausführliche Analyse des im Folgenden skizzierten textuellen Verfahrens von Eichmann in Jerusalem ist im ersten Kapitel meines Buchs Gericht und Gedächtnis: Der Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre (Göt­tingen 2009) zu finden.

2Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. 12. Aufl. München 2003, S. 69.

3Beit Ha’am lässt sich wortwörtlich als „Haus des Volkes“ übersetzen; vergleichbare Multifunktionseinrichtun­gen befinden sich in mehreren israelischen Städten und werden zumeist als Ausstellungsraum, Theater und Versammlungsort genutzt.

4Ebd., S. 69 f.

5Beit Ha’am lässt sich wortwörtlich als „Haus des Volkes“ übersetzen; vergleichbare Multifunktionseinrichtun­gen befinden sich in mehreren israelischen Städten und werden zumeist als Ausstellungsraum, Theater und Versammlungsort genutzt.

6Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 71.

7Ebd., S. 69 f.

8Ebd., S. 70.

9Ebd., S. 72.

10Ebd., S. 71.

11Ebd., S. 72.

12Ebd., S. 71.

13Hausner zitiert nach Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Übers. von Jürgen Peter Krause und Maja Ueberle-Pfaff. Reinbek 1995, S. 463.

14Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 336.

15Ebd., S. 71.

16Susan Sontag, „Reflections on The Deputy“. In: Eric Bentley (Hrsg.), The Storm over The Deputy. New York 1964, S. 117–123, hier S. 118.

17Ebd., im Orig.: „the supreme tragic event in modern times“.

18Siehe ebd., S. 119: „it was primarily a great act of commitment through memory and the renewal of grief.“

19Ebd.

20So Moshe Dayan in der öffentlichen Debatte über Israels Waffenverkäufe an Deutschland, die parallel zum Eichmann-Prozess stattfand; zitiert nach Segev, Die siebte Million, S. 487.

21Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 76.

22Der Stellenwert von Brechts dramatischen und lyrischen Arbeiten für die Konzeption von Eichmann in Jeru­salem wird nicht nur in dem vorangestellten Motto aus Brechts Gedicht „Deutschland“, sondern auch in fol­gendem Ausspruch deutlich: „Als ich mein Buch Eichmann in Jerusalem schrieb, hatte ich diese Brecht’schen Zeilen (‚Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch‘ [aus dem Epilog zu Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui]) noch nicht gelesen, ich kannte sie noch nicht. Aber eine meiner Hauptabsichten war, die Legende von der Größe des Bösen, von dessen dämonischer Macht, zu zerstören“ (Arendt, „Fernsehgespräch mit Ro­ger Errera“. In: dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hrsg. von Ursula Ludz. Mün­chen 1996, S. 116-133, hier S. 131).

23Arendt, „Der Dichter Bertolt Brecht“. In: Die neue Rundschau 61 (1950), S. 53–67, hier S. 61.

24Bertolt Brecht, „Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters“. In: ders., Schriften zum Theater: Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt/Main 1993, S. 90–105, hier S. 90 f.

25Ders., „Vergnügungstheater oder Lehrtheater?“. In: ders., Schriften zum Theater, S. 63.

26Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 110.

27So Brechts Bezeichnung für den Zuschauer im epischen Theater; siehe Brecht, „Literarisierung des Theaters. Anmerkungen zur Dreigroschenoper“, in: ders., Schriften zum Theater, S. 29.

28Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 70.

29Ebd., S. 318.

30Ebd., S. 70.

31Ebd.

32Ebd., S. 72.

33Peter Weiss, „Notizen zum dokumentarischen Theater“. In: ders., Rapporte 2. Frankfurt/Main 1971, S. 91–104, S. 91–104, hier S. 100.

34Siehe dazu Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1995, S. 16: „[D]ieser Beobachter muß sein Beobachten auf einer Ebene zweiter Ordnung organisieren, will er einem sich selbst in seinen Gren­zen bestimmenden Objekt gerecht werden oder dies auch nur als Thema zulassen. Er muß sein Objekt als einen Beobachter beobachten, das heißt: als ein Objekt, das sich selbst an der Unterscheidung von System und Umwelt orientiert.“

35Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 71.

36Cornelia Vissmann, Thomas Weitin, „Einleitung“. In: dies. (Hrsg.), Urteilen / Entscheiden. München 2006, S. 7–16, hier S. 15.

37Arendt an Scholem, Brief vom 20. Juli 1963. In: dies., Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Übers. von Eike Geisel. Berlin 1989, S. 71-79, hier S. 75.

38Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 404

39Benjamin Robinson, „’The Specialist’ on the Eichmann Precedent: Morality, Law, and Military Sovereignity“. In: Critiqual Inquiry 30 (Autumn 2003), S. 63-97, hier: S. 67.

40Siehe u.a. Stewart Tryster, „Der wahre Spezialist“. In: Fritz Bauer Institut, Einsicht 05 (2011) , S. 48-54.

41Gal Raz, „Actuality of Banality: Eyal Sivan’s ,The Spezialist‘ in Context“. In: Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies 24 (2005), Nr. 1, S. 4-21, hier: S. 11.

42Weiss, „Notizen zum dokumentarischen Theater“, in: ders., Rapporte 2, S. 97.

43Dies wird insbesondere in dem Trailer deutlich, den die Künstlerin zusammen mit Ausschnitten aus den sechs verschiedenen Videos auf ihrer Website veröffentlichte; siehe URL: http://www.andreageyer.info/projects/criminal_case/CriminalCase.htm (4. November 2011)

44Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism. Überarb. Aufl. New York 2004, S. XXVI.