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Ausgabe 2, Band 13 – August 2024

Gleichheit ohne politische Gemeinschaft?


Rezension: Omri Boehm, Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität, Berlin: Propyläen 2022, 176 S., 22,00 EUR.


Der menschenrechtliche Universalismus – eine rassistische Ideologie?


In seinem vielbeachteten Buch „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“ veranschaulicht Omri Boehm sein Anliegen mit einer erhellenden Anekdote. Er erzählt, dass er seine Seminare über Immanuel Kant an der New School for Social Research in New York seit Jahren mit dem berühmten Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 eröffne. Im englischen Original – und diese Formulierung wird noch eine Rolle spielen – lautet er:


We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain inalienable Rights; that among them there are Life, Liberty and the pursuit of Happiness (Declaration 1776).1


In didaktischer Absicht frage er seine Studierenden dann stets, wer diesem Satz zustimme. Über Jahre hinweg seien daraufhin quasi automatisch alle Hände hoch gegangen, und er hatte die Gelegenheit, die Teilnehmer seiner Lehrveranstaltung aufzufordern, ihr Bekenntnis zum Universalismus doch bitte zu begründen. Berufen sie sich auf religiösen Glauben, auf wissenschaftliche Erkenntnisse, oder verbirgt sich hinter ihrer Zustimmung doch nichts weiter als Konformismus? Neuerdings jedoch funktioniere der jahrelang bewährte Einstieg in eine Diskussion über die Begründbarkeit rechtlicher und politscher Gleichheit nicht mehr. Und zwar, weil niemand mehr die Hand hebe. Wie Boehm berichtet, erodierte die Unterstützung für den zweiten Satz der Unabhängigkeitserklärung keineswegs allmählich, in einem längeren Prozess, sondern endete „praktisch von einem Moment auf den andern“ (Boehm 2022a: 54). Die reflexhafte Zustimmung zur Gleichheitsnorm sei ersetzt worden durch einen neuen Konformismus, durch die Überzeugung, der Universalismus der Aufklärung sei „eine verlogene Ideologie“, oder, schlimmer noch, „ein rassistisches Instrument, das die Europäer einsetzen, um zu kolonisieren, auszubeuten und zu versklaven“ (Boehm 2022: 37).

Boehm sieht in dem durch die Anekdote veranschaulichten Wandel keine auf Philosophieseminare beschränkte intellektuelle Mode, sondern den Ausdruck einer tiefen Krise der geistigen und moralischen Grundlagen der liberalen Demokratie. Was in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts mit den durch Heidegger inspirierten postmodernen Machttheorien an französischen Universitäten begonnen habe, die Dekonstruktion des Projekts der Aufklärung, sei mittlerweile weit in die Politik vorgedrungen und habe dazu geführt, dass rechte wie linke Kräfte konkrete Identitäten an die Stelle des abstrakten menschenrechtlichen Universalismus setzten.


Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, so kämpft die Linke im Namen von Gender und Race. Der universelle Humanismus gilt keiner der beiden Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren und zu verändern. Er wird vielmehr als die Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten (Boehm 2022: 12f.).


Boehms Zorn gilt nun jedoch nicht nur den Identitätspolitikern von links und rechts, sondern fast mehr noch den gemäßigten Liberalen und den vom amerikanischen Pragmatismus geprägten Verteidigern der Demokratie. Autoren wie Richard Rorty oder Mark Lilla verteidigten liberale Werte im Namen eines patriotischen „Wir-Liberalismus“ oder hielten, wie die auch hierzulande bekannte Historikerin Jill Lepore, die rechtliche und politische Gleichheit der Menschen für eine „sehr gute Idee“, an der die amerikanische Nation „festhalten“ sollte (Boehm 2022: 15).2 Nichts könnte für Boehm drastischer veranschaulichen, wie fadenscheinig der Universalismus der Aufklärung mittlerweile geworden ist, als die weit verbreitete Blindheit für den Unterschied zwischen einer „sehr guten Idee“ und der „selbstverständlichen Wahrheit über die Gleichheit der Menschen“ (Boehm 2022: 16). Demgegenüber will Boehm zurück zu Kant und mit ihm zeigen, dass die abstrakte menschenrechtliche Gleichheit  eine allgemeingültige, philosophisch begründbare Wahrheit und keine kulturspezifische Setzung ist. Nur wenn dies der Fall sei, wenn also die menschliche Gleichheit den Status einer von Konventionen unabhängigen Wahrheit beanspruchen könne, sei sie nicht relativ zu den Interessen, Wünschen und „guten Ideen“ derjenigen, die über Macht verfügen. Nur eine solche, absolut und universell gültige Wahrheit könne eine Autorität beanspruchen, die über die Legitimität möglicherweise ungerechter menschlicher Vereinbarungen hinaus reiche. Und nur wenn es eine solche Wahrheit gebe, gebe es auch eine absolute Pflicht, sie unabhängig von Machtverhältnissen und Mehrheitsmeinungen zu respektieren (vgl. Boehm 2022: 17).

Im Folgenden werde ich die Argumentation Boehms und die von ihm daraus abgeleitete Kritik am zeitgenössischen Liberalismus rekonstruieren. In einem Vergleich seiner Interpretation der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit der von Hannah Arendt möchte ich dann zeigen, dass Boehm die in diesem Text proklamierte rechtliche und politische Gleichheit aller Menschen nur als objektiv gültige Wahrheit behaupten kann, indem er ihn grob verfälschend entpolitisiert, bzw. die im Text angesprochene Abhängigkeit dieser Norm von Verständigung und Konsens innerhalb einer bestimmten Gruppe von Menschen schlicht unterschlägt. Schließlich sollen Arendts Ausführungen zum zivilen Ungehorsam, auf die sich Boehm beruft, veranschaulichen, wie sehr sich eine Position, die auf objektiven moralischen Wahrheiten beharrt, um aus ihnen ein unbedingtes Widerstandsrecht abzuleiten, in ihren Konsequenzen von Arendts politischer Konzeption des zivilen Ungehorsams unterscheidet.


Boehms Kantinterpretation


Es gehört zweifellos Mut dazu, in einer Zeit, in der die geisteswissenschaftlichen Fachbereiche der Universitäten vom Konstruktivismus beherrscht werden, auf der Existenz absolut gültiger Wahrheiten zu bestehen. Aber kann Boehm sie auch begründen?

Der für sein Vorhaben zentrale Philosoph ist Immanuel Kant. Boehm meint darüber hinaus, eine prinzipielle menschenrechtliche Gleichheit lasse sich auch aus dem Monotheismus des Alten Testaments begründen. Denn dessen Kern sieht Boehm, im Gegensatz zu Sigmund Freud und neuerdings auch Jan Assmann3, nicht in Autoritarismus und Intoleranz gegenüber konkurrierenden Göttern, sondern darin, dass Gott selbst Gerechtigkeitsnormen unterworfen werde. So jedenfalls lautet seine auf den sephardischen mittelalterlichen Philosophen Maimonides gestützte Interpretation der Hiobsgeschichte und insbesondere der Person Abrahams. Wenn dieser gegen seinen Gott, der ihm die Zerstörung Sodoms ankündigt, einwendet, „willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?“4, so mache er selbst Gott gegenüber ein höheres Gesetz der Gerechtigkeit geltend (Boehm 2022: 144f.). Ähnlich interpretiert Boehm auch in einer Diskussion verschiedener Fassungen des Alten Testaments die Geschichte der nicht vollzogenen Opferung Isaacs durch Abraham als Ausdruck eines ethisch begründeten Ungehorsams gegenüber Gott (Boehm 2022: 125-146).

Auf diese theologische Argumentation werde ich im Folgenden nicht eingehen, sondern mich auf Boehms Interpretation der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung im Sinne Kants konzentrieren.

Boehm zufolge hatte Kant begriffen, dass die ihm vorausgegangene Aufklärung die „gefährlichste Feindin des Universalismus“ geworden war, und zwar deshalb, weil sie die Menschen positivistisch auf blinde Natur reduziere und ihr Utilitarismus sie zu Objekten „nicht der Würde, sondern der Beherrschung und des Besitzes, der Ausbeutung und Versklavung“ mache (Boehm 2022: 16). Demgegenüber soll Kant an einer metaphysischen, von jeder Beimengung biologischer, historischer oder soziologischer Tatsachen freien Menschheitsidee festgehalten und diese ursprünglich biblische Idee ins säkulare Denken übersetzt haben (Boehm 2022: 16).

Entscheidend für diese Operation sei der Begriff der Würde im Denken Kants. Menschen haben, wie Boehm mit Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ argumentiert (Kant 1968), nicht nur einen Wert, sondern verfügen vielmehr über eine Würde, die in keinem relativen Wert oder Preis auszudrücken ist. Diese Würde wiederum gründet nach Kant in unserer Freiheit. Und frei sind Menschen „weil nicht nur Ursachen, sondern auch Gründe und Rechtfertigungen ihr Verhalten bestimmen können“ (Boehm 2022: 50), wir also in der Lage sind, zwischen Sein und Sollen zu unterscheiden. Weil Menschen im Unterschied zu bloßen Naturgeschöpfen frei sind, moralische Zwecke zu verfolgen, sollten sie nach Kant auch selbst kategorisch als Zwecke und niemals als bloße Mittel behandelt werden (Boehm 2022: 50). Kants Argument zeigt nach Boehm,


dass Würde, Abstraktion, Universalismus und Autorität untrennbar miteinander verbunden sind. Würde hängt von Freiheit ab, die das Vermögen ist, nicht durch konkrete Tatsachen bestimmt zu sein. Sie kann deshalb nur abstrakt sein. Da sie abstrakt ist, ist ihr Geltungsbereich universell und schließt alle ein. Aus demselben Grund ist sie auch kategorisch, d.h. von universeller Autorität: kein Umstand kann sie je überlagern oder untergraben (Boehm 2022: 52).


Nach Boehm ist die allen Menschen gleichermaßen zukommende Menschenwürde also notwendigerweise abstrakt. Sie kann in dieser universellen Gültigkeit überhaupt nur unter Absehung aller gesellschaftlichen, kulturellen oder sexuellen Besonderheiten bestimmt werden. Zugleich jedoch entzieht ein solcher Begriff der Menschenwürde jeder gesellschaftlichen Institution ihre Legitimität, die Menschen, sei es im Namen von Wohlstand, Ordnung, Frieden oder demokratischem Konsens, auf bloße Mittel reduziert. Genau dies jedoch geschieht paradigmatisch durch die Institution der Sklaverei, die darauf beruht, Menschen auf bloße Mittel zu reduzieren (Boehm 2022: 51).


Boehms Kantianisierung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung


Mit dieser starken, auf Kants Begriff der Menschenwürde rekurrierenden Begründung der Gleichheit kehrt Boehm in seinem Buch dann zurück zu Jeffersons Formulierung der Unabhängigkeitserklärung. Er interpretiert diese im Sinne Kants und kritisiert dann die amerikanische Geschichte als eine Geschichte des Verrats am ursprünglichen Bekenntnis zur universellen Gültigkeit menschlicher Gleichheit. Dazu formuliert er in einem ersten Schritt den bereits zitierten, im englischen Original mit den Worten „We hold these truths to be self-evident…“ beginnenden Satz5 als Syllogismus um. Er lautet dann:


a. Alle Menschen sind gleich geschaffen;

b. Regierungen werden eingerichtet, um ihre gleichen Rechte zu sichern; ergo

c. wenn irgendeine Regierung diese Rechte untergräbt, folgt daraus das Recht, das Gesetz abzuschaffen und sich zu erheben (Boehm 2022: 57).


Man erinnert sich vielleicht an den klassischen, in keiner gymnasialen Philosophie-AG fehlenden Syllogismus. Er lautet


a. Alle Menschen sind sterblich.

b. Sokrates ist ein Mensch. Ergo

c. Sokrates ist sterblich.


Aus dem ersten und zweiten Satz, bzw. aus Ober- und Untersatz folgt mit logisch zwingender Notwendigkeit die Schlussfolgerung. Um diese deduktive Notwendigkeit, nicht um eine lehrreiche Spielerei im Philosophieseminar geht es Boehm ganz offensichtlich, wenn er Jeffersons vielzitierten Satz als Syllogismus umformuliert. Er meint, damit ein logisch zwingendes Argument zu gewinnen für das Recht auf Revolution gegen jede Regierung, die durch ihr Handeln die gleichen Rechte der Menschen verletzt.

Von dieser Grundlage aus kann er dann auch argumentativ zwingend in zwei entgegengesetzte Richtungen vorgehen. Zum einen gegen zeitgenössische postkoloniale Stimmen, zum anderen gegen den gemäßigten Liberalismus und seine Vorläufer in der US-amerikanischen Geschichte. Gegen die ersten glaubt Boehm demonstrieren zu können, dass der abstrakte Universalismus keinesfalls die ideologische Grundlage des europäischen Rassismus bilde. Ganz im Gegenteil und ungeachtet einzelner despektierlicher Äußerungen Kants zu „primitiven“ Völkern, bliebe es


ohne die abstrakte Idee vom Menschen völlig unklar (…), was am Rassismus überhaupt falsch sein soll. Sobald konkrete Tatsachen über Menschen an die Stelle von Kants Abstraktion treten, ist die empfindliche Grundlage der absoluten Würde bedroht (Boehm 2022: 62).


Die immer wieder von einzelnen Emanzipationsbewegungen angeprangerte Abstraktion im Kern der liberalen Gleichheitsnorm ist so gesehen also nicht ihr Problem, das durch die Anerkennung konkreter Verschiedenheiten zu beheben wäre oder gar das Einfallstor der Herrschaft weißer Männer, sondern die Lösung, bzw. die Voraussetzung für eine konsequent gegen jede Form von Diskriminierung und Willkürherrschaft gerichtete Politik.

Zum zweiten kann Boehm nun an die in weiten Teilen des Buches dargestellten Auseinandersetzungen über die Sklaverei und die Bürgerrechtsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert einen Maßstab anlegen, der es ihm ermöglicht, die Handlungen und Äußerungen wichtiger Protagonisten einzuordnen und moralisch zu beurteilen.

Boehm gelingt es dabei unter Hinzuziehung historischer Quellen zunächst einmal plausibel darzustellen, dass Thomas Jefferson und seine Zeitgenossen mit der Formulierung der Unabhängigkeitserklärung, „that all men are created equal“, tatsächlich alle Menschen meinten, und keineswegs nur weiße Männer. Jedenfalls bezeichneten Verteidiger der Sklaverei in den Südstaaten die Unabhängigkeitserklärung wegen dieser Formulierung als „gefährlichsten politischen Fehler“ oder schlicht als „Lüge“ (vgl. Boehm 2022: 58f.).

Die Helden in Boehms Darstellung der amerikanischen Geschichte sind dann Männer wie John Brown und Martin Luther King. Der erstgenannte dürfte im Gegensatz zu King im deutschsprachigen Raum wenig bekannt sein. John Brown, ein weißer Gegner der Sklaverei, überfiel im Jahr 1859 ein Waffenarsenal des amerikanischen Heeres in Harper´s Ferry. Er und seine überwiegend aus Weißen zusammengesetzte Gruppe wollten Tausende von Gewehren erbeuten, sie an Sklaven in den Südstaaten verteilen und damit einen Befreiungskrieg auslösen. Die Aktion scheiterte jedoch, und Brown wurde wegen Hochverrats verurteilt und hingerichtet – was die Zustimmung von Abraham Lincoln und anderer gemäßigter Gegner der Sklaverei fand. Lincoln wollte vor dem amerikanischen Sezessionskrieg den Kampf gegen die Sklaverei im Rahmen der Gesetze und unter Wahrung der nationalen Einheit führen. Nach Boehm stellten er und andere sog. „Unionisten“ damit Gesetz und Verfassung über die metaphysisch begründete Wahrheit von der Gleichheit der Menschen, Brown tat das Gegenteil. Er beharrte auf der bedingungslosen Geltung und dem unbedingten Vorrang der Wahrheit über die von Menschen gemachten Gesetze und Vereinbarungen und damit, aus der Sicht Boehms, auch auf dem Vorrang der Unabhängigkeitserklärung gegenüber der Verfassung (vgl. Boehm 2022: 26ff.).

Eine ähnliche Entscheidung gegen das Gesetz und für die Gerechtigkeit sieht Boehm auch im Handeln von Martin Luther King, ungeachtet dessen wiederholter Bekenntnisse zur Gewaltlosigkeit. Im Jahr 1963 hatte ein Bezirksgericht in Alabama einen in Birmingham geplanten Protestmarsch gegen die Rassensegregation untersagt. King setzte sich über dieses Verbot hinweg, führte den geplanten Marsch an und wurde festgenommen. Eine Gruppe weißer Geistlicher kritisierte sein Vorgehen in einem offenen Brief unter der Überschrift „A Call for Unity“. Sie formulierten zwar Verständnis für die Ziele der Bürgerrechtsbewegung, warfen King aber vor, Gesetz und Gerichte zu missachten und damit den Frieden zu gefährden.6

King antwortete darauf in seinem berühmt gewordenen „Brief aus dem Gefängnis in Birmingham“ (King 2003). Darin formuliert er, das „große Hindernis auf dem Wege des Negers in die Freiheit“ sei nicht der Ku-Klux-Klan, „sondern der gemäßigte Weiße, dem `Ordnung´ mehr bedeutet als Gerechtigkeit“ (King 2003: 73; zitiert nach Boehm 2002: 65). Weiter verteidigt er sich gegen den Vorwurf, einerseits zwar Gesetze und Gerichtsurteile einzuklagen, wenn diese sich gegen die Rassentrennung wenden, andere dagegen bewusst zu verletzen, mit der einfachen Feststellung, „daß es zwei Arten von Gesetzen gibt, gerechte und ungerechte“ (King 2003: 73; zitiert nach Boehm 2002: 66). Und weiter:


Man ist nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch verpflichtet, gerechten Gesetzen zu gehorchen. Umgekehrt ist man moralisch verpflichtet, ungerechten Gesetzen den Gehorsam zu verweigern (King 2003: 73; zitiert nach Boehm 2002: 66).


Für Boehm ist damit klar: Martin Luther King widerspricht der Auffassung gemäßigter Liberaler, wonach demokratische Verfahren legitime Autorität verleihen. „Er unterwirft das Gesetz nicht nur Verfassungen, sondern auch einer metaphysisch verstandenen Gerechtigkeit“ (Boehm 2022: 66). Deshalb könne er in seinem Brief auch mit Augustinus sagen: „Ein ungerechtes Gesetz ist kein Gesetz“ (King 2003: 70; zitiert nach Boehm 2002: 66).


Macht oder Wahrheit?


Boehm interpretiert also die amerikanische Geschichte aus dem Gegensatz zweier Auffassungen über Ursprung und Charakter universalistischer Normen: Gehen sie zurück auf metaphysische Wahrheiten, die unabhängig von Zeitgeist, Interessenkompromissen und Mehrheitsmeinungen zu erkennen sind und absolute Geltung beanspruchen? Oder basieren sie auf der Autorität von Gesetzen, die von Menschen gemacht werden und deshalb von deren Willen, ihren Zwecken und Konventionen abhängen? Diese Auffassungen sieht er jeweils idealtypisch in den beiden Gründungsdokumenten der amerikanischen Demokratie verkörpert: in der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung. Auf die Konstruktion dieses Gegensatzes stützt Boehm auch seine bereits erwähnte, harsche Ablehnung des amerikanischen Pragmatismus und der gemäßigten Liberalen in den politischen Kontroversen der Gegenwart. Autoren wie der einflussreiche Rechtswissenschaftler Oliver Wendell Holmes Jr. und der Philosoph John Dewey, zwei der Gründungsfiguren des amerikanischen Pragmatismus, gingen nach Boehm von der Überzeugung aus, es gäbe keine objektiv gültigen normativen Wahrheiten. An ihre Stelle setzten sie kulturelle Konvention und Interessenkompromisse (vgl. Boehm 2022: 94, 99). Boehm sieht darin eine Parallele zu Nietzsches Machttheorie bzw. der Aussage von Spinoza, dass wir nicht nach etwas „verlangen oder begehren, weil wir es für gut halten, im Gegenteil, wir halten etwas für gut, weil wir (…) es begehren“ (Spinoza, Ethik III, Lehrsatz 9, zitiert nach Boehm 2022: 92). So gesehen sei Moral jedoch eine Sache der Zweckmäßigkeit, sie werde zum Mittel. Inhaltlich reflektiere sie dann letztlich die Perspektive der Stärkeren oder der Sieger, in Demokratien diejenige der Mehrheit.7 Während aus Sicht der amerikanischen Pragmatiker der Anspruch auf die objektive Gültigkeit moralischer Normen einen Schritt hinter die Demokratie in Richtung Barbarei darstellt, führt nach Boehm die Ablehnung letzter und absolut gültiger Wahrheiten unweigerlich zum Konformismus und korrumpiert die Werte der Aufklärung (vgl. Boehm 2022: 89). Ersetze man Moral und höhere Prinzipien der Gerechtigkeit durch demokratische Übereinkunft, sei Ungehorsam gegen menschliche Autoritäten kaum mehr begründbar.

Boehms Kritik an einer instrumentell verstandenen Vernunft, die keine objektiv gültigen Wahrheiten mehr akzeptiert und der deshalb kein Ziel als solches besser ist als ein anderes, erinnert an die Schriften Max Horkheimers und Theodor W. Adornos.8 Anders als diese gewinnt er jedoch durch seine Kantinterpretation den vermeintlich sicheren Boden einer metaphysischen Wahrheit, auf dem es ihm möglich wird, politisch eindeutig Position zu beziehen. Von hier aus kann er sowohl die identitäre Linke und ihren Kult um Differenz und Opferstatus zurückweisen, als auch deren zeitgenössischen Kritikern wie Rorty und Lilla vorwerfen, sie blieben als „Wir-Liberale“ mit ihrem „patriotischen Reformismus“ ebenso der Identitätspolitik verhaftet wie ihre Gegner (vgl. Boehm 2022: 100-110). Denn ihre Forderung an die progressiven politischen Kräfte, sich auf Solidarität und staatsbürgerliche Gemeinsamkeiten zu besinnen, statt die Gesellschaft in viktimisierte Opfergruppen zu zerlegen, sei selbst nur eine Form von Identitätspolitik.


Nachdem die Wahrheit, die die Menschheit verband, ausgemustert wurde, besteht zwischen Wir-Liberalismus und Identitätspolitik keine klare Grenze mehr (Boehm 2022: 111).


Rorty ersetze den abstrakten Universalismus durch nationale Gemeinsamkeiten, für Lilla gebe es „keine liberale Politik ohne ein Wir-Gefühl“, und auch Lepore versuche, den Liberalismus durch ein Plädoyer für die Nation zu retten. Wer jedoch eine politische Debatte mit der Formulierung „Wir Amerikaner“, „Wir Deutsche“ oder „Wir Israelis“ beginne, um sich damit auf gemeinsame Werte zu beziehen, betreibe offensichtlich Identitätspolitik und sei immer in Gefahr, die universellen Werte, die er bemüht, an die Einheit des angerufenen Wir zu verraten (Boehm 2022: 110f.). Boehm erhebt denselben Vorwurf auch gegen John Rawls und dessen politische und explizit nicht metaphysische Begründung von Gerechtigkeit. Während Rawls mit seinem Konzept des überlappenden Konsenses der Demokratie Vorrang vor der Philosophie einräumt, fordert Boehm das Gegenteil: den Vorrang der Philosophie vor der Demokratie (vgl. Boehm 2022: 113f).

Den Vorwurf des Verrats universeller Werte an das politische „Wir“ konkretisiert Boehm über weite Strecken seines Buches in einer Auseinandersetzung mit den gemäßigten Gegnern der Sklaverei im 19. Jahrhundert. Die sogenannten Unionisten hätten im Konfliktfall die Einheit der Nation und den Gehorsam gegenüber bestehenden Gesetzen über die Gültigkeit der Norm menschlicher Gleichheit gestellt und seien deshalb immer wieder zu Zugeständnissen an die Skavenhalter der Südstaaten bereit gewesen. Ein radikaler Universalismus dagegen sehe in der Verwirklichung menschlicher Gleichheit eine moralische Pflicht9 und scheue sich nicht vor revolutionären Konsequenzen. Der aktuelle Liberalismus eines Mark Lilla und anderer Kritiker der Identitätspolitik knüpfe allerdings da gerade nicht an, sondern stehe in der Tradition der Unionisten. Er glaube, dass sich politische Solidarität nur auf ein „universelles demokratisches Wir“ begründen lasse, weshalb Lilla auch programmatisch formuliert „Wir ist, wo alles beginnt“ (Lilla 2017: 120; zitiert nach Boehm 2022: 111). Dem widerspricht Boehm mit der Aussage:


Für wahre Universalisten“ sollte das „Wir“ nie der Beginn von Politik sein; es kann lediglich ihr niemals endgültiges Resultat sein. (Boehm 2022: 111).10


Metaphysik statt Einigung und Versprechen?


Die letzte Forderung Boehms wirft nun allerdings die Frage auf, wie sie sich zu dem von ihm so sehr ins Zentrum seiner Argumentation gestellten und im Sinne Kants interpretierten Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verhält. Denn bekanntlich lautet der im Original „We hold these truths to be self-evident…“. Das heißt er tut exakt das, was Politik laut Boehm nicht tun sollte, er beginnt mit einem „Wir“! Hält Boehm dieses „Wir“ für verzichtbar? Seine Umformulierung der inhaltlichen Aussage des Satzes als Syllogismus kommt tatsächlich ohne ein Subjekt aus. Könnte es sein, dass Boehm damit ein Problem gelöst hat, an dem sich andere Denker schon vor ihm versucht haben? Denn Boehm ist ja nicht der erste, der sich am „Wir“ in der Verkündung menschlicher Gleichheit stört. Jacques Derrida argumentiert in seinem berühmten Aufsatz über Unabhängigkeitserklärungen, revolutionäre Gründungsakte ließen im Dunkeln, ob sie die Unabhängigkeit lediglich feststellten, oder durch die Erklärung allererst erzeugten. Durch diese Verwischung des Unterschieds zwischen einer lediglich konstatierenden und einer performativen, also erst durch den Sprechakt selbst wirklich werdenden Sprachhandlung (wie etwa „ich verspreche“), versuchten sie die Frage nach der Legitimität der Sprechenden, bzw. der das Gründungsdokument Unterzeichnenden zu vermeiden. Das „Wir“ der Unabhängigkeitserklärung spreche im Namen des Volkes, aber dieses Volk existiere als solches gar nicht, bevor die Erklärung verkündet und unterzeichnet wurde. Weil dies so sei, handle es sich beim Akt einer solchen Erklärung um einen Gewaltstreich, der Recht und Gesetz erst begründe (vgl. Derrida 1986). Während Derrida mit seiner Dekonstruktion von Unabhängigkeitserklärungen und Gründungsdokumenten den Gewaltkern jedes politischen Systems freilegen möchte und damit, gewollt oder ungewollt, den Unterschied zwischen rechtsstaatlichen Demokratien und anderen Herrschaftsformen verwischt, will Boehm mit seiner Vermeidung des „Wir“ das genaue Gegenteil: ihm geht es darum, den Akt der Gründung auf die Feststellung einer objektiven Wahrheit zu reduzieren, einer Wahrheit, die unabhängig von jedem bestimmten menschlichen Subjekt Gültigkeit beanspruchen und der Politik von außen auferlegt werden kann.11 Allgemeiner gesprochen: Boehm will zur Rettung der Norm menschlicher Gleichheit zurück zur Metaphysik und ihren Gewissheiten. Während also Derrida und andere Dekonstruktivisten zeigen möchten, dass grundsätzlich alles kontingent, politisch gestaltbar und damit ein Ausdruck von Machtverhältnissen ist, verfolgt Boehm das antipolitische Ziel, den Vorrang der Philosophie bzw. einer philosophisch begründeten Moral gegenüber der Demokratie wiederherzustellen.12

Schauen wir die Formulierung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung genauer an, kann dieses Vorhaben allerdings nicht überzeugen. Und zwar nicht nur, weil der Satz nun einmal, für jeden nachlesbar, mit einem „Wir“, also diesem von Boehm gern zum Verschwinden gebrachten Kollektivsubjekt beginnt. Er hat darüber hinaus im Gegensatz zu Boehms Syllogismus auch ein Prädikat. Im englischen Originaltext lautet es „hold“, in der offiziellen deutschen Übersetzung „erachten“. Es bezeichnet also eine Meinungsäußerung. Im vollständigen Satz, „we hold these truths to be self-evident …“ entsteht so eine Ungereimtheit, auf die bereits Hannah Arendt aufmerksam machte. Jeffersons Worte kombinierten auf seltsame Weise eine „Übereinstimmung, - die als solche, weil auf die Übereinstimmenden bezogen, notwendig relativ ist – mit einem Absoluten“, nämlich einer evidenten Wahrheit, die als solche ja gerade keiner Übereinstimmung bedürfe (Arendt 1974: 248).


Man hatte sich also, gerade was die Grundwahrheiten der Revolution betraf, auf etwas Absolutes geeinigt, was absurd ist. In Wahrheit hatte man natürlich Sätze, die keineswegs zwingend evident sind, und Meinungen, auf die man sich in der Tat einigen muß, weil sie nichts Axiomatisches an sich haben, verabsolutiert (Arendt 1974: 248).


Dies ist nun doch etwas gänzlich anderes als die simple Feststellung einer evidenten Wahrheit und ganz gewiss kein zwingender Schluss wie im Syllogismus Boehms. Sich zu einigen und das, worauf man sich geeinigt hat, zu verabsolutieren sind Handlungen, die handelnder Subjekte bedürfen. Boehm könnte hier einwenden, dass Jefferson und seinen Mitunterzeichnern diese Ungereimtheit nur unterlief, weil sie die Texte Kants nicht gründlich genug studiert und deshalb, anders als er, nicht in der Lage waren, die prinzipielle Gleichheit aller Menschen aus ihrer moralischen Freiheit zwingend abzuleiten, ohne eine sich darauf einigende Gruppe von Menschen bemühen zu müssen. Wie allerdings Arendt in ihrer Interpretation überzeugend ausführt, sei Jefferson durchaus bewusst gewesen, dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts meinte, der Zwangscharakter der Wahrheit, den man an mathematischen Sätzen ablas, müsste für alle gelten. Selbst Gott könne nicht umhin, anzuerkennen, dass ein Dreieck notwendigerweise drei Winkel haben muss (vgl. Arendt 1974: 249). Jefferson, meint Arendt, habe jedoch gespürt, dass die Gleichsetzung mathematischer Gesetze mit denen einer politischen Gemeinschaft ein Trugschluss sei, „der sich daraus ergab, daß man die gesetzgebende Tätigkeit der menschlichen Vernunft mit dem für den Verstand zwingenden Evidenzcharakter axiomatischer Sätze verwechselte“ (Arendt 1974: 249). Während aber letzteren eine Unwiderstehlichkeit eigne, die selbst despotischer Macht überlegen und auf unsere Zustimmung überhaupt nicht angewiesen sei, dürfte Jefferson oft genug erfahren haben, dass der Satz „Alle Menschen sind gleich geschaffen“ keineswegs die gleiche zwingende Evidenz wie „Zwei mal zwei ist vier“ besitze13, „daß er vielmehr von der tätigen Einsicht menschlicher Vernunft abhängt, daß er der Diskussion offensteht und also der Einigung bedarf.“ (Arendt 1974: 250).

Die Autorität der in der Unabhängigkeitserklärung verkündeten Wahrheit ist demnach keineswegs zwingend im Sinne einer mathematischen Formel, sondern gilt nur für diejenigen, die diese Wahrheit sehen wollen und sich untereinander auf ihre Gültigkeit verständigen. Ihre Autorität bedarf einer Einigung. Genau deshalb benötigt die Grundnorm menschlicher Gleichheit, anders als logisch zwingende Vernunftwahrheiten, Institutionen und Gesetze, die sie einerseits gegen Widerstand durchsetzen können, andererseits aber auch die erwähnten Diskussionen über ihre angemessene Realisierung ermöglichen.

Kurz, es braucht ein politisches Gemeinwesen, ein „Wir“, das sich auf diese „Wahrheit“ verpflichtet, bzw. sich erst durch diese Selbstverpflichtung als Gemeinwesen konstituiert und sich eine institutionelle Ordnung gibt, in deren Rahmen die Norm rechtlicher und politischer Gleichheit verwirklicht werden kann.

So gesehen verliert der von Boehm aufgemachte Gegensatz zwischen dem Geltungsanspruch der Gleichheitsnorm der Unabhängigkeitserklärung einerseits und den von ihm so geschmähten gemäßigten Linken und Liberalen, denen es wie Rorty, Rawls und Lilla auch um die Verteidigung der Verfassung und der demokratischen Institutionen des Nationalstaats geht, doch einiges von seiner Schärfe. Mit Arendt betrachtet ist das Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen im Kern schon ein politisches Projekt. Als individuell zu leistende und das Individuum dann moralisch verpflichtende Erkenntnis einer metaphysischen Wahrheit wäre der Gründungsakt ihr zufolge jedenfalls falsch verstanden. Wenn sie schreibt, der Satz „Alle Menschen sind gleich geschaffen“ stehe der Diskussion offen, impliziert dies auch, dass die Realisierung der Gleichheitsnorm im konkreten Fall umstritten sein kann. Boehms Fall der Sklaverei, die tatsächlich in krassem Gegensatz zur Gleichheitsnorm steht, suggeriert eine vorpolitisch gegebene Klarheit, die in vielen zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Rassismus und Sexismus, um Ausbeutung und Diskriminierung nicht gegeben ist. Der Rekurs auf die historischen Gemeinsamkeiten einer Nation, den Boehm gemäßigten „Wir-Liberalen“ vorwirft, sei es im konkreten Fall nun die Verfassung der Vereinigten Staaten, sei es das auf die Barbarei der Nazizeit reagierende Grundgesetz, ist vor diesem Hintergrund weniger das Indiz einer tendenziell korrumpierenden Identitätspolitik, als zum einen die immer wieder erforderlich werdende, wechselseitige Verpflichtung auf die gemeinsamen Grundnormen, zum anderen aber auch der Versuch, universell gültige, abstrakte Normen auf je verschiedene historische Konstellationen zu beziehen und für ihre meist umstrittenen spezifischen Interpretationen politische Unterstützung zu generieren. Festzuhalten ist allerdings, dass das „Wir“ der Unabhängigkeitserklärung durch kein Attribut genauer bestimmt ist (weiß oder wohlhabend, angelsächsisch oder männlich), es also konstituiert und begrenzt ist nur durch die Anerkennung der Wahrheit menschlicher Gleichheit.


Ziviler Ungehorsam – moralisch oder politisch?


Die grundlegende Differenz zwischen Omri Boehm und Hannah Arendt wird besonders deutlich, wenn es um die Legitimation von Widerstandshandlungen oder zivilem Ungehorsam geht. Sowohl in seinem Buch als auch im Spiegelinterview erweckt Boehm den Eindruck, er berufe sich auf Hannah Arendt. Jedenfalls zitiert er sie mehrfach zustimmend mit dem Satz „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ (Boehm 2022a: 55; Boehm 2022: 120). Der Satz lautet bei Arendt wörtlich „Keiner hat bei Kant das Recht zu gehorchen“, stammt aus dem berühmten Interview mit Joachim Fest aus dem Jahr 1964 und bezieht sich auf Adolf Eichmanns Inanspruchnahme des kategorischen Imperativs zur Rechtfertigung seiner Taten (vgl. Ludz 2018). Anders als Boehm will Arendt mit ihrer Bemerkung zu Eichmanns fehlendem Recht auf Gehorsam jedoch nicht dessen moralische Verpflichtung auf eine absolute, metaphysische Wahrheit in Erinnerung rufen. Ihre Kritik an Eichmann gipfelt in der Feststellung seiner nahezu totalen Unfähigkeit, „jemals eine Sache vom Gesichtspunkt eines anderen zu sehen“ (Arendt 1990: 129), wie generell ihre Auseinandersetzung mit Eichmann sich mehr um den Verlust seiner Urteilsfähigkeit dreht als um seine – aus Arendts Sicht nicht unbedingt gegebene – Gewissenlosigkeit.

Ein kurzer Blick auf Arendts Konzeption des zivilen Ungehorsams macht deutlich, dass Boehms Inanspruchnahme Arendts mehr als problematisch ist und der Bezug auf moralische Normen im politischen Raum zwischen den beiden Autoren kaum unterschiedlicher sein könnte. Denn wie immer wir es bewerten wollen – Arendt entwickelt eine eigene, politische Theorie des zivilen Ungehorsams, die sich dezidiert gegen die westliche Tradition individueller Gewissensentscheidungen im Namen einer höheren, dem politischen Raum vorausgesetzten Moral wendet. Gegen eine Tradition also, die Boehm nicht nur mit Kants Metaphysik, sondern auch mit seiner Interpretation Abrahams und der alttestamentarischen Propheten wiederbeleben möchte.

Mit ihrem Essay „Ziviler Ungehorsam“ interveniert Arendt 1970 in die öffentlichen Debatten um die Aktionen der amerikanischen Gegner des Vietnamkriegs.14 Explizit kritisiert sie deren in der Öffentlichkeit weit verbreitete Rechtfertigung, wonach es sich dabei um Verstöße gegen das Gesetz im Namen eines höheren innerweltlichen oder transzendenten Gesetzes handle. Diese Art der Berufung auf moralische Imperative, die dem Bereich des Politischen vorausgesetzt sind, lässt sie lediglich für Akte individuellen Ungehorsams gelten – etwa der Kriegsdienstverweigerung –, nicht jedoch für Aktionen einer Gruppe, die durch gemeinsame Meinungen zu einer umstrittenen Frage zusammengehalten wird. Nach Arendt müssen wir deshalb zwischen individuellen Akten der Verweigerung aus Gewissensgründen und zivilem Ungehorsam unterscheiden (vgl. dazu Arendt 1989: 122f.). Zweifellos wären die Aktionen der Abolitionisten und der Bürgerrechtsbewegung, auf die sich Boehm bezieht, ganz überwiegend der zweiten Kategorie zuzuordnen. Für Arendt stellt diese geradezu ein Paradebeispiel politischen Handelns dar, basieren die Aktionen zivilen Ungehorsams doch zum einen auf der gemeinsamen Meinung einer Gruppe, an der die Handelnden festhalten, auch wenn sie davon ausgehen können, dass die Mehrheit sie nicht unterstützt. Zum zweiten wenden sie sich mit ihren Aktionen an diese Mehrheit, in der Hoffnung, diese für ihre Sicht auf die umstrittene Frage oder die vermeintliche Ungerechtigkeit zu gewinnen. Auch wenn die Teilnehmer selbst sich bei ihren widerrechtlichen Handlungen auf ihr individuelles Gewissen beziehen und von diesem motiviert sind, ändere sich dies, sobald sie an die Öffentlichkeit gehen.


Auf dem Forum der Öffentlichkeit werden die Stimmen des Gewissens und die Weisheit des Philosophen von einem ganz ähnlichen Schicksal ereilt: Aus ihnen werden Meinungen …. Und die Macht einer Meinung ist nicht vom Gewissen, sondern von der Zahl derer abhängig, die sie teilen (Arendt 1989: 131f.).


Arendt zeigt wenig Sympathie für die Selbstbezüglichkeit von Gewissensentscheidungen und geht in diesem Zusammenhang auch auf den von Boehm als positives Beispiel eines radikalen Universalisten angeführten Henry David Thoreau ein, der sich geweigert hatte, Steuern an einen Staat zu zahlen, der Sklaverei duldet. Thoreau sei es mit seiner Gewissensentscheidung ausdrücklich nur um sich und seine persönliche Integrität gegangen, nicht um die tatsächliche Veränderung der Welt (vgl. Arendt 1989: 125).15 Arendt hält es dagegen eher mit Lincolns Sorge um den Erhalt der Union, auch beim Kampf gegen die Sklaverei und, noch provozierender, mit Machiavellis Aussage, seine Heimatstadt sei ihm teurer als die eigene Seele (Arendt 1989: 126). Ein „fiat iustitia et pereat mundus“ jedenfalls war nicht die Sache Hannah Arendts.


Fazit: Moral statt Politik?


Boehm gelingt es auf eindrucksvolle Weise zu zeigen, dass die liberalen Demokratien der Neuzeit auf der Anerkennung universell gültiger menschlicher Gleichheit beruhen. In seinen Ausführungen zu Kants Begriff der Menschenwürde argumentiert er zudem schlüssig und überzeugend, dass die Norm rechtlicher und politischer Gleichheit aller Menschen notwendigerweise die Abstraktion von ihren jeweiligen Besonderheiten voraussetzt. Denn die Menschenwürde, die diese Gleichheit begründet, kann universelle Gültigkeit nur beanspruchen, indem sie von allen sozialen, kulturellen und sexuellen Besonderheiten absieht. Wie der Rekurs auf Arendt zeigen sollte, ist jedoch auch eine noch so überzeugende Begründung der fundamentalen Gleichheitsnorm keineswegs zwingend im Sinne logischer oder mathematischer Sätze. Ihre Gültigkeit bedarf der Anerkennung durch eine je besondere Gruppe von Menschen, die sich wechselseitig darauf verpflichten, diese Norm zu respektieren und zugleich Institutionen schaffen, die diese Norm schützen und geeignet sind, die unvermeidlichen Differenzen über ihre angemessene Verwirklichung politisch auszutragen. Deshalb lassen sich universell gültige Menschenrechte auch nicht außerhalb politischer Gemeinschaften und ihrer Verfassungen schützen und verwirklichen. Niemand wusste das besser als Hannah Arendt. Auch ein Blick in bestehende liberale Verfassungen, und dies gilt in besonderem Maß für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland16, zeigt, dass sie den Versuch darstellen, die politische Willensbildung einer besonderen politischen Gemeinschaft mit der Garantie universell gültiger Rechte zu vermitteln.

Omri Boehm hat Recht, wenn er argumentiert, dass eine Politik, die in letzter Instanz partikularen Identitäten verpflichtet ist, ihren moralischen Kompass verliert und zum bloßen Machtkampf verkommt. Seine einseitige Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Universalismus und Partikularismus, seine Forderung nach einem Vorrang der Metaphysik vor der Verfassung, der Wahrheit vor dem Konsens und der Philosophie vor der Demokratie läuft jedoch Gefahr, unser Zusammenleben zu entpolitisieren und Pluralität durch die Autorität moralischer, von wem auch immer genauer bestimmter Normen zu ersetzen.


Literatur


Arendt, Hannah, 1974: Über die Revolution, München.

Arendt, Hannah, 1989: Ziviler Ungehorsam. In: Zur Zeit. Politische Essays, München, 119-160.

Assmann, Jan, 2003: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien.

Boehm, Omri, 2022: Radikaler Universalismus. Gegen Identität, Berlin.

Boehm, Omri, 2022a: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“. Interview. In: Der Spiegel Nr. 44, 29.10.2022, 54-58.

Declaration of Independence, 1776, https://www.archives.gov/founding-docs/declaration-transcript (4.12.2023)

Derrida, Jacques, 1986: Declarations of Independence. In: New Political Science 15, N0. 7: 7-15.

Heuer, Wolfgang/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt Handbuch, Berlin 2022.

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W., 1969: Zur Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M.

Horkheimer, Max, 1974: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M.

Kant, Immanuel, 1968: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. von Paul Menzer, Werke, Bd. 4, Berlin 1968.

King, Martin Luther, 2003: Die Zeit für schöpferische Proteste ist gekommen. Brief aus dem Gefängnis in Birmingham. In: Ders.: Ich habe einen Traum, hrsg. Von Hans-Eckard Bahr/Heinrich W. Grosse, Düsseldorf, 62-87.

Lepore, Jill, 2020: Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation, München.

Lilla, Mark, 2017: The Once and Future Liberal. After Identity Politics, New York.

Ludz, Ursula, 2018: Ein lesenswertes Buch. Zu Florian Salzberger, »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen«: Hannah Arendts Philosophie des Umgangs im Anschluss an die Narrativitätskon­zeption ihres Spätwerkes. Freibur­g-München. In: HannahArendt.net 9, H.1. https://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/412/622.

Platon, 1923: Der Staat. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Leipzig.

Rorty, Richard, 1999: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt/M.

Winfried Thaa

Prof. i.R. für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier

1Die deutsche Übersetzung im Buch Boehms lautet vollständig: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint (Boehm 2022:35).

2Boehm bezieht sich insbesondere auf Rorty 1999, Lilla 2017 und Lepore 2020.

3Boehm bezieht sich auf Assmann 2003.

4Boehm bezieht sich auf das 1. Buch Mose 18, 23.

5Zu seiner vollständigen deutschen Übersetzung vgl. Anm. 1.

6Ich folge auch hier der Darstellung Boehms (vgl. Boehm 2022: 63f.).

7 Hier ließ sich auch weit hinter Spinoza und Nietzsche bis zur Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Thrasymachos in Platons Staat zurückgehen. Der Sophist Thrasymachos fasst die machttheoretische Dekonstruktion moralischer Normen in die einfache Aussage „Jede Regierung gibt ihre Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil … woraus denn bei richtiger Schlußfolgerung sich ergibt, daß überall das Nämliche gerecht ist: der Vorteil des Stärkeren“ (Platon 1923: 20).

8Vgl. insbesondere Horkheimer/Adorno 1969 und Horkheimer 1974. In einer längeren Anmerkung stellt Boehm fest, beide beklagten wiederholt den „instrumentellen“ Wissensbegriff der Aufklärung, versäumten jedoch, Kants Beschränkung des Wissens ernst zu nehmen. Sie blieben blind für den Umstand, dass bereits Kant mit seiner metaphysischen Begründung der Menschenwürde auf die Dialektik der Aufklärung reagiere (vgl. Boehm 2022: 164).

9Zu Boehms Verständnis der Pflicht vgl. etwa Boehm 2022: 14, 22, 70, 154.

10Mit Bezug auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern formuliert Boehm, dass „die Debatten zwischen Zionisten und ihren postkolonialen Kritikern so heftig“ seien, liege „darin, dass sie sich in ihrem Bekenntnis zur Identität so erschreckend ähneln“ (Boehm 2022: 153).

11Genau so formuliert es Boehm auch: „Wenn die Wahrheit die Politik jemals wirklich beeinflusst, dann kann sie dem politischen Bereich nur von außen auferlegt werden“ (Boehm 2022: S.78).



12Boehm fordert dies wiederholt ausdrücklich (vgl. etwa Boehm 2022: 73, 76).



13Genau diese Gewissheit reklamiert Boehm für seine metaphysische Wahrheit. Er benutzt dieselbe Metapher des rechnerischen Zwangs wie Arendt, allerdings mit entgegengesetzter Absicht, nämlich um plausibel zu machen, dass der Politik eine absolute Wahrheit vorausgesetzt werden müsse, da nicht einmal der „mächtigste Tyrann“ oder „die am besten gerechtfertigte Demokratie“ beschließen könnte, „dass zwei mal zwei fünf ist“ (Boehm 2022: 78).

14Ein zusammenfassender Überblick zu diesem Essay und seiner Diskussion findet sich in: Heuer/Rosenmüller 2022: 134-136.

15In einer langen Anmerkung zitiert Arendt zudem einen Autor namens Norman Cousins, der in der damaligen Debatte Leitsätze formulierte, die begründen sollten, wann im Namen der Menschheit positives Recht verletzt werden darf. In ihrem konsequenten Universalismus erinnern diese Leitsätze an die Position Omri Boehms. Einer lautet etwa „Im Konflikt zwischen dem Wohl der Nation und dem Wohl der Menschheit hat das Wohl der Menschheit Vorrang“. Ein anderer „ Wenn es zu einem Konflikt zwischen den Bedürfnissen der jetzigen Generation und den Bedürfnissen der künftigen Generation kommt, dann haben die Bedürfnisse der künftigen Generation Vorrang“. Arendt bemerkt dazu lapidar: „Es fällt mir reichlich schwer, mich von dieser Auffassung eines höheren Gesetzes als einer Reihe von `Grundprinzipien´ überzeugen zu lassen“ (Arendt 1989: 197).

16Zu nennen wäre hier insbesondere der besondere Schutz der Grundrechte in Art. 1-19 GG.