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Ausgabe 1, Band 13 – Dezember 2023

Die Mikrophysik politischen Protests

Über die Zeit- und Räumlichkeit widerständigen Handelns

Marlon Barbehön

Heidelberg

1. Einleitung1

In ihrem Buch Über die Revolution beschreibt Hannah Arendt die Amerikanische und Französische Revolution als Ereignisse, die für die Zeitgenoss*innen mit einer spezifischen politischen Erfahrung verbunden waren. In der Entstehung ungeplant und in der Entwicklung unvorhersehbar, wurde im Verlaufe der Geschehnisse „Handelnden wie Zuschauern gleichermaßen das Neue des Unternehmens und der eigentliche Sinn der Handlung selbst offenbar“ (Arendt 2020, 39): Es handelte sich nicht bloß um eine Revolte, wie sie als Handlungstypus aus vorrevolutionären Zeiten bekannt war, sondern um eine genuin „neue Erfahrung“, und zwar „die Erfahrung der menschlichen Fähigkeit, etwas Neues anfangen zu können“ (Arendt 2020, 47). Zur Wirklichkeit gebracht wurde diese politische Erfahrung nicht zuletzt durch Proteste, d.h. durch das kollektive In-Erscheinung-Treten von Menschen, die (im Falle Frankreichs) „die Straßen und Paris überflutet[en]“, sich einen bis dato unzugänglichen Raum aneigneten und in Abgrenzung zu allem Bestehenden einen Neuanfang setzten (Arendt 2020, 68).2 Mit dieser kollektiven Leistung drang „eine neue Vorstellungswelt in den politischen Bereich“ ein (Arendt 2020, 69), nämlich das Wissen um die Befähigung des Menschen, durch gemeinschaftliches Handeln den Gang der Geschichte grundlegend verändern zu können. Diese in widerständiger Praxis geborene Erfahrung ist seither fester Bestandteil unseres Denkens des Politischen, und sie stellt auch den Bezugspunkt von Arendts Beobachtung der politischen Ereignisse ihrer eigenen Zeit dar, wie etwa der Studierendenproteste der späten 1960er Jahre. Auch wenn sie deren revolutionäre Qualität aus verschiedenen Gründen bezweifelt, sei mit ihnen doch „seit sehr langer Zeit zum ersten Mal eine spontane politische Bewegung entstanden, die nicht nur Propaganda treibt, sondern handelt“ (Arendt 1970a, 108). Gegenüber der „apathischen, schweigenden Generation“ der 1950er Jahre zeige die Studierendenbewegung eine „Entschlossenheit zum Handeln“ und eine „Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können“ (Arendt 1970a, 107).

Während Arendt somit jene Momente, in denen „die Macht auf der Straße liegt“ (Arendt 1970a, 111), als Möglichkeit zur Verwirklichung der menschlichen Handlungsbefähigung würdigt und öffentlichem Protestieren (innerhalb spezifischer Grenzen) eine besondere politische Bedeutung zuzuweisen scheint, ist zugleich auffällig, dass in ihren Texten die Begriffe des Protests und des Widerstands „eher sporadisch auftauchen“ (Vowinckel 2019, 16).3 Dies ist insofern erstaunlich, als politischer Protest im Sinne einer öffentlichen und kollektiven Artikulation von Dissens unübersehbare Parallelen mit Arendts Handlungs- bzw. Politikverständnis aufweist: Proteste sind plötzliche Ereignisse, die mit den politischen Routinen, die aufgrund ihrer Kodifizierung „automatisch und damit voraussagbar verlaufen“ (Arendt 1970b, 35), in Kontrast stehen. Protestereignisse sind, gemessen an der getakteten Wiederholung institutionalisierter politischer Prozesse, „selten“, und ihre originäre Funktion besteht darin, „Alltägliches [zu] unterbrechen“ (Arendt 2002, 54). Auch wenn das Protestieren als Handlungstypus im kollektiven Wissen eingelagert und insofern eine geläufige politische Artikulationsform ist, wird eine gemeinsame Handlung gerade dadurch zum Protest, dass sie „das gemeinhin Übliche“ transzendiert und in den Bereich des „Außerordentliche[n]“ vordringt (Arendt 2002, 260). Es sind diese Gleichklänge zwischen Arendts Handlungsverständnis und dem Phänomen des Protests, die im politiktheoretischen Diskurs (mehr oder weniger explizit) aufgegriffen werden, um das agonistische Moment in Arendts Denken zu betonen (Honig 1993), einen „Republikanismus des Dissenses“ auszubuchstabieren (Thiel/Volk 2016) oder Arendt in die Nähe radikaldemokratischer Perspektiven zu rücken (Marchart 2006).

Von diesen Berührungspunkten ausgehend möchte ich im vorliegenden Beitrag das Phänomen des Protests mithilfe Arendts politischer Anthropologie begreiflich machen. Da jedoch ‚Protest‘ nicht zum Arendt’schen Begriffsregister gehört, kann ich dabei nicht auf eine vorgefertigte Definition zurückgreifen, sondern muss mich der Aufgabe widmen, im Verlaufe der Argumentation sukzessive zu einem mit Arendts Denken kompatiblen Verständnis zu gelangen. Dies soll geschehen durch eine systematische Betrachtung der oben bereits angesprochenen Erfahrung, die nach Arendt mit politischem Handeln verbunden ist. Impliziert ist damit ein Blick auf Protest als einer Form der praktischen Verwirklichung des menschlichen Vermögens, einen Neuanfang zu setzen und Etabliertes aufzubrechen. Beim Protest geht es hiernach nicht primär um die Beteiligung an etwas (etwa den Prozessen der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung), sondern zuallererst um die Hervorbringung von etwas, nämlich der sinnhaften Erfahrung einer kollektiven politischen Seinsweise. Dies verweist auf eine phänomenologische Perspektive, die gerichtet ist auf die „Analyse eines Weltverhältnisses, das sich durch Erfahrung und Interaktion mit anderen konstituiert“ (Loidolt 2020, 168). Hiernach liegt die Bedeutung von Protest – oder genauer: des Protestierens – darin, eine „Praxis der Freiheit“ (Reist 1990) zu sein, in der und durch die der Mensch seine politische Begabung realisiert – und zwar, wie zu zeigen sein wird, auf spezifische Art und Weise.

Mit dieser Perspektive knüpfe ich an Beiträge an, die ebenfalls unter Bezugnahme auf Arendt die Performativität des Protestierens thematisieren (vgl. Beltrán 2009; Butler 2016; Thonhauser 2020; Cavarero 2021; Borren 2022). Mit Blick auf diese Debatte möchte ich (in Abschnitt 2) die spezifische These entfalten, dass in widerständiger Praxis vor allem jene zeitlichen Erfahrungen entstehen, die Arendt im Kontext ihres Handlungs- und Politikbegriffs beschreibt: Der ereignishafte und unterbrechende Neuanfang sowie die Erzeugung der Möglichkeit für Erinnerung und Geschichte (vgl. Gebhardt 2014; Barbehön 2023, 278-289) werden durch das Protestieren zwar nicht exklusiv, aber auf besonders eindrückliche Weise zur Wirklichkeit gebracht. Um diese These zeittheoretisch zu untermauern, werde ich auf die symbolisch-interaktionistische Handlungstheorie von George Herbert Mead (1969a, 1969b, 1973) zurückgreifen, da dort ebenfalls die Begriffe der Erfahrung, des Ereignisses und der gemeinsamen Handlung zentralgestellt und darüber hinaus mit der Konstitution von Zeit zusammengebracht werden (vgl. Joas 1980, 164-194; Bergmann 1981). Aus dieser Synthese ergibt sich die Möglichkeit, dem welt- und insbesondere zeiterzeugenden Effekt von öffentlich artikuliertem Dissens im Sinne einer Phänomenologie des Protests4 auf die Spur zu kommen und darüber aufzuweisen, weshalb und inwiefern das Protestieren eine herausragende Handlungsform ist, um „das eigentlich Politische im Menschen“ (Arendt 2012, 109) zu verwirklichen.

Auf dieser theoretischen Grundlage werde ich sodann (in Abschnitt 3) der interaktiven Konstitution zeitlicher Erfahrungen empirisch nachspüren, und zwar unter Zuhilfenahme ethnographischer Einsichten, die ich aus teilnehmenden Beobachtungen jüngerer Protestereignisse gewonnen habe. Hieran werde ich zeigen, dass das sinnhafte Weltverhältnis, das im Protestieren entsteht, als eine gemeinsame Zeit beschrieben werden kann, die, erstens, durch die (konfliktive) Abgrenzung von der räumlichen Gegenwärtigkeit anderer Zeiten zur Existenz gebracht wird. Eine Vielzahl an Menschen erfahren sich, und werden von anderen erfahren, als eine Protestbewegung, sobald sich ihr Hier und Jetzt von anderen Gegenwarten absetzt. Die gemeinsame Zeit des Protestierens wird, zweitens, erzeugt durch die (implizite oder explizite) Bezugnahme auf vergangene Handlungen. Durch ‚demonstratives‘ Erinnern von Worten und Taten entsteht eine Geschichte (Arendt 2002, 222-234), in die sich eine Protestbewegung eingliedern und über die sie sich eine über die momenthafte Interaktion hinausragende, dauernde Zeit einrichten kann.

Anschließend werde ich (in Abschnitt 4) von den ethnographischen Einsichten abstrahieren und die zeittheoretischen Interpretationen mit raumtheoretischen Überlegungen zusammenbringen. Wenn die Sinnhaftigkeit des Protestierens an die Gegenwärtigkeit anderer Zeiten und die Erinnerung vergangener (Protest-)Handlungen gekoppelt ist, bedarf es immer auch spezifischer räumlicher Konstellationen, die entsprechende Begegnungen und Reminiszenzen ermöglichen. Aus dieser Perspektive betrachtet lässt sich verstehen, weshalb es vor allem Städte sind, in denen protestiert wird, treffen doch hier aufgrund der typisch urbanen Verdichtung von Heterogenität (vgl. Wirth 1938; Held 2005) unterschiedliche Zeiten unmittelbar aufeinander und entwickeln sich hier (stadtspezifische) Protesthistorien, die je gegenwärtig handelnd aktualisiert werden können – womit wiederum die in Städten allgegenwärtige Gleichzeitigkeit des Verschiedenen gesteigert wird. Metaphorisch lässt sich hier von der Mikrophysik politischen Protests sprechen: eine lokale Praxis, die nicht nur an einem Zeitpunkt und an einem Ort stattfindet, sondern an der Hervorbringung, Reproduktion und Veränderung zeitlicher und räumlicher Wirklichkeiten beteiligt ist.5 Zusammengenommen münden diese Überlegungen (in Abschnitt 5) in eine Position, die in der temporalen und räumlichen Performativität des Protestierens einerseits sowie in der spezifischen Räum- und Zeitlichkeit der Stadt andererseits eine besondere Bedeutung für ein freiheitlich-republikanisches Politikverständnis erkennt.

2. In-Erscheinung-Treten als Zeit-Geschehen

Für Arendt ist Handeln – die menschliche Fähigkeit, in Ab- und Übereinstimmung mit anderen einen Neuanfang zu setzen – zuallererst gebunden an ein öffentliches Erscheinen, dem zugleich performative Effekte zufallen. Menschen erscheinen nicht bloß in einer dem Erscheinen vorgängigen Wirklichkeit,6 sondern sie bringen Wirklichkeit durch ihr Erscheinen hervor: „Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt“ (Arendt 2002, 62).7 Durch das Erscheinen wird das „Faktum menschlicher Pluralität“ (Arendt 2002, 213) verwirklicht, da sowohl derjenigen, die sprechend und handelnd in Erscheinung tritt, als auch allen anderen, vor denen sie erscheint, die Tatsache zu Bewusstsein gebracht wird, dass sich Menschen voneinander unterscheiden und sich in ihrer jeweiligen Einmaligkeit gleichen. Durch dieses „aktive In-Erscheinung-Treten“ (Arendt 2002, 214) realisiert der Mensch seine Fähigkeit, „neue Realitäten zu schaffen“ (Arendt 2002, 252). Es ist im Moment des Handelns, in dem „die eigentliche Konsistenz der Wirklichkeit und darüber hinaus sogar das Wirklichwerden eines Wirklichen konstituiert“ wird (Arendt 2002, 382).

Vor dem Hintergrund dieser existenziellen Bedeutung öffentlichen Erscheinens (vgl. Bedorf/Herrmann 2020, 6) lässt sich verstehen, weshalb Arendt das einen Neuanfang setzende Handeln vorrangig in Begrifflichkeiten des Erfahrens und Erlebens beschreibt. Dass eine Handlung etwas Neues in die Welt bringt, ist weniger eine abstrakte Eigenschaft als eine konkrete Erfahrung, die sich aus der Vergegenwärtigung von vergangenen Erlebnissen und der Projektion von Erwartungen ergibt: erst „von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen“ erscheint der Neuanfang „schlechterdings unerwartet und unerrechenbar“ (Arendt 2002, 216); er braucht diese Differenz, um sich überhaupt als Nichtgewöhnliches markieren zu können. Es ist diese lebensweltliche Erfahrung eines Unterschieds, den der Neuanfang macht und der ihm die Qualität eines Wunders verleiht: „Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen – das heißt, in der Erfahrung des Lebens, die vorgeprägt ist von den Prozeßabläufen, die ein Neuanfang unterbricht –, immer wie ein Wunder an“ (Arendt 2002, 216f.). Der Neuanfang wird „zum Wunder“, so Arendt (2012, 222) an anderer Stelle, „wenn er gesehen und erfahren wird von dem Standpunkt der Prozesse, die er notwendigerweise unterbricht“. Wir haben es hier mit einem relationalen Verständnis zu tun, wonach eine Handlung durch eine Differenzerfahrung zum wundersamen Neuanfang wird. Wie oben bereits dargelegt, prägt das Moment der Erfahrung bzw. des Erlebens auch Arendts Blick auf die Revolution, die sie nicht primär als Befreiung von ungerechten Zwängen und illegitimer Herrschaft verstanden wissen will (obgleich dies eine notwendige Voraussetzung sein mag), sondern zuvorderst als „eine neue Erfahrung, in der die menschliche Fähigkeit für Anfangen überhaupt erfahren wurde“ (Arendt 2020, 47). Kurzum: „die Idee der Freiheit und die Erfahrung eines Neuanfangs [sind] miteinander verkoppelt“ (Arendt 2020, 40).

Die Beschreibung des Handelns als Hervorbringung des wundersam Neuartigen, das bekannte Kontinuitäten und Routinen plötzlich und unerwartet durchbricht, lässt erkennen, dass im und durch das Handeln vor allem eine zeitliche Erfahrung gemacht wird (vgl. Gebhardt 2014; Barbehön 2022). Dies wird auch an der Tatsache deutlich, dass Arendt das Handeln regelmäßig als Ereignis bezeichnet (vgl. Cavarero 2021, 27), und „Ereignisse sind dadurch gekennzeichnet, daß sie automatische Prozesse oder zur Gewohnheit gewordene Verfahrensweisen unterbrechen“ (Arendt 1970b, 11). Gegenüber der menschlichen Grundtätigkeit des Arbeitens, das zyklisch organisiert ist und aus Wiederholungen besteht, und des Herstellens, das über einen Plan mit vorab absehbarem Ende verfügt, ist die des Handelns „die Erfahrung reine[r] Aktualität“ (Arendt 2002, 261). Das bedeutet jedoch nicht, dass Handlungsereignisse nach ‚ihrem‘ Moment spurlos verschwinden; im Gegenteil ist es die Einzigartigkeit des singulären Ereignisses, das „die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte“ schafft (Arendt 2002, 18). Dies ist der Grund, weshalb für Arendt die lebensweltliche Verwirklichung und praktische Erfahrung der menschlichen Handlungsbegabung eng verknüpft ist mit der Entstehung des neuzeitlichen Geschichtsverständnisses, das sich von der vormodernen Erfahrung einer Wiederkehr des Immergleichen abhebt (vgl. Koselleck 1989): Da im Handeln ein Neuanfang gesetzt wird, lässt es einen kontingenten Prozess entstehen, der „in seiner Weltlichkeit eine einmalige Geschichte erzählt“ und in dem „Wiederholungen sich […] eigentlich nicht ereignen können“ (Arendt 2012, 85). Im Arendt’schen Handlungsverständnis geben sich somit zwei zusammenhängende Aspekte der Zeitlichkeit zu erkennen: die ereignishafte Aktualität des Neuanfangs in Abgrenzung von anderen Zeiten sowie die Konstitution von Geschichte durch Taten und deren Erinnerung.

Diese doppelte Zeitlichkeit wird jedoch von Arendt (vor dem Hintergrund ihres spezifischen Anliegens: verständlicherweise) nur angedeutet bzw. angenommen, nicht jedoch sozial- und zeittheoretisch substantiiert. Für diese Aufgabe lässt sich auf die symbolisch-interaktionistische Handlungstheorie von Mead zurückgreifen, mit der sich der Handlungs- und der Zeitbegriff sowie deren Verhältnis weiterdenken lassen. In Ähnlichkeit zu dem, was oben zu Arendt gesagt wurde, ist es auch Mead (1973, 39) darum zu tun, „die Erfahrung vom Standpunkt der Gesellschaft aus“ zu betrachten.8 Damit ist gemeint, sinnhaftes Erleben nicht vom individuellen Subjekt her zu denken, sondern von den Interaktionen zwischen Handelnden (‚der Gesellschaft‘), in denen Bedeutung und Bewusstsein konstituiert werden. Handeln vollzieht sich Mead zufolge nicht (wie etwa bei Weber) auf der Basis einer sinnhaften Einstellung eines gleichsam vorkonstituierten Subjekts, das mit einer spezifischen Motivlage ausgestattet dem Handeln vorausgeht, sondern es ist das momenthafte Ereignis des Handelns, mit dem das Subjekt ein Bewusstsein seiner selbst und ein Wissen über die Welt gewinnt. Die Bedeutung, die weltliche Phänomene haben, haften diesen Phänomenen nicht an, sondern emergieren „aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht“ (Blumer 1980, 81). Hierin spiegelt sich die oben dargestellte Arendt’sche Annahme ob der wirklichkeitskonstituierenden Effekte des handelnden In-Erscheinung-Tretens.

Von dieser gemeinsamen Prämisse ausgehend wird auch von Mead der Ereignisbegriff an zentraler Stelle platziert und darüber hinaus mit der Konstitution von Gegenwart zusammengebracht. Gegenwart ist nach Mead (1969a, 252) „kein irgendwo herausgeschnittenes Stück der zeitlichen Dimension einer einförmig ablaufenden Realität“, wie dies etwa die Konzeption von Zeit als neutralem Container suggeriert, sondern an ein „neuentstehende[s] Ereignis“ gebunden, d.h. „an das Auftreten von etwas, das mehr ist als die Prozesse, die zu seinem Auftreten geführt haben, und was aufgrund seiner Veränderung, seines Andauerns oder seines Verschwindens späteren [Ereignis-]Abläufen einen Inhalt zufügt, den diese sonst nicht besäßen“. Der Arendt’schen Figur der Natalität ähnlich (vgl. Aboulafia 2001, 51f.) verweist Mead (1969a, 277) auf die Entstehung neuen Lebens, das die Welt zwangsläufig verändert und einen Prozess der „Anpassung an diese neue Situation“ in Gang setzt. Ereignisse besitzen immer „einzigartige Eigenschaften“, und mit ihnen ereignisspezifische Vergangenheiten und Zukünfte: „Die Beziehung des Ereignisses zu den ihm vorhergehenden Bedingungen konstituiert unmittelbar eine Geschichte, und die Einzigartigkeit des Ereignisses macht diese Geschichte zu einer auf dieses Ereignis bezogenen Geschichte“ (Mead 1969a, 264) – und Analoges gilt für die Zukunft, die durch das Auftreten eines Ereignisses als Zukunft ebendieses Ereignisses möglich wird. Anders formuliert: „Mit ihrer Einzigartigkeit schafft sie [die ereignishafte Gegenwart] sich eine Vergangenheit und eine Zukunft“ (Mead 1969b, 409). Rückbezogen auf die Handlung, die „im Mittelpunkt der Gegenwart steht“ (Mead 1969b, 417), folgt daraus, dass eine Handlung nicht bloß eine Entität in der Zeit ist, die Motive aus der Vergangenheit in Ziele in der Zukunft verwandelt, „sondern umgekehrt definiert die neue Handlung als gegenwartkonstituierendes Ereignis ihre Vergangenheit (Ursachen, Motive) und Zukunft (Zwecke) jeweils neu“ (Bergmann 1981, 359). In den Worten von Mead (1972, 616) ausgedrückt: „It is the emergents that determine the selection of the futures and, hence, the pasts that are their so-called causes“.

Über die (kontingente) Verknüpfung von ereignishaft entstehenden Gegenwarten wird die Realität der Zeit konstituiert. „Realität“ entsteht nach Mead (1983a, 337) im „Übergang von einer Gegenwart in eine andere“, wobei ein solcher Übergang durch die Handlung etabliert wird, die sich ein Verhältnis aus vergangener Ursache und künftiger Wirkung zurechtlegt. Zeit geht dem Handeln nicht voraus, sie ist nicht, wie in der Newton’schen Physik, ein linearer Strahl, mit dem sich Handlungen uhrenzeitlich lokalisieren lassen. Vielmehr sind es die immer wieder neu erscheinenden und aneinander anschließenden Handlungsereignisse, die Zeit hervorbringen: „Ohne Entstehung gibt es keine unterscheidbaren Ereignisse, aufgrund derer sich Zeit ergibt“ (Mead 1969a, 279f.; vgl. Joas 1980, 172).9 Daraus resultiert für Mead (1983b, 223) eine fundamentale „Relativität der Zeit“, die von der Unendlich- und Einmaligkeit von Handlungen und Handlungsdispositionen bedingt ist. Relativität bedeutet jedoch nicht, dass jeder Mensch ‚in seiner eigenen Zeit‘ lebt, ist er doch ein Wesen, „das immer schon in intersubjektiven Zusammenhängen agiert, das also in ein ganzes Geflecht von Handlungen zweier oder mehrerer Personen verstrickt ist“ (Joas/Knöbl 2004, 193). Interaktionen erfordern Koordinationen, inklusive einer praktischen und zumeist impliziten Verständigung darüber, welche Vergangenheit für die Verwirklichung der gemeinsamen Handlung relevant ist und welche Zukunft durch sie hervorgebracht werden soll – woraus eine Gegenwart entsteht – und wie Handlungen aneinander angeschlossen werden müssen, um Sinn zu ergeben – woraus dauernde Zeit entsteht.

Für eine solche Etablierung einer gemeinsamen momenthaften Gegenwart und dauernden Zeit sind generalisierte Andere und signifikante Symbole von herausragender Bedeutung. Damit meint Mead (1973, 129) die im kollektiven Wissensvorrat abgelagerten Rollen und Artefakte, die aus der Teilhabe einzelner „an einem gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß“ resultieren. Da Interagierende die Bedeutung von Dingen sowohl sich selbst als auch anderen anzeigen, entstehen im Handeln „gemeinsame Objekte […], die dieselbe Bedeutung für eine gegebene Gruppe von Personen haben und die in derselben Art und Weise von ihnen gesehen werden“ (Blumer 1980, 90). In ihrer Gesamtheit bilden sie ein „logisches Universum“ im Sinne eines „System[s] gemeinsamer oder gesellschaftlicher Bedeutungen“ (Mead 1973, 130), das eine „Ebene abstrakten Denkens“ (Mead 1969a, 95) eröffnet und eine koordinierte – und das kann auch heißen: eine konflikthafte – Interaktion erlaubt. Im Interaktionsgeschehen eines Boxkampfes etwa, das mir durch die involvierten symbolischen Artefakte angezeigt wird, nehme ich mein Gegenüber in seiner typisierten Rolle als sportlichen Gegner wahr und kann mit diesem Wissen vergangene Verhaltensweisen einordnen und künftige mit einiger Sicherheit antizipieren (vgl. Mead 1973, 196f.). In der gemeinsam realisierten Handlung entsteht eine gemeinsame Gegenwart, ohne dass damit, im Einklang mit Arendts Pluralitätsverständnis (vgl. Cavarero 2021, 7), die je individuellen Perspektiven der Beteiligten restlos aufgelöst werden würden (vgl. Joas 1980, 186-188). Zugleich handelt es sich um die Gegenwart dieses Interaktionsgeschehens, und damit um eine Gegenwart, die sich von anderen Gegenwarten unterscheidet.

Mit Meads Handlungs- und Zeittheorie lässt sich somit die bei Arendt angedeutete Zeitlichkeit des gemeinsamen In-Erscheinung-Tretens substantiieren und präzisieren. Im gemeinsamen Handeln entsteht eine geteilte Zeit, indem die Beteiligten eine der Interaktion zugehörige Vergangenheit und Zukunft je gegenwärtig ‚aushandeln‘ und die jeweiligen Gegenwarten über Handlungsketten zu einer dauernden Zeit synthetisieren. Zugleich wird damit eine Vielfalt an Zeiten produziert, da die Zeit dieses nicht die Zeit jenes Handelns und schon gar nicht ‚die Zeit im Allgemeinen‘ ist. So besehen ist die Wendung der ‚geteilten Zeit‘ in zweifachem Sinne zu verstehen: eine von den Handelnden geteilte Zeit sowie eine temporal geteilte Welt mit nicht aufeinander reduzierbaren Zeiten. Im folgenden Abschnitt werde ich argumentieren, dass im Interaktionsgeschehen des Protestierens diese doppelte Zeitteilung auf besonders eindrückliche Weise realisiert wird, womit es zu einer herausragenden Form politischen Handelns im Arendt’schen Sinne wird.



3. Demonstrative Zeit

Wie bis hierhin deutlich wurde, sensibilisiert eine von Arendts politischer Anthropologie ausgehende und um die Mead’sche Handlungs- und Zeittheorie erweiterte Perspektive für die temporale Performativität politischen Handelns. Diesem Hinweis werde ich im Folgenden weiter nachgehen, und zwar mit Blick auf die spezifische Handlungsform des politischen Protests. Um den welt- und insbesondere zeiterzeugenden Effekten von öffentlich artikuliertem Dissens (vgl. Eyerman 2006; della Porta 2020; Jaster 2020) im Sinne einer Phänomenologie des Protests nachspüren zu können, werde ich die obigen Überlegungen in einen Dialog mit empirischen Einsichten aus teilnehmenden Beobachtungen jüngerer Protestereignisse bringen.10 Diese Unternehmung ist nicht als ‚Anwendung‘ oder gar ‚Überprüfung‘ theoretischer Überlegungen zu verstehen, sondern als ethnographisch sensibilisierte Politische Theorie, die die konzeptionelle Arbeit an Begriffen mit der Performativität spezifischer politischer Praktiken konfrontiert (vgl. Longo/Zacka 2019, 1068f.). Die folgenden Analysen werden somit den methodischen Feinheiten der ethnographischen Sozial- bzw. Protestforschung nicht in jeder Hinsicht genügen können – was jedoch (hoffentlich) verzeihlich ist, da der primäre Bezugspunkt ein theoretischer bleibt, nämlich Arendts Konzeption politischen Handelns und dessen Temporalität. Die beiden Unterabschnitte orientieren sich an den zwei (in Abschnitt 2 herausgearbeiteten) zeitlichen Dimensionen, die in Arendts Handlungsverständnis angelegt sind: die ereignishafte Aktualität des Neuanfangs in Abgrenzung von anderen Zeiten und die Konstitution von Geschichte durch Taten und deren Erinnerung.

3.1 Neuanfang und zeitliche Unterbrechung

Bei politischem Protest handelt es sich, allgemein gesprochen, um eine gleichsam ‚plötzliche‘ Artikulation eines Widerspruchs. Während es zunächst naheliegt, diese Eigenschaft auf die inhaltlichen Forderungen zu beziehen, wie sie typischerweise in einer Demonstration geäußert werden – gegen die unzureichende Klimapolitik der Regierung, gegen die Neoliberalisierung der Arbeitswelt, gegen eine Abschottung an den europäischen Außengrenzen etc. –, richtet die symbolisch-interaktionistische Perspektive den Blick darauf, wie Widerspruch durch die gemeinsamen Handlungen öffentlich versammelter Menschen praktisch verwirklicht wird. In temporaler Hinsicht geschieht dies durch die Realisierung von Interaktionsformen, die in eine mehr oder weniger etablierte Sequenz ‚alltäglicher‘ Handlungen intervenieren und deren Taktung durcheinanderbringen.

Bei der Fridays for Future-Demonstration in Frankfurt etwa erreiche ich 45 Minuten vor dem offiziellen Beginn den Versammlungsort an der Bockenheimer Warte, einem öffentlichen Platz im Westen der Stadt. Zunächst ist nur eine kleine Gruppe Jugendlicher zu sehen, die an einem Ausgang einer U-Bahn-Station sitzt und ihre Banner unscheinbar neben sich liegen hat. Als Teilnehmer an der bevorstehenden gemeinsamen Aktion erkenne ich die Jugendlichen als künftige Mitstreiter*innen, wohingegen die den Platz querenden Passant*innen nicht den Anschein erwecken, als wüssten sie von der anstehenden Transformation des öffentlichen Platzes in einen Raum des Widerspruchs. Das Protestereignis kommt erst zur Wirklichkeit – und zwar sowohl für die In-Erscheinung-Tretenden als auch für die Beobachter*innen –, als sich der Platz sukzessive mit weiteren Kleingruppen füllt, die durch ihr kollektives Warten die alltägliche Nutzung des Platzes, nämlich dessen Überqueren beim Zurücklegen eines Weges, merklich unterbrechen und die Passant*innen dazu zwingen, sich durch die Menschentrauben zu schlängeln oder einen Umweg zu gehen. Diese Unterbrechung der ‚Alltagszeit‘ wird zusätzlich befördert durch die Präsenz signifikanter Symbole, wie etwa Plakate oder Warnwesten von Ordner*innen, und generalisierter Anderer, wie etwa die am Rande des Platzes postierten Polizist*innen. Die Zeit des Protests entsteht somit noch vor dem offiziellen Beginn durch die Kopräsenz der wartenden Teilnehmer*innen, der Polizeikräfte und der Passant*innen, die sich wechselseitig zur Erfahrung bringen, dass sich der städtische Alltag etwas Nichtalltäglichem entgegensieht. Ich erfahre mich als Teil einer gemeinsamen Gegenwart des Protests, als ich andere als Mitstreitende beobachten und sie von Nichtteilnehmenden sowie deren Beobachtung von uns unterscheiden kann. Es ist die räumliche Begegnung und wechselseitige Interpretation unterschiedlicher Perspektiven, die das Protestereignis konstituiert (vgl. Eyerman 2006, 196-200), und entsprechend das Verschwinden der Begegnung solcher Perspektiven, das dem Ereignis ein Ende setzt und es zum potenziellen Gegenstand der Erinnerung macht (siehe hierzu Abschnitt 3.2).

Diese Unterscheidungen sind freilich nicht nur in der Entstehung des Protests am Werk, sondern wiederholen sich im Verlaufe der weiteren Geschehnisse – und müssen sich wiederholen, um den Protest als zeitlich andauernde Situation am Leben zu halten. Nach dem offiziellen Start der Fridays for Future-Demonstration bewegt sich der Protestzug von der Bockenheimer Warte bis in die Altstadt Frankfurts; regelmäßig passieren wir Kreuzungen, an denen der Verkehr von Polizeikräften aufgehalten wird. An einer Großkreuzung kommt es zu einer Konfrontation mit einem Autofahrer, der ob des Stillstands des Straßenverkehrs die vorbeiziehenden Protestierenden wüst beleidigt, wutentbrannt sein Fahrzeug verlässt und von den anwesenden Polizist*innen nur unter großer Anstrengung davon abgehalten werden kann, die Protestierenden zu attackieren. Es sind diese und ähnliche Szenen der Unterbrechung der zeitlichen Abläufe unserer Umgebung, die mir zu Bewusstsein bringen, dass ich an einer kollektiven Gegenwart teilhabe, die sich von Alltagsroutinen anderer unterscheidet. Mehr noch: Es ist nicht nur die zeitliche Differenz, sondern vielmehr die aktive Störung der Zeit der anderen, die möglichst rasch von A nach B kommen wollen und darüber erzürnt sind, warten zu müssen, die die für das Protestieren typische Empfindung einer Dynamisierung und Beschleunigung der Zeit entstehen lässt (vgl. della Porta 2020, 561). Cristina Beltrán (2009, 608) hat diese Erfahrung des gemeinsamen Protestierens, im Anschluss an die Topoi der „Freude“, der „Befriedigung“ und der „Genugtuung“, die Arendt (1972, 92) mit dem politischen In-der-Welt-Sein verbindet, als „festive anger“ beschrieben, als „taking pleasure in acts of defiance and public provocation“ – eine vergnügliche Erfahrung, die sich nicht zuletzt dadurch einstellt, dass das Demonstrieren andere Zeiten (des Arbeitens und des Herstellens) stört und durcheinanderbringt.

Bleiben solche Begegnungen und Störungen aus, droht die gemeinsame Gegenwart des Protestierens sich zu verflüchtigen. Bei der Gegendemonstration zur Querdenken-Kundgebung in Darmstadt etwa bestand der erste Teil (auf den zweiten Teil werde ich unten zu sprechen kommen) aus einer gemeinsamen Fahrradfahrt vom westlich gelegenen Hauptbahnhof in die Innenstadt. Nach einem kurzen Eingangsstatement der Organisator*innen setzt sich die Gruppe in Bewegung und fährt durch weiträumig abgesperrte Straßen, sodass wir kaum wartende Autofahrer*innen sehen. Ebenfalls abwesend sind die Teilnehmer*innen der Querdenken-Kundgebung, die im Südosten der Stadt abgeschirmt werden, und auch die Polizeikräfte sind vergleichsweise unscheinbar und treten, im Unterschied zur zweiten Hälfte des Protests, nicht als markante Außenseite des Protests auf. Im gleichmäßigen und gemächlichen Dahinfließen des Stroms aus Fahrrädern schweifen meine Gedanken hier und dort hin, die Radfahrer*innen um mich herum unterhalten sich über dies und jenes, und die protesttypische Zeitverdichtung weicht einer entzerrten Zeit, die bei mir bisweilen in Langeweile umschlägt. Die gemeinsame Fahrradfahrt erstreckt sich über einen längeren Zeitraum ohne disruptive Ereignisse, womit die gemeinsame Handlung ihren Charakter als kollektive Artikulation von Protest zeitweise verliert.

Dies ändert sich in der zweiten Hälfte der Demonstration. Die gemeinschaftliche Fahrradtour endet auf dem Friedensplatz in der Darmstädter Innenstadt, wo sich die Zusammensetzung der Demonstration zu verändern beginnt: Die Teilnehmer*innen werden jünger, viele der Hinzukommenden sind dunkel gekleidet und tragen Antifa-Symbole mit sich, und regelmäßig wird „Alerta, Alerta, Antifascista!“ skandiert. Die Atmosphäre wirkt angespannter, und das nicht zuletzt deshalb, da die Polizeikräfte als generalisierte Andere nun deutlicher als zuvor in Erscheinung treten. Nach einigen Wortbeiträgen und einer Durchsage der Ordnungskräfte setzt sich der Demonstrationszug wieder in Bewegung und legt einen rund zwei Kilometer langen Fußweg – die Zeit vergeht wie im Fluge – bis zu einer Polizeisperre etwa 300 Meter vor der Querdenken-Kundgebung im Südosten der Stadt zurück. Immer wieder entstehen Momente der Hektik und Unruhe, wenn sich die um die Demonstrierenden angeordneten Polizist*innen plötzlich in Bewegung setzen, oder wenn Personen ohne Mund-Nasen-Schutz – das signifikante Symbol ‚der anderen‘ – durch die Menge (vermutlich) in Richtung Querdenken-Kundgebung laufen. Im Unterschied zur ersten Hälfte, in der mit der gemeinsamen Fahrradfahrt eher die Zeit eines sonntäglichen Ausflugs konstituiert wurde, entsteht hier die Zeit des Protestierens, die insbesondere durch die hohe Taktung an (spannungsgeladenen) Begegnungen unterschiedlicher Zeitperspektiven aufrechterhalten wird.

Aus diesen Beobachtungen lässt sich schließen, dass die gemeinsame Zeit des Protestierens – auch, aber nicht nur (siehe Abschnitt 3.2) – durch die Gegenwärtigkeit sich wechselseitig beobachtender und sich voneinander abgrenzender Perspektiven konstituiert wird (vgl. Mead 1969a, 78). Ein gemeinsames Handeln qualifiziert sich sowohl für die Beteiligten als auch für die Beobachter*innen dann als Protest, wenn es innerhalb der bestehenden Ordnung und der Alltäglichkeit getakteter Abläufe einen unerwarteten und störenden Neuanfang setzt. Diese Leistung ist, wie bereits durch die Semantik der Störung erkennbar wird, vor allem zeitlicher Art, insofern mit der kollektiven Aneignung von öffentlichem Raum etablierte Praktiken und Routineabläufe aufgehalten werden (sollen), während die Polizeikräfte darum bemüht sind, diese Unterbrechungen der Ordnung so gering wie möglich zu halten. Rückbezogen auf das Arendt’sche Denken legt diese Einsicht eine agonistische Perspektive nahe (vgl. Honig 1993; Marchart 2006; Thiel/Volk 2016; Kasko 2020; Barbehön 2022), bedeutet doch öffentliches Erscheinen und abgestimmtes Handeln für den spezifischen Fall des Protestierens immer auch, sich von anderen Handlungen weithin sichtbar abzugrenzen, wenn nicht gar sie zu blockieren. Gleichsam als Nebenprodukt wird durch diese agonistische Praxis zugleich Pluralität verwirklicht und zur Erfahrung gebracht, und zwar wiederum sowohl aufseiten der Protestierenden als auch aufseiten der Beobachter*innen, denen gewahr wird, dass die Welt aus einer Vielzahl nicht aufeinander reduzierbarer Zeiten besteht.

3.2. Geschichtlichkeit und Erinnerung

Neben der Abgrenzung und Störung von anderen Gegenwarten wird die gemeinsame Zeit des Demonstrierens durch sinnhafte Bezugnahmen auf Vergangenes konstituiert, womit sich eine gemeinsame Handlung als Exemplar der generischen Handlungsform des Protests im Allgemeinen und (zumeist) als Fortsetzung einer bestimmten Geschichte des Protestierens im Speziellen ausweist. Durch Praktiken der Erinnerung macht sich die Handlung als Aktualisierung einer (bisweilen verschütteten oder unterdrückten) Tradition verständlich und stiftet darüber eine zeitliche Kontinuität, in die sich die Teilnehmenden einsortieren und eine über den Moment des Aufbegehrens hinaus andauernde, geteilte Zeit erzeugen können (vgl. della Porta 2020). Dies geschieht entweder explizit durch den Einsatz sprachlicher oder materieller Symbole, die im kollektiven Gedächtnis eingelagert sind, oder implizit durch Interaktionsformen, die ihre Bedeutung aus vergangenen Handlungserfahrungen beziehen.

Explizite Bezugnahmen auf ein Protesterbe finden sich etwa bei der Fridays for Future-Demonstration, die schon über die Etablierung eines Eigennamens, der zudem einen zeitlichen Zyklus aufruft (immer freitags), eine wiedererkennbare Geschichte konstruiert.11 Im ersten Wortbeitrag, mit dem die Demonstration in Frankfurt offiziell eröffnet wird, berichtet ein Aktivist, dass er „schon seit zwei Jahren und heute endlich mal wieder“ (nach einer monatelangen Pause aufgrund der Corona-Pandemie) auf die Straße gehe, um für einen konsequenteren Klimaschutz einzutreten. Er erkenne unter den heute Anwesenden viele Mitstreiter*innen, mit denen er „gemeinsam in den letzten Jahren protestiert“ habe und mit denen er „zusammengewachsen“ sei. Zudem verweist er auf „40 Jahre Klimakämpfe“, die durch die Fridays for Future-Bewegung fortgeschrieben würden. Kontinuität wird zudem gestiftet durch die Tradierung signifikanter Symbole, wie etwa der während des Protestmarschs regelmäßig praktizierten Frage/Antwort-Choreographie „What do we want? – Climate justice! – When do we want it? – Now!“. Es sind solche immer wieder aufgeführten interaktiven Handlungen, mit denen sich die Teilnehmenden wechselseitig versichern, eine Geschichte zu teilen.

Ähnliche Muster zeigen sich bei der Demonstration zum (wiederum zyklisch organisierten) Tag der Arbeit in Stuttgart. Nach einem rund eineinhalbstündigen Protestmarsch durch die Innenstadt mündet die Demonstration in eine Kundgebung im Stuttgarter Stadtgarten, wo die Teilnehmenden von einem Mitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds mit der Feststellung begrüßt werden, dass der Tag der Arbeiterbewegung „seit 131 Jahren“ begangen werde – und einige der Plakate und Transparente, die ich während der Demonstration sehe, haben der äußeren Erscheinung nach bereits einige dieser 131 Jahre miterlebt. Während der Demonstration werden Broschüren von Parteien und Vereinen verteilt, darunter auch eine 20-Seiten-starke „Zeitung für Klassenkampf & Revolution“, was auf eine etablierte Praxis der Planung und Produktion hindeutet. Schließlich sind die Polizeikräfte, insbesondere im Vergleich zum zweiten Teil der Querdenken-Gegendemonstration in Darmstadt, zahlenmäßig schwach vertreten, vermutlich weil der Tag der Arbeit auf eine derart lange Geschichte zurückblickt und alle Beteiligten zu wissen glauben, mit was (nicht) zu rechnen ist. Anders stellt sich die Situation dar, als nach dem gemeinsamen Protestmarsch ein Teil der Teilnehmenden, so ist auf einem Banner zu lesen, zur „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration auf dem Karlsplatz“ ausschert. Während sich der Großteil des Demonstrationszuges vor der mit Gewerkschaftssymbolen gespickten Bühne versammelt, zieht diese Gruppe weiter, und zwar in enger Begleitung der nunmehr präsenten Polizei – vermutlich weil, wie die Erinnerung an vergangene 1.-Mai-Demonstrationen in Stuttgart lehrt,12 die Zeit der ‚Revolution‘ nicht der Zeit der gewerkschaftlichen ‚Reform‘ entspricht.

Diese letzten Beobachtungen machen deutlich, dass der sinnhafte Anschluss an Vergangenes auch implizit erfolgen kann, indem Interaktionen praktisch an sedimentiertes Handlungswissen anschließen und es darüber in die Gegenwart verlängern. Zu Beginn des zweiten Teils der Querdenken-Gegendemonstration in Darmstadt fordert ein Teilnehmer in einer Durchsage über ein Mikrofon, die Polizei solle „aufhören, wahllos Teilnehmer*innen zu filmen“, und verliest eine Telefonnummer, unter der man im Falle einer Konfrontation mit Polizeikräften rechtlichen Beistand in Anspruch nehmen könne. Kurz darauf ruft die Polizei per Lautsprecherdurchsage die Protestierenden dazu auf, ein „kooperatives Verhalten“ an den Tag zu legen. Diese Handlungen haben einerseits einen Gegenwartsbezug, insofern sie auf Situationen und Verhaltensweisen im konkreten Protestereignis bezogen sind; sie sind aber auch als Aktualisierungen von Vergangenheit zu verstehen, indem sie die gegenwärtige Demonstration in eine Tradition einsortieren, und zwar in die Geschichte der Zusammenstöße zwischen ‚linkem‘ Protest und Polizeikräften. Die ereignishafte Gegenwart des Protests wird durch spezifische Interaktionen um eine geschichtliche Dimension erweitert, womit die Teilnehmenden eine den Moment überdauernde Zeit konstituieren (vgl. Jaster 2020, 752f.).

Neben der Konstruktion einer dem Protestereignis eigenen Geschichte sind freilich auch Bezugnahmen auf die Zukunft bedeutsam, insofern ein Protest, indem er sich gegen etwas wendet, immer auch für etwas bis dato nicht Verwirklichtes eintritt. Obgleich im Protest regelmäßig Forderungen gestellt werden – eine effektivere Klimapolitik, eine gerechtere Wohlstandsverteilung etc. –, ist das Wesensmerkmal des Protestierens als einer Handlung nicht in inhaltlichen Forderungen zu finden. Proteste zielen, mit Arendt (2002, 226) gesprochen, „nicht [auf] die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke“, was dem Handeln aufgrund der Unabsehbarkeit jeder Initiative ohnehin fremd wäre, und ihre Funktion liegt auch nicht in der Formulierung und Bereitstellung spezifischer politischer Maßnahmen, die in einer künftigen Gegenwart umgesetzt werden könnten (was ihnen von kritischen Beobachter*innen regelmäßig als Manko vorgeworfen wird). Die politische Bedeutung des Protests liegt vielmehr in der Generierung und Aufrechterhaltung von Öffentlichkeit qua Widerspruch, in der Realisierung und Kontinuation eines latenten Machtpotentials, das ‚auf der Straße liegt‘ und auf Verwirklichung wartet. Entsprechend kommt als Quelle der Legitimität eines Protests nicht die Rechtfertigung der Mittel durch Berufung auf einen Zweck in Frage, was für Arendt (1970b, 53) ein Widerspruch in sich wäre, sondern allein die Tatsache, dass mit dem Beginn der gemeinsamen Handlung eine politische Öffentlichkeit erzeugt wurde, die durch erinnernde Anschlüsse an ihre eigene Vergangenheit immer wieder aufs Neue aktualisiert werden muss.13[12] Es ist vermutlich auch diese spezifische Geschichtlichkeit, die das Protestieren aus einer Arendt’schen Perspektive zu einem herausragenden politischen Moment macht.

4. Demonstrativer Raum

Durch Begegnungen mit, Abgrenzungen von und Störungen der Zeiten anderer sowie durch symbolisch-praktische Konstruktionen einer Protestgeschichte, so lassen sich die bisher gewonnenen Einsichten zusammenfassen, wird im und durch das gemeinsame(n) Handeln des Protestierens eine geteilte Zeit hervorgebracht, die einerseits Menschen temporär zu einer Bewegung werden lässt (ohne dabei ihre Individualität in einer undifferenzierten Masse aufzulösen) und die andererseits den (beobachtenden) Beteiligten die Existenz einer Pluralität an Zeiten zu Bewusstsein bringt. Wenn sich Menschen öffentlich versammeln und durch einen kollektiv artikulierten Widerspruch als politische Wesen in Erscheinung treten, tun sie das nicht nur zu einem uhrenzeitlich bestimmbaren Zeitpunkt, sondern sind sie an der Hervorbringung zeitlicher Verhältnisse aktiv beteiligt. Das gemeinsame Handeln findet dabei stets an einem spezifischen Ort statt – der zugleich durch die Praxis des Protestierens auf spezifische Weise angeeignet, umgedeutet und als Raum eines politischen Ereignisses konstituiert wird. Durch die Versammlung aufbegehrender Körper, so formuliert es Judith Butler (2016, 102), artikuliert ein Protest „eine neue Zeit und einen neuen Raum“, werden „Zeit und Raum außerhalb und entgegen der etablierten Architektur und Zeitlichkeit des Regimes [ge]öffnet“.14 Analog zur temporalen Performativität sind Protestereignisse auch mit Blick auf räumliche Verhältnisse wirklichkeitserzeugend (vgl. Beltrán 2009; Borren 2022).

Verglichen mit der Zeitdimension hat Arendt (2002, 251-263) topologischen Überlegungen mit ihrem Begriff des Erscheinungsraums mehr Aufmerksamkeit geschenkt (auch wenn sie den Begriff eher metaphorisch als raumtheoretisch verwendet). Ein Erscheinungsraum ist ihr zufolge keine dem Handeln vorausgehende (örtliche) Gegebenheit, sondern er „entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen“ (Arendt 2002, 251), wo sie also, im zeittheoretischen Register gesprochen, durch einen ereignishaften Neuanfang eine Gegenwart entstehen lassen. Auf den damit implizierten Zusammenhang von Raum und Zeit weist auch Sophie Loidolt (2020, 174) mit ihrem in Bezug auf Arendts Denken entwickelten Begriff des „Sinnraums“ hin: „Indem wir also tätig sind, erleben wir eine gewisse Zeitlichkeit, eine bestimmte Räumlichkeit, eine Kausalität, Formen der Interaktion, alles, was uns mit der Welt in Beziehung setzt und uns verortet“. Unterschiedliche Tätigkeitsformen sind hiernach mit einer je spezifischen „raumzeitlich-leiblich-soziale[n] ‚Logik‘“ (Loidolt 2020, 175) verknüpft, und die Verwirklichung einer bestimmten Tätigkeit lässt einen bestimmten Sinnraum mit ihm zugehörigen Erfahrungsweisen entstehen. In diesem Lichte betrachtet ist die Erfahrung, die der Sinnraum des Protestierens entstehen lässt, die praktische Verwirklichung der menschlichen Fähigkeit, mittels Unterbrechungen der Zeitlichkeiten ‚alltäglicher‘ Sinnräume von Bestehendem abzuweichen und Neues zu beginnen. Freilich ist das Protestieren nicht die einzige Handlungsform, mit der sich ein Neuanfang setzen lässt, jedoch wird die Fähigkeit zum Neuanfang durch das Protestieren in besonders markanter Art und Weise verwirklicht. Dass die Welt nicht nur aus dem ‚Uhrwerk des Alltags‘ besteht, sondern Alternativen bereithält, und dass sich die Geschichte aus menschlichen Taten ergibt (auch wenn nie souverän über sie verfügt werden kann), anstatt nach einem göttlichen Plan abzulaufen, wird insbesondere in Momenten eines öffentlich artikulierten Dissenses erlebbar. Nicht zufällig ist das neuzeitliche Zeit- und Geschichtsverständnis in der Revolution geboren worden (vgl. Koselleck 1989, 67-86; Arendt 2020, 27-39), und nicht zufällig reaktivieren zeitgenössische Proteste mehr oder weniger explizit revolutionäre Bedeutungsschichten durch entsprechende semantische Reminiszenzen (‚Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration‘, ‚Wir sind das Volk‘ etc.).

Wie jede Tätigkeit ist jedoch auch das Protestieren nicht voraussetzungslos, sondern erfordert, wiederum mit Loidolt (2020, 176) gesprochen, einen „Bedingungsraum“, in dem es sich ereignen kann. Auch wenn eine Eigenart des Protests darin liegt, gerade keinen vorgesehenen ‚Zeitraum‘ zu besitzen, sondern sich ‚demonstrativ‘ Orte anzueignen und sie unerwartet in Räume des Dissenses zu verwandeln (um damit die ‚gewöhnliche‘ Nutzung zu stören), so macht ein Protest doch nicht überall und immer ‚Sinn‘. In diesem Zusammenhang kann, im Lichte der beiden oben diskutierten temporalen Dimensionen betrachtet, die moderne Großstadt als ein solcher – und überdies als ein besonders produktiver – Bedingungsraum des Protestierens betrachtet werden, da sie, erstens, aufgrund ihrer Heterogenität und Komplexität Begegnungen unterschiedlicher Zeitperspektiven ermöglicht, wenn nicht aktiv befördert, und, zweitens, mit vergangenen politischen (Protest-)Ereignissen verwickelt ist und diese im Sinne eines „organisierte[n] Andenken[s]“ (Arendt 2002, 248) für sinnhafte Aktualisierungen bereithält (vgl. Schauer 2023, 23f.).

Der erste Aspekt lässt sich auf die raumstrukturelle Logik der modernen Großstadt zurückführen. Wie Gerd Held (2005, 10) gezeigt hat, entwickeln sich in der Moderne zwei komplementäre Formen der räumlichen Strukturbildung: die auf dem Prinzip des Ausschlusses basierende Logik des (staatlichen) Territoriums und die auf dem Prinzip des Einschlusses basierende Logik der (großstädtischen) Agglomeration. Raumstrukturell betrachtet wird mit dem Fall der mittelalterlichen Stadtmauern die moderne Stadt geboren, die sich nicht mehr nach außen abgrenzt, sondern sich grundsätzlich zugänglich zeigt (was sie nicht zuletzt deshalb tun kann, weil der parallel entstehende Nationalstaat die Aufgabe der Grenzkontrolle übernimmt). Historisch führt dies zu einem rasanten Größenwachstum, zu einer größeren Vielfalt der Lebenswirklichkeiten sowie zu einer zunehmenden Konzentration von Unterschiedlichkeiten auf engem Raum – Größe, Heterogenität und Dichte werden zu den prägenden Merkmalen neuzeitlicher städtischer Vergesellschaftung (Wirth 1938; Held 2005, 235-243). In der modernen Stadt ist die Tatsache, dass die Welt von vielen, zugleich gleichartigen und unterschiedlichen Menschen bevölkert wird, unausweichlicher Teil der Lebenswirklichkeit (vgl. Barbehön/Haus 2021); in der Stadt ist, mit Arendt (2002, 213) gesprochen, das „Faktum menschlicher Pluralität“ offenkundig und unmittelbar erlebbar. Die urbane Verdichtung von Heterogenität betrifft dabei auch die in einer Stadt verwirklichten und ineinandergreifenden Zeitordnungen (vgl. Amin/Thrift 2002, 128f.), wie etwa die des Innenstadtverkehrs, der Fußgängerzone, des Nachtlebens, der Politik und Verwaltung im Rathaus, der alternativen Szene, des Villenviertels, der Armut und sozialen Exklusion etc. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen trägt zu der Erfahrung bei, dass man nicht alleine ist, d.h. dass man zusammen mit anderen in einer gemeinsamen Zeit lebt und dass dieser gemeinsamen Zeit zugleich eine Vielzahl anderer Zeiten beiseite- und bisweilen entgegensteht. Dies wiederum ist eine Grundvoraussetzung für die Möglich- und Sinnhaftigkeit von politischem Protest, der eines gemeinsamen, abgestimmten Handelns in sichtbarer Abgrenzung und Störung von anderen bedarf.

Der zweite Aspekt lässt sich mit der Überlegung zusammenbringen, dass (politische) Ereignisse nicht im luftleeren Raum geschehen, sondern mit den Orten ihres Erscheinens verbunden sind und in dieser Verbindung in das kollektive Gedächtnis eingehen. In den Worten von Paul Ricoeur (2004, 41) ausgedrückt: „the ‘things’ remembered are intrinsically associated with places. And it is not by chance that we say of what has occurred that it took place.“ In ähnlicher Weise bringt Aleida Assmann (2003) das Konzept des kulturellen Gedächtnisses und topologische Überlegungen zur Idee der „Erinnerungsräume“ zusammen. Auch wenn Orte selbst nicht über ein Gedächtnis verfügen, „so sind sie doch für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume von hervorragender Bedeutung. Nicht nur, daß sie die Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer“ (Assmann 2003, 299). Vor diesem Hintergrund betrachtet kann die Stadt als ‚verortete‘ Geschichte angesehen werden, als ein Reservoir historisch aufgeschichteter politischer Erlebnisse, die in ihr ‚stadtgefunden‘ haben und kollektiv erinnert werden können (vgl. Amin/Thrift 2002, 22; Beveridge/Koch 2023, 153). Dabei sind Städte nicht zuletzt mit spezifischen Protesten verknüpft – man denke etwa an den ‚Pariser Mai‘, an die ‚Montagsdemonstrationen‘, wie sie in Leipzig ihren Ausgang nahmen, oder, weniger rühmlich, an ‚Pegida‘ in Dresden und ihre stadtspezifischen Ableger (‚Legida‘ in Leipzig, ‚Bogida‘ in Bonn, ‚Dügida‘ in Düsseldorf usw.). Die oben zitierte Aussage eines Demonstranten, wonach die Fridays for Future-Bewegung „40 Jahre Klimakämpfe“ fortführe, bezieht sich nicht auf eine gleichsam freischwebende Protestgeschichte, sondern ganz spezifisch auf die Protestgeschichte Frankfurts, nämlich auf die Demonstrationen gegen die Startbahn West in den frühen 1980er Jahren als einem wesentlichen Identifikationspunkt der Umweltbewegung. Solche prägenden und im kollektiven Gedächtnis archivierten Ereignisse können sich zudem mit ikonischen Orten verbinden (Tahrir-Platz in Kairo, Gezi-Park in Istanbul, Europäische Zentralbank in Frankfurt etc.), sodass neuerliche Proteste an jenen Orten eine besondere symbolische Strahlkraft entwickeln. Städte verfügen über eine Vielzahl an Erinnerungen und materiellen Szenerien für theatrale Aufführungen von Kollektivität und Dissens (vgl. Cavarero 2021, 27), die durch jeden handelnden Anschluss als Teil einer politischen Öffentlichkeit aktualisiert werden und neuerliche Anschlüsse in zukünftigen Gegenwarten möglich machen.

Zusammengenommen lässt sich die moderne Stadt somit als eine raum- und zeitstrukturell eigentümliche Vergesellschaftungsform begreifen (vgl. Barbehön 2023, 307-317), die der Tätigkeit bzw. dem Sinnraum des Protestierens einen fruchtbaren Nährboden zur Verfügung stellt. Es ist so besehen kein Zufall, dass vor allem in Städten protestiert wird – und mehr noch: es sind die momenthaften Ereignisse des Protestierens, die die typisch städtische Erfahrung einer Pluralität (von Zeiten) verwirklichen und reproduzieren. Raum und Zeit sind im Sinne einer sozialen Raumzeit (Weidenhaus 2015) miteinander verbunden und werden im und durch den Protest auf spezifische Weise verwirklicht.

5. Fazit

Protest kann nicht zuletzt deshalb als unkonventioneller politischer Handlungstypus gelten, da er in die etablierten Zeitordnungen der Alltagswelt und des politischen Regelbetriebs interveniert (vgl. Wolin 2016) und den offiziellen Orten der Regierungsgeschäfte politisch angeeignete und umgedeutete Räume entgegensetzt. Durch öffentliches Erscheinen und die kollektive Artikulation von Dissens, die sowohl an eine allgemeine Tradition des politischen Aufbegehrens als auch an eine spezifische Geschichte des Protestierens gegen diesen Missstand in dieser Art und Weise und an diesem Ort anschließen, werden die durchgetakteten und raumzeitlich aufeinander abgestimmten Routineabläufe der (politischen) Gesellschaft mehr oder weniger plötzlich gestört.

Es ist diese Form des sowohl gemeinsamen als auch widerstreitenden Handelns, so habe ich im Anschluss an Arendt und Mead sowie mithilfe ethnographischer Beobachtungen zu zeigen versucht, die eine den Protestierenden gemeinsame Zeit erzeugt, die sich als protestspezifische Gegenwart von anderen Gegenwarten absetzt. Was in der und durch die Praxis des Protestierens entsteht – und zwar sowohl für die Demonstrant*innen als auch für die (unerwarteten) Beobachter*innen –, ist, zeitlich betrachtet, die Erfahrung temporaler Pluralität, das sinnstiftende Erlebnis geteilter Zeiten, die die Menschen sowohl verbinden als auch trennen (vgl. Arendt 2002, 66). Die temporale Spezifik der Handlungsform des Protests liegt dabei darin, dass mit der kollektiven Konstruktion und Inszenierung einer anderen Zeit die politische Befähigung des Menschen besonders ein- und nachdrücklich verwirklicht und in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben wird; der Protest lässt markant und weithin sichtbar zutage treten, dass ein vermeintlich natürlicher Lauf der Zeit und ein vermeintlich alternativloser Gang der Geschichte durch unerwartete Neuanfänge durchbrochen werden können, und zwar indem die Unterbrechung etablierter Zeiten praktisch vor- und aufgeführt wird. Mit Isabell Lorey (2020) ließe sich hier von einer „präsentischen“ Praxis sprechen, in der die Jetztzeit des Protests nicht auf das aktual Gegenwärtige beschränkt ist, sondern durch Bezüge auf Vergangenes temporal ausgedehnt und durch Entwürfe alternativer Zukünfte neu konfiguriert wird. Es ist diese temporale Performativität des Protestierens, und weniger die inhaltlichen Forderungen, die im Protest artikuliert werden, die widerständiges Handeln zu einem herausragenden politischen Ereignis macht.

Zugleich ist die zeitliche Performativität des Protestierens mit einer räumlichen verwickelt. Die demonstrative Aufführung anderer Zeiten macht immer auch, zumindest für den Moment, einen ‚alltäglichen‘ Ort zu einer Bühne für die Sichtbarmachung eines politischen Subjekts und die Verwirklichung von Pluralität. In der modernen (Groß-)Stadt, so habe ich vor diesem Hintergrund argumentiert, findet die Handlungsform des Protests einen besonders fruchtbaren raumzeitlichen Zusammenhang, da hier zahlreiche Orte existieren, an denen unterschiedliche Gegenwarten aufeinandertreffen und demonstrativ gestört werden können, und da hier Protestgeschichten abgelagert sind, an die widerständige Praktiken erinnernd anschließen können. Dabei vollziehen sich die momenthaften Ereignisse des Protestierens nicht nur in der Stadt (als einem räumlichen Container), sondern sie realisieren und reproduzieren zugleich die typisch städtische Erfahrung von Heterogenität, Dichte, Dynamik, Wandelbar- und Neuartigkeit. So besehen liegt die politische Bedeutung der Stadt nicht primär darin, dass sie, wie freiheitlich-republikanische Perspektiven zumeist betonen (vgl. Frick 2023, 4-5), Formen der Selbstregierung und eine direkte politische Teilhabe ermöglicht (was auch der Fall sein mag), sondern zuallererst darin, dass sie die Pluralität der Welt, die gemeinsames Gegenhandeln möglich macht und befördert, zu einer unumgänglichen Alltagserfahrung werden lässt.

Diese Würdigung der Stadt ist nicht als Idealisierung oder Romantisierung zu verstehen. Das Prinzip des Einschlusses, das als raumstrukturelles Merkmal von Urbanität identifiziert wurde, besagt nicht, dass es in einer Stadt keine Ausschlüsse geben würde – es gibt derer sehr viele, und es sind gerade sie, die demonstratives Gegenhandeln möglich und nötig machen. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass die moderne Stadt nach außen offenbleibt und auf eine Grenzregulierung verzichtet. Es ist diese prinzipielle Zugänglichkeit, die ihre Dichte und Heterogenität steigert, was wiederum Ausgangs- und Bezugspunkt für Proteste sein kann.15 Darüber hinaus ist der hier eingenommene Blick auf die Stadt nicht als Erneuerung von Arendts (2002, 33-47, 241-263) idealisierter Bewunderung der antiken Polis zu verstehen. Die Polis war eine Ordnung, die die Möglichkeiten politischen in-Erscheinung-Tretens auf vielfältige Weise beschränkte und mit ihrer strikten (geschlechtlichen) Trennung zwischen häuslicher und politischer Sphäre gerade keine Möglichkeiten für die Aufführung alternativer Zeiten und Räume bot (vgl. Honig 2021).16 Und auch die überschaubare Größe der Polis, die ein direktes Miteinandersprechen und -handeln „auf kleinstem Raum“ (Arendt 2002, 260) erlaubt habe, ist nicht der raumstrukturelle Aspekt, der die politische Bedeutung der modernen Stadt ausmacht – ganz im Gegenteil ist es ihre Vielfältig- und Unübersichtlichkeit, sind es ihre Ambivalenzen und Widersprüche, die es gestatten, jenseits der Zeit-Räume des ‚offiziellen‘ politischen Betriebs demonstrativ Alternativen zur Erscheinung zu bringen. Mit der Wendung der Mikrophysik politischen Protests soll dazu eingeladen werden, diese raumzeitliche Performativität kollektiver Neuanfänge zum Gegenstand der politiktheoretischen und interpretativen Analyse zu machen, anstatt Zeit und Raum (im Newton’schen Sinne) als stabile Gegebenheiten politischer Ereignisse schlichtweg vorauszusetzen.

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Wolin, Sheldon S.: „Agitated Times“. In: Wolin, Sheldon S.: Fugitive Democracy. And Other Essays. Princeton, Oxford 2016, 438-448.



1Ich danke Viktoria Hügel und den beiden anonymen Gutachter*innen für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrags.

2Das heißt natürlich nicht, dass jeder Protest revolutionär ist, wohl aber, dass jeder revolutionäre Neuanfang in ‚demonstrativer‘ Abgrenzung von Bestehendem in Gang gesetzt werden muss (Arendt 2020, 48f.), da er sich andernfalls gar nicht als etwas Neues ausweisen könnte (siehe Abschnitt 2).

3 Anders verhält es sich mit dem Begriff des zivilen Ungehorsams, dem Arendt (1986) eine längere Abhandlung gewidmet hat (vgl. Heuer 2017). Dabei handelt es sich jedoch um eine spezifische Variante widerständiger Praxis, die vornehmlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen zivilem Ungehorsam und der (ihn ermöglichenden) Rechtsordnung aufwirft.

4Ob Arendt der phänomenologischen Theorietradition zugeordnet werden kann, muss und kann an dieser Stelle offenbleiben (siehe hierzu Loidolt 2018; Bedorf/Herrmann 2020). Die im vorliegenden Beitrag anvisierte Phänomenologie des Protests verweist zunächst nur auf ein spezifisches Erkenntnisziel, nämlich auf die Frage, wie die Praxis des Protestierens in Prozesse der „Sinnbildung“ (Loidolt 2020, 168) eingeschaltet ist und welche Art von Weltverhältnis sie entstehen lässt. Dies entspricht in etwa dem, was Armin Nassehi (2020) in Das große Nein: Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests unternommen hat, nur dass ich symbolisch-interaktionistisch und nicht systemtheoretisch argumentieren werde.

5Den Begriff der ‚Mikrophysik‘ borge ich von Michel Foucault (1977, 38), der damit sein Verständnis von Macht als einem „Netz von ständig gespannten und tätigen Beziehungen“ beschreibt; Macht ist hiernach „nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet“. An diese relationale Sichtweise (nicht allerdings an Foucaults Interesse an Machtverhältnissen) soll hier mit der losen Adaption des Begriffs angeschlossen werden, womit Zeit und Raum nicht als natürlich gegebene ‚Makrophänomene‘ erscheinen, sondern als bewegliche soziopolitische Entitäten (vgl. Weidenhaus 2015), die in Wechselwirkung mit spezifischen ‚Mikropraktiken‘, wie etwa jener des Protestierens, entstehen. Dieser Blick auf Zeit und Raum korrespondiert wiederum mit Foucaults (1977) Analyse der Disziplinarmacht, die er als andauernde und minutiöse Regulierung zeitlicher Abläufe und räumlicher Verteilungen versteht, und ebenso mit seinem Konzept der „Heterotopie“ als anderen Räumen, die sich mit spezifischen „Heterochronien“ verbinden (Foucault 2013).

6Zwar betont Arendt (2002, 226), dass das Bezugsgewebe, in das hinein gehandelt wird, „immer schon da war, bevor das Handeln überhaupt zum Zug kommt“ (worin die Aporie der Unabsehbarkeit ihre Begründung findet), jedoch folgt daraus nicht, dass Handeln allein in einer gegebenen und stabilen Wirklichkeit stattfindet. Handeln bedeutet immer auch, neue Fäden in das Bezugsgewebe einzuflechten, wodurch das Gewebe eine fortlaufende Veränderung erfährt.

7Noch deutlicher wird es in der englischen Fassung der Vita activa formuliert: „For us, appearance – something that is being seen and heard by others as well as by ourselves – constitutes reality“ (zitiert nach Thonhauser 2020, 205, meine Hervorhebung).

8Diese und andere Ähnlichkeiten sollen hier nicht überstrapaziert werden, da sich im Denken von Arendt und Mead auch wesentliche Unterschiede finden (vgl. Aboulafia 2001, 48-53), angefangen bei dem soeben zitierten Begriff der Gesellschaft, der bei Arendt in einem Spannungsverhältnis mit dem Begriff des Politischen steht (Reist 1990, 68-73).

9Ähnlich klingt es bei Arendt (2012, 14): „Aus der Sicht des Menschen, der immer in dem Zwischenbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft lebt, ist die Zeit nicht ein Kontinuum, nicht ein Flug von ununterbrochen Aufeinanderfolgendem; sie ist in der Mitte, dort, wo ‚Er‘ steht, aufgebrochen; und ‚sein‘ Standort ist nicht die Gegenwart, wie wir sie gewöhnlich verstehen, sondern vielmehr eine Lücke in der Zeit, die von ‚seinem‘ dauernden Kämpfen, ‚seinem‘ Standpunkt-Beziehen gegen die Vergangenheit und die Zukunft aufrechterhalten wird“.

10Dies waren eine Fridays for Future-Demonstration am 19. März 2021 in Frankfurt am Main, eine Querdenken-Gegendemonstration am 28. März 2021 in Darmstadt und eine Demonstration zum Tag der Arbeit am 1. Mai 2021 in Stuttgart. An diesen Demonstrationen habe ich aktiv teilgenommen und meine Eindrücke über Notizen, Fotografien und Tonbandaufzeichnungen dokumentiert. Insbesondere für die Frage nach den (temporalen) Erfahrungen, die im gemeinsamen Handeln des Protestierens entstehen, ist ein ethnographischer Zugang wertvoll, lässt sich doch die Performativität momenthafter Interaktionen bestenfalls ungenau mittels nachträglicher Rekonstruktionen (etwa in Form von Interviews) erschließen.

11 Der Zyklus kann als ein Versuch angesehen werden, das grundsätzliche „Zeitproblem“ von Protest anzugehen, nämlich die Herausforderung, ein Momentum auf Dauer zu stellen (vgl. Nassehi 2020, 100-110).

12Siehe https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.revolutionaeren-1-mai-demo-in-stuttgart-maidemo-eskaliert-teilnehmer-greifen-polizisten-an.a780e478-907a-4e99-974d-a7d4e13fe2a9.html (zuletzt aufgerufen am 03.03.2023).

13Die schwierige Frage nach der Legitimität von Protest ist damit freilich nur aufgeworfen und bei weitem noch nicht geklärt – siehe hierzu etwa die bei Arendt und Butler ansetzenden Überlegungen von Gerhard Thonhauser (2020).

14Mit dem Begriff des Regimes meint Butler vor allem autoritäre Herrschaftsordnungen, und entsprechend richtet sich ihr Interesse auf Versammlungen innerhalb solcher Systeme (wie etwa jene auf dem Tahrir-Platz in Kairo). Der Begriff des Regimes lässt sich freilich auch weiter fassen, z.B. mit Jacques Rancière (2002, 112) als „Regime des Sinnlichen“, das reguliert, wer und was wo, wann und wie in Erscheinung treten darf und Gehör findet, womit jede politische (bzw. mit Rancière gesprochen: jede polizeiliche) Ordnung den Charakter eines Regimes erhält (zum Verhältnis von Arendt und Rancière: Kasko 2020; Barbehön 2022).

15Dies schließt die Möglichkeit von Protesten gegen (wie auch immer verstandene) Heterogenität mit ein, weshalb auch mit Blick auf die Formen des Gegenhandelns keine Idealisierungen vorgenommen werden dürfen.

16Hieran anschließend und im Rückgriff auf unterschiedliche Interpretationen von Euripides’ Drama Die Bakchen hat Bonnie Honig ihre Feminist Theory of Refusal entwickelt, die sie als einen Dreischritt aus der Verweigerung gegenüber den (geschlechtlichen) Hierarchien in der Stadt, der Verwirklichung einer anderen Lebensweise außerhalb der Stadt und der Artikulation von Forderungen nach der Rückkehr in die Stadt konzipiert. Dabei verwendet sie den Begriff der Stadt jedoch gleichsam metaphorisch: „The city, in this book, is a figure for political community. It may be an actual city, but it may also be a state, a town, a village, or a neighborhood“ (Honig 2021, 1). Die raumzeitliche Spezifik der (modernen) Stadt kommt bei ihr somit nicht in den Blick.