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Ausgabe 1, Band 13 – Dezember 2023

Alexander Gantschow / Christian Meyer-Heidemann (Hg.), Bürgerbildung und Freiheitsordnung. Politische Bildung als republikorientierte Praxis


Rezension: Alexander Gantschow / Christian Meyer-Heidemann (Hg.), Bürgerbildung und Freiheitsordnung. Politische Bildung als republikorientierte Praxis, Frankfurt/M.: Wochenschau Verlag, 2023, 204 S., 27,90 EUR.

Die Festschrift Bürgerbildung und Freiheitsordnung. Politische Bildung als republikorientierte Praxis, herausgegeben von Alexander Gantschow und Christian Meyer-Heidemann, ist eine Essaysammlung anlässlich Karl-Heinz Breiers 65. Geburtstages. In neun Aufsätzen befassen sich die eingangs erwähnten sowie Barbara Zehnpfennig, Manuel Fröhlich, Peter Nitschke, Gisela Riescher, Joachim Detjen, Peter Massing und René Torkler mit Fragen der Politischen Bildung, häufig daran orientiert, an welchen Konzepten sich diese ausrichten sollte. Qua der Textlänge können die einzelnen Beiträge eher als Denkanstoß für politische Fragen der Gegenwart gelesen werden denn als hochdetaillierte Analyse, und durch den Schreibstil bieten sie einen lesefreundlichen Einstieg auch für Studierende.

In ihrem Aufsatz „Wer ist das Volk? Das Ringen zwischen populistischen Bewegungen und aufklärerischen Eliten“ setzt sich Barbara Zehnpfennig mit der Frage auseinander, wie gerechtfertigt die Rede von einem „geeinten Volk“ in Deutschland ist. Im Anliegen der Aufklärer zeigt sich ein Widerspruch: sie behaupteten einen Status der Gleichheit, beanspruchten aber die Deutungshoheit. Gleichzeitig sei es schwierig, von 'einem' Volk zu reden, da die Vielfalt eine komplette Einheit unmöglich mache – zur politischen Organisation dieser Vielfalt bilden sich Parteien, die per se kompromissaffin sein müssen, und ihre Vertreter bilden wiederum eine Elite. Entschieden wendet sich Zehnpfennig gegen eine 'Meinungselite', die im Gegensatz zur politischen Elite nicht demokratisch legitimiert ist, und den Wahrheitsanspruch, den sie auf bloße Glaubenssätze erhoben. Das Aufkommen einer 'politically correct' Ansicht verortet Zehnpfennig in jenen Momenten, in denen eine Gleichheit behauptet wird, aber in Realität nicht besteht – aber dass sie bestehen soll, sei nicht zu hinterfragen. Der sich bildende Widerstand in Form populistischer Bewegungen übe jedoch ebenso undifferenziert Kritik und mache ebenfalls den Fehler, sich als Stimme des Ganzen auszugeben, wo er doch nur Stimme eines Teils sei. Zehnpfennig spricht sich für eine selbstkritische Reflexion und politische Aktivität und Teilnahme aus, um diesen Dynamiken entgegenzutreten.
In „Was es heißt, ein Politiker zu sein – einige politiktheoretische Anmerkungen und eine Illustration“ sucht Manuel Fröhlich das Wesen des Politikers am Beispiel Donald Trumps. Vor dem Hintergrund von Gedanken Carl Schmitts, Dolf Sternbergers und Thomas Hobbes' kristallisiert er als Merkmal den Schutzauftrag des Politikers gegenüber seiner Bürger vor vermeidbarem Massensterben sowie Bürgerkrieg heraus – Aufträgen, denen Donald Trump nicht gerecht wurde. Er vermisst bei Trump jedoch nicht (nur) die für den Erfolg nötige Handlungskompetenz, sondern überhaupt das Verantwortungsgefühl als solches. Trump sei nur auf sich selbst fixiert und in seiner Funktion als Präsident in keinster Weise weltgewandt. Nach dieser normativen Bestimmung, die doch abgeschieden von wirklichkeitsorientierter Bestimmung sein kann, ist Trump trotz seines Amtes kein Politiker. Diese Maßstäbe zur Beurteilung der Politik zu finden, macht Fröhlich als die Aufgabe der Politischen Theorie aus.
Im folgenden Aufsatz, „Über die Relativität der Freiheit in der Demokratie“, setzt Peter Nitschke sich mit dem Konzept der Freiheit in Verbindung mit der Demokratie auseinander. Der Mensch bedürfe der sozialen Anerkennung seiner Freiheit durch andere, in diesem Sinne besteht eine Verbindung zwischen individueller Freiheit und der Freiheit der ganzen Gesellschaft, die sich nicht in bloßer Gegensätzlichkeit erschöpfen. Geht diese Balance verloren, ist die Demokratie in Gefahr. Die Bestandssicherung der Demokratie liegt somit unter anderem in der Verantwortung der Politischen Bildung, da diese, so Nitschke, für die Vermittlung des Wir und des Ich zuständig ist.

Gisela Riescher geht in ihrem Beitrag „Das Unternehmen als Bürger – eine demokratietheoretische Zumutung“ der Frage nach, wie Corporate Citizenship gelingen kann – über das Zusammendenken von Demokratietheorie und Wirtschaftsethik. Riescher plädiert für einen kommunitaristischen Ansatz, der die verschiedenen Handlungsräume in der Gesellschaft verbindet und so eine Balance findet zwischen den widerspruchsgeneigten Zielen des Eigennutzes und der Gemeinwohlorientierung.

Auf die Suche nach Parametern für gelingendes öffentliches Streiten macht sich Joachim Detjen in seinem Aufsatz „Deformationen des politischen Streitens – eine Gefahr für die Stabilität einer Republik?“ Nach Detjen bedarf es einer allgemeinen Praktik des öffentlichen Streitens, um überhaupt einen ‚Bürgersinn‘ zu entwickeln – es gehört zur politischen Mitgestaltung dazu. Diese Streitpraktik müsse inklusiv und von Gleichheit und Anerkennung des Gegenübers geprägt sein. Auf Seiten der politisch Rechten wie auch politisch Linken würden diese Grundsätze jedoch immer wieder nicht eingehalten. Detailliert im Rahmen der Möglichkeiten konstruiert er die verschiedenen Streitstrategien; die politische Rechte bediene sich Provokationen und Vereinfachungen, die über eine Zerstörung der gemeinsamen Bezugswirklichkeit auch das Fundament der Politik der Republik ins Wanken brächten. Die politische Linke wiederum nutze Moralisierungen und schlösse so Positionen und Teilnehmer vom allgemeinen Diskurs aus, so entstünde ein ‚Scheinkonsens‘. Als Lösung schlägt Detjen ein Streiten ohne Feindseligkeiten vor, dessen es, angelehnt an Kant und Arendt, einer erweiterte Denkungsart bedarf, in der ‚das Denken des anderen präsent ist‘. Eine Sprache der Mitte und eine gewisse Mäßigung erhielten die Streitkultur und so die Republik.

Im Aufsatz „Normative Grundlagen der Politikdidaktik“ wiegt Peter Massing verschiedene Demokratiemodelle gegeneinander ab hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als normativer Orientierungspunkt für die Politikdidaktik. Während ein an Eliten orientierter Demokratieentwurf laut ihm den Bürgern zu wenig Bedeutung kommen lässt, würden pluralistische und kommunitaristische Demokratietheorien zwar ein geeignetes Bürgerideal verfolgen, aber zu sehr auf des Bürgers Kompetenz und Teilhabe vertrauen. Als geeignetes Orientierungsmodell schlägt Massing schließlich das Modell der ‚embedded democracy‘ vor – dieses verbinde Demokratie mit Bürgermodell und sei am besten geeignet, zum Verständnis der demokratischen Gesellschaft und der Rolle des Individuums in ihr hinzuführen.

Ein begriffsgeschichtliches Anliegen verfolgt René Torkler in seinem Beitrag „Bildung als Artikulation menschlicher Möglichkeiten – Ein Versuch über die begriffsgeschichtliche Dimension philosophisch-politischer Prozesse.“ Begrifflich-kategoriale Reflexion sei eine der Bedingungen für eine Erweiterung der eigenen Artikulationsmöglichkeiten, welche im Zentrum philosophischer Bildungsprozesse stünden. Der Annahme, das zentrale philosophiedidaktische Prinzip sei die Problemorientierung, möchte Torkler widersprechen – denn Problemlösungsfähigkeiten alleine weckten keine Fähigkeiten zu einer Neubeschreibung, lediglich zum Umgang mit Gegebenem. Daher müsse es der Philosophie ein Anliegen sein, das Vokabular zu erweitern, denn auf diese Weise erweitere sich auch die Artikulationsfähigkeit. Mit Arendt und Taylor macht Torkler deutlich, wie eng verknüpft Begriff und Bedeutung sei und wie relevant daher begriffshistorisches Wissen für die eigene Bildung ist. Torkler gibt jedoch keine ‚Liste an wichtigen Begriffen‘ vor, sondern entwickelt den Begriff als Abstraktum und möchte ihn als Kategorie nach R. Koselleck verstanden wissen. In diesem Sinne sind Begriffe Konzepte von den Oppositionspaaren Früher/Später, Innen/Außen und Oben/Unten; kategoriale Rahmenbedingungen, um eine Geschichte als sinnvoll zu verstehen. Mit diesen Grundbegriffen als theoretischen Boden verstünden wir Geschichten, die für die Vermittlung von Bildung vonnöten sind, da Geschichten die Grundlagen für das Verstehen menschlicher Möglichkeiten und ihrer Begriffe bildeten, über die das Subjekt sich in der Welt zu orientieren lerne. In diesem Sinne verfügen sie auch über prognostisches Potenzial und können ‚Zukunftswissen‘ vermitteln – das zentrale Anliegen der Bildung, die als zukunftsbezogene Idee sich in erster Linie darum mühen sollte, zur Erschließung der Welt – auch einer Welt, die erst noch sein wird – zu befähigen.

Einen weiteren Vorschlag zum Leitkonzept Politischer Bildung macht Alexander Gantschow in seinem Aufsatz „Amor mundi und die Erziehung zum Politischen – Zur impliziten Pädagogik im politischen Denken von Hannah Arendt.“ Hier erörtert er Arendts Entwurf eines der Moderne gerecht werdenden Bildungsanspruchs, der als Vermittlungsaufgabe verstanden wird. Arendt versteht hier, so Gantschow, die Moderne als Bruch mit vorherigen Denkmustern, losgelöst von bisherigen Traditionen und Autoritäten – eine Systemkrise wie auch gleichsam eine Chance auf eine neue Freiheit. Dabei wird der antiautoritären Erziehung eine Absage erteilt, sei Erziehen doch notwendige Tätigkeit, Übernahme der Verantwortung für die Welt. Erziehen in diesem Sinne vermittle zwischen dem Selbst des Kindes und der Welt; die notwendige Verbindung, um politisch Handeln und gänzlich als ein Jemand in Erscheinung treten zu können; so gesehen ist Erziehung als anleitende Tätigkeit Ermöglichung. Sie darf sich nicht rein am Subjekt orientieren und zum Aufbau der eigenen, sondern einer gemeinsamen Welt hinleiten. Was die Erziehung Kindern mitgeben soll ist Erfahrung darin, wie gedacht wird; Verständnis der Welt erlangt der Mensch nur über eine entsprechende Urteilsfähigkeit. Die im Weltbezug sich zeigende amor mundi, die die Spontaneität des Neuen mit der Kontinuität des Alten verbindet, soll laut Gantschow Inspiration für jegliche Politische Bildung sein.

Christian Meyer-Heidemann geht in, „‘Ein Selbst ist man nur unter anderen Selbsten.‘ – Identitätsbildung als Herausforderung der politischen Bildung“ der Frage nach, welches Identitätskonzept von der Politischen Bildung vermittelt werden sollte. Die eigene Identität, in der Moderne Ausgangspunkt für gesellschaftliche und politische Verortung, sei nach Taylor ein Ergebnis der Selbsinterpretation. Sie werde jedoch nicht vom Individuum alleine beschlossen, sondern erst im Dialog mit anderen ausgehandelt und in wechselseitiger Anerkennung gebildet. An diese Annahme knüpft die Politische Bildung an. Aus der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit einerseits, Originalität andererseits, entstehe ein Spannungsfeld, das zur vieldiskutierten Identitätspolitik führe. Mehr als um identitätspolitische Analysen geht es ihm um die Frage, welche Identität von der Politischen Bildung gebildet werden solle, und er findet die Antwort in der Bürgeridentität, dem Selbstverständnis eines jeden als freier Bürger. Dieses bedürfe stets öffentlicher Selbstauslegung und Erörtern des gemeinsamen Zusammenlebens; die Entstehung der Identität, die sich darin vollzieht, sei eine Kernaufgabe der Politischen Bildung. Vielfalt und Andersheit vereinbar zu machen, sei ihre Herausforderung, und dies geschehe über eine Identifikation der Individuen mit einem gemeinsamen politischen Lebenszusammenhang. Politische Bildung muss in diesem Sinne selbst hervorgebracht werden; ihr Sinn ist Freiheit.

In den in diesem Band gesammelten Beträge ist enger Bezug zu Hannah Arendts Schriften nicht allzu oft gegeben, beschäftigen sich viele Beiträge doch eher mit den die politische Theoretikerin umgebenden Begriffen als mit Arendts konkreter eigener Arbeit. Ohnehin wurde diese Festschrift anlässlich Karl-Heinz Breiers 65. Geburtstages veröffentlicht – auf seine republikanische Theorie nehmen die Texte wohl darum öfter Bezug. Zum tieferen Verständnis einiger Aspekte ist tieferes Vorwissen in politischer Philosophie vonnöten, doch jeder Text bietet auch einen Anknüpfungspunkt für Themenneulinge und ist verständlich geschrieben. Bürgerbildung ist lesenswert als Themeneinstieg und „Appetithäppchen“ für Einsteiger oder auch Denkanstoß für bereits auf das Themenfeld Spezialisierte hinsichtlich umfangreicherer Forschung. Die gesammelten Aufsätze eignen sich als Impulse für tiefergehende philosophisch-politische Analysen und verlieren dabei doch nicht ihren konkreten und aktuellen Weltbezug.

Clara Wanning, Goethe Universität Frankfurt