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Ausgabe 1, Band 13 – Dezember 2023

Bruno Heidlberger: Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken: Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien


Rezension: Bruno Heidlberger: Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken: Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien. Bielefeld, Transcript 2023, 31,99 EUR.

Bruno Heidlberger legt mit seinem Buch zum Freiheitsbegriff bei Hannah Arendt eine Reflexion über die gegenwärtigen Herausforderungen für die liberaldemokratische Welt vor, die die globalen Gefahren vor allem ausgehend von Russlands Angriff auf die Ukraine und der Klimakrise in den Blick nimmt. Sein Ziel ist es, Anknüpfungspunkte an Arendts Denken herauszuarbeiten, die helfen sollen, aktuelle politische Phänomene und die Notwendigkeit ihrer Beurteilung kenntlich zu machen. Heidlberger legt den Bedeutungsgehalt von Kontingenz und Pluralität in Arendts politischer Theorie frei und reflektiert aus dieser republikanischen Perspektive über aktuelle Herausforderungen und Krisen. Arendts Denken sei für Heidlberger deshalb so wertvoll für die Analyse und Reflexion der Gegenwart, weil sie, wie er schreibt, mit Hilfe von idealtypischen Begriffen, wie „Polis, Revolution, amerikanische Verfassung, Republik oder Handeln“ (263), eine sinngebende Methode der Beurteilung des realen Geschehens entwickelte, die die gegenwärtige Orientierungsschwierigkeit innerhalb von Politik und Gesellschaft mit ihrem Handlungsansatz aufzulösen vermag. Wesentliche Bedingung ist für Heidlberger dabei, das heutige konsumdurchdrungene und weltvergessene Freiheitsverständnis zu hinterfragen und Freiheit angesichts des merkwürdig unfassbaren Bösen in Gestalt autoritärer Herrscher neu zu denken.

Heidlberger unterteilt sein Buch in zwei Teile und insgesamt 19 Kapitel. Der erste Teil beschäftigt sich mit Arendts Rekonstruktion des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens seit Platon (Kapitel 2 bis 11). Im zweiten Teil (Kapitel 12 bis 19) geht Heidlberger der Frage nach, worin das politische Urteilen genau besteht und welche Relevanz es trotz der Vorwürfe einer Rückwärtsgewandtheit (I. Berlin, J. Habermas, A. Honneth etc.) in der heutigen Spätmoderne beanspruchen kann und sollte.

Der Autor hebt im ersten Kapitel mit der Zeitenwende an, die spätestens „mit dem Überfall und dem Vernichtungskrieg Russlands auf die Ukraine“ (17) eingesetzt habe. Diese historische Zäsur mache das Nachdenken über Arendts Politikbegriff dringend erforderlich. Der Autor beobachtet in Russland eine Abschaffung der Politik: „Moskau kann als das Zentrum eines neuen Faschismus bezeichnet werden.“ (35). Diese Klarheit vermisse Heidlberger bei Politiker:innen und Intellektuellen in Deutschland und Europa, insbesondere bei linken Denker:innen. Sie seien gefangen „im Paradigma des kommunikativen Handelns von Habermas, bei dem die Akteure versuchen, ein gemeinsames Verständnis zu erreichen“, und deshalb schlichtweg blind für die „von uns verdrängte zeitlose Realität nackter Gewalt.“ (52) Vor allem aber sollten die Gefahren für die Freiheit nicht unterschätzt werden, denn alles sei jederzeit möglich, auch die Wiederkehr des Totalitarismus. Mit Hilfe von Arendts Untersuchung zum Totalitarismus und ihrer Bestimmung des Politischen als Handeln will Heidlberger eine konkrete Handhabe entwickeln, den „Mangel an republikanischer Verantwortung“ zu beheben und somit den „Fortbestand von Freiheit und Demokratie“ (68) zu sichern. Es gehört zu den Stärken des Buches, dass der Autor Arendts Theorie immer wieder aus ihren biografischen und historischen Kontexten und gleichsam wie im Dialog mit ihrem Umfeld und der heutigen Rezeption ausleuchtet. So gelingt es Heidlberger, den Hauptvorwürfen an Arendt, nämlich u.a. in Nostalgie zu schwelgen, das Politische gegen das Soziale auszuspielen, einen philosophischen Kolonialismus zu betreiben oder die Philosophie Kants falsch ausgelegt zu haben diskursiv und im Sinne einer konstruktiven und anschlussfähigen Interpretation zu begegnen. Heidlberger ordnet Arendts Denken vor dem Hintergrund ihrer Verbindungen und philosophischen Verknüpfungen und Trennungen zu Heidegger und Jaspers ein: „Die Entdeckung der menschlichen Pluralität ist Arendts Antwort auf Heideggers Isolationismus.“ (80) Jaspers habe Arendt die Bedeutung der Freundschaft als Basis für das Humane und Treue als Zeichen von Wahrheit vor Augen geführt. (148)

Den Ausgangspunkt für Arendts Denken sieht Heidlberger in ihrem Streben nach einer Neugründung: „Es ist diese Erfahrung ihrer Zeit und die Hilflosigkeit von Philosophie und Politik, die Arendt über einen neuen Begriff von Politik nachdenken lässt.“ (90) Dabei diene ihr die Antike als Orientierungspunkt, um ihre Begriffe einer prozesshaften, dynamischen Freiheit und Sorge um die Welt zu entwickeln. Weder der liberalistische Freiheitsbegriff von John Locke noch die ökonomische Dialektik von Karl Marx, sondern nur das republikanische Staatswesens könne die Freiheit schützen. (97) Heidlberger interpretiert Arendts Denken als ein überparteiliches: „ihr archimedischer Punkt liege zwar in der Welt, aber er gehöre keiner Partei.“ (144) Entgegen einer Interpretation von Arendts Freiheitsdenken als radikale Demokratietheorie (Habermas, Pettit) hebt Heidlberger hervor, dass für Arendt nicht allein der Macht- und Handlungsbegriff, sondern auch der Institutionenbegriff und die „Gründung einer dauerhaften Ordnung“ (101) von entscheidender Bedeutung gewesen seien. Heidlberger sieht in Arendts Begriff der Stiftung von Neuem den Kern ihrer Freiheitstheorie. Nicht durch geschichtliche und soziale Notwendigkeit, sondern allein durch das gemeinsame Handeln der Menschen könne sich Veränderung vollziehen. Arendt beziehe dabei das solidarische Verhältnis der Menschen untereinander durch ihren Begriff der „Sorge um die Welt“ mit ein: „Ziel der Solidarität muss sein, eine Welt zu schaffen, in der die Unterdrückten und Entrechteten ihre Interessen selbst vertreten können.“ (107) Es sei gerade Kennzeichen der revolutionären Gründungsaktes, sich von der Unterdrückung zu befreien, um forthin für seine Interessen einstehen zu können und gemeinsam Verantwortung zu tragen. In einer solchen „Republik des Dissenses“ (111) sei eine fortwährende Balance zwischen Ordnung und Neuordnung institutionalisiert.

Kritisch anzumerken ist, dass Heidlberger an diesem Punkt seines Buches nicht auf Arendts sehr bedeutsamen Begriff des „Abgrunds der Freiheit“ in Vom Leben des Geistes (Arendt 2020, 421ff) eingeht und thematisiert. Unter dem Begriff des „Abgrunds“ versteht Arendt die Unwissenheit und Begrenzung der Menschen angesichts ihrer Fähigkeit zum Anfangenkönnen. Die politische Freiheit grenzt sich von einer durch Notwendigkeit bedingten Freiheit ab und wird von Arendt als Freiheit in der Kontingenz bestimmt, nämlich in Unabhängigkeit von Erkenntnisfähigkeiten und transzendenten Einsichten und als Spontaneität etwas „zu tun, was auch ungetan bleiben könnte.“ (Arendt 2020, 425) Heidlberger widmet der systematischen Erschließung von Arendts Freiheit als reiner Spontaneität kein eigenes Kapitel, obwohl Arendt selbst auf die Dramatik einer solchen Freiheit hinweist. Sie schreibt, dass die Menschen durch ihr Geborensein zugleich „zur Freiheit verurteilt“ sind, „ob wir nun die Freiheit lieben oder ihre Willkür verabscheuen.“ (Arendt 2020, 443) Zugleich sei mache es der Abgrund der Freiheit überhaupt notwendig, sich mit der Urteilskraft als drittes geistiges Vermögen zu beschäftigen. Die Freiheit der reinen Spontaneität auch als Bürde aufzufassen, zieht die Frage nach sich, wie Macht und Gegenmacht organisiert werden können, damit sich die Menschen dieser Bürde nicht leichthin entledigen. Noch konkreter stellt sich die Frage, wie politisches Handeln Autorität beanspruchen kann. Der von Heidlberger gescholtene postmoderne Denker Jacques Derrida hätte sich hier zumindest in diesem Aspekt als interessanter Gesprächspartner angeboten, wie Bonnie Honig in ihre Aufsatz Declarations of Independence herausarbeitete (Honig 1991).

Nach der Beleuchtung des Freiheitsbegriffs widmet sich Heidlberger in den restlichen Kapiteln des ersten Teils (7 bis 11) Arendts Analyse der Moderne. In Abgrenzung zu zur politischen Philosophie seit Platon bis hin zu Heideggers weltabgewandten Philosophie des Seins habe Arendt das Leben und Handeln als Sinnquellen der Menschen ins Zentrum ihrer Theorie gerückt. Angesichts der modernen Verhältnisumkehrungen von Welt und Leben, Privatheit und Öffentlichkeit und des Handelns als Praxis und der Poiesis (Herstellen) habe Arendt die Freiheit im Handeln wiederentdeckt. Arendts Begriff des Handelns als ziellose Tätigkeit eigene sich dem Autor zufolge in besonderer Weise als Ansatzpunkt für eine Kritik des modernen rationalen Politikverständnisses, da sich dieses „dem Reichtum schöpferischer Intelligenz“ (124) vollkommen verschlossen habe.

Heidlberger arbeitet heraus, dass die Abgrenzung der Tätigkeitsbereiche bei Arendt nur von analytischer und nicht etwa substanzieller Art seien. Arendt ziele mit der analytischen Trennung auf eine phänomenologische Reduktion, um „aus einer ungewohnten Perspektive auf die Probleme der Moderne zu schauen.“ (125) Die Hauptprobleme der Moderne, die Weltentfremdung und Freiheitsvergessenheit, ergäben sich in erster Linie aus der Enteignung der Menschen durch den Kapitalismus. Das Privateigentum gehört nach Arendt zu den „elementarsten politischen Bedingungen für die Entfaltung von Weltlichkeit menschlichen Daseins.“ (Arendt 2018, 324) Dementsprechend sei es nach Heidlberger und mit Arendt gesprochen wichtig, die verschiedenen Enteignungsformen im kapitalistischen Wirtschaftssystem kenntlich zu machen und den Primat des Politischen zu stärken. Die Globalisierung mache in besonderer Weise augenscheinlich, dass die Einheit der Menschheit nicht als politisches Projekt, sondern schlichtweg als Tatsache vorgestellt wird, die in Form von wirtschaftlichen Abläufen und der „Doktrin des Fortschritts“ (133) realisiert wurde. Die durch das Wirtschaften und Herstellen gekennzeichneten Massengesellschaften beraubten die Menschen ihrer menschlichen Dinge, wie „Wirklichkeit“, „gegenständliche Beziehung zu anderen“ und Möglichkeit, etwas Beständiges zu leisten (136). Heidlberger weist darauf hin, dass Arendt davor gewarnt habe, den Wert des Wohlstands vor dem der Freiheit zu priorisieren. Alle Menschen trügen dafür die Verantwortung, das Gemeinwesen durch die Verwirklichung ihrer Interessen nicht zu beschädigen.

Im 10. Kapitel geht der Autor neben dem Freiheitsbegriff auf einen weiteren wesentlichen Aspekt in Arendts Werk ein, nämlich den der Freundschaft und Treue, welche der Autor im zweiten Teil seines Buches auch als eine Freundschaft zu sich selbst weiterdenkt. Es sei Jaspers gewesen, der Arendt auf die Bedeutung der Freundschaft hingewiesen hat. Für Arendt waren es freundschaftliche Beziehungen und die Ereignisse und Erfahrungen des Miteinanderseins, die den Kern des Wirklichen bildeten: „Das Denken in der politischen Welt erwächst für Arendt aus der lebendigen Erfahrung.“ (148) Damit sei dem Denken bereits seine wichtigste Eigenschaft vorgezeichnet, sich nämlich „zu seinen eigenen Resultaten destruktiv“ zu verhalten und „eine metaphysische Idee einer reinen Erkenntnis und absoluten Wahrheit“ abzulehnen. (149)

Der Autor stellt daraufhin (in Kap. 11) die Frage in den Raum, ob das Denken selbst auch die Sittlichkeit fördern könne. Anhand einer Analyse von Arendts Theorie des Bösen und vor allem in kritischer Beleuchtung ihrer Kantauslegung kommt der Autor zu dem Schluss, dass es kein unschuldiges Denken gebe. Nach Arendt wurzele das Böse im Nichtdenken. Anders als Kant, für den der Wille und Gebrauch der Vernunft für die Verhinderung von Bösem notwendig gewesen seien, „betont Arendt die Notwendigkeit des autonomen Denkens.“ (154) Heidlberger unterstreicht den Unterschied zu Kants moralischem Imperativ, wenn er Arendts Kriterium für Recht und Unrecht nicht im moralischen Gesetz, sondern in einem richtigen Selbstverhältnis sieht - in der Art von mit sich selbst im Einklang stehen und sich selbst kontinuierlich mögen können.

Das sokratische Fragen und nicht die Befolgung des Vernunftgesetzes bringe die Menschen zur Hinterfragung ihrer Vorurteile und zum Selbstdenken. Arendt habe Kants Moralphilosophie für zu rigoristisch gehalten und die Grundlage des moralischen Handelns deshalb nicht im guten Willen, sondern im autonomen Denken in Form des sokratischen Zwiegesprächs angelegt. Das denkende Zwiegespräch ist weder gut noch böse und der Mensch bleibe eins mit sich selbst: „In existenziellen Situationen kann der Wunsch, mit sich selbst befreundet zu bleiben, für ein sittliches Urteil entscheidend sein.“ (165)

Im zweiten Teil des Buches (Kap. 12 bis 19) analysiert Heidlberger das politische Urteilen und dessen Relevanz in der Spätmoderne. Arendts Untersuchungen zur „Banalität des Bösen“ hätten Arendt vom radikal Bösen zum „Vermögen und Versagen der politischen Urteilskaft“ geführt. (170) Arendts Beschäftigung mit der Urteilskraft habe die „Frage nach der Abwehr des Bösen beantworten“ sollen. (170) Im 12. Kapitel geht der Autor ausführlich auf die Analyse des §40 in Kants Kritik der Urteilskraft ein, um Arendts Interpretation einzuordnen. Er arbeitet in systematischer und vor allem auch kritischer Weise Arendts Umdeutung von Kants Philosophie heraus. Dieses Kapitel sticht hervor, weil die Grundlagen von Kants praktischer Philosophie klar und im Zusammenhang herausgearbeitet werden und Arendts Fehlinterpretation dadurch nachvollziehbar wird. Im Kern, so argumentiert Heidlberger dann, habe Arendt einen phänomenologischen Ansatz aufbauend auf dem Begriff des Faktums der Pluralität entwickelt, der fundamental vom Kantischen Ansatz der Ergründung der Gesetzmäßigkeit der Geistestätigkeiten abweiche. Im Kapitel 12.5 zu Transzendentalphilosophie versus Phänomenologie führt Heidlberger leider nur sehr oberflächlich aus, was er unter Arendts phänomenologischem Ansatz versteht. Auch durch das Buch hindurch werden eher kursorische Anmerkungen dazu gemacht, bis im Kapitel 13 im Zusammenhang mit Arendts Begriff der Pluralität Sophie Loidolts phänomenologische Arendtauslegung ins Feld geführt und endlich ab Seite 191 ausführlich dargelegt wird. Auch hier wäre ein früherer und systematisch orientierter Zugang hilfreich gewesen.

Auch wenn Heidlberger Arendts Kantauslegung als unhaltbar erachtet, hält er ihre Theorie einer politischen Kommunikationsgemeinschaft als Urteilsgemeinschaft für plausibel. Diese Urteilsgemeinschaft bedeutet: „Man müsse die eigenen Urteile auf Basis von Tatsachen nicht nur selbst reflektieren, sondern sie mit anderen abstimmen - und dies im Bemühen um Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit.“ (178) Entscheidend sei nicht der argumentative Zwang, sondern die Offenheit gegenüber anderen. Kann diese Offenheit aber in sich schon eine normative Geltung beanspruchen? Heidlberger führt dazu Benhabibs Feststellung an, dass Arendts phänomenologische Herangehensweise zwar keine normative Rechtfertigung enthalte, die ethische Grundlage des Politischen sich neben den universalistischen Menschenrechten jedoch in der „Bedingtheit der Pluralität“ finden lasse, nämlich „eine Erde mit anderen zu teilen“. (182)

Im Angesicht der aktuellen Krisen stellt Heidlberger fest, dass die heutigen Debatten von zu wenig Vernunft geprägt seien. Eine Mitschuld für diese Misere sieht Heidlberger nicht nur bei den Populisten, sondern auch bei den postmodernen Philosophen (Derrida, Baudrillard, Lyotard etc.), die an der „Zerstörung von Maßstäben für Wahrheit“ (186) beteiligt gewesen seien, ein für Kant und Arendt noch wesentlicher Maßstab des Urteilens. Arendt habe insistiert, dass die Tatsachenwahrheit durch die Menschen „bezeugt“ (189) werden können müsse. Politik sei zwar nicht auf Wahrheit gegründet, sondern auf Vielheit von Meinungen im Anblick der Tatsachen. Aber erst aus der „Inanspruchnahme der Tatsachen im politischen Diskurs“ ergebe sich eine „Dignität der Meinung.“ (190) In der heutigen postfaktischen Welt werde dieser Wahrheitsbezug infrage gestellt und diese Infragestellung durch unkontrollierte digitale Medien auch noch verstärkt. Heidlbergers skeptisches Urteil über die Digitalisierung als einer Herrschaft der Informationen, die die Welt entwirkliche (242), ist rückgekoppelt an seine Kritik der technisch-ökonomischen Entwicklung (235). Es muss kritisch angemerkt werden, dass die schnelle Verurteilung der Digitalisierung keine Diskussion der in demokratisierenden und vor allem partizipativen Möglichkeiten mehr zulässt.

Heidlberger sieht aktuell auch den Gemeinsinn durch linke wie rechte identitätspolitische Forderungen gefährdet. Arendt habe ein „'Wir' im Sinne von Rechtsgleichheit ohne Aufgabe der Identität“ gefordert. (198) In den gegenwärtigen Identitätspolitiken werde Heidlberger zufolge zu wenig nachvollzogen, dass Kämpfe für soziale Gerechtigkeit historisch meist auch aus identitätspolitischen Gründen geführt wurden. Der Kern von Arendts politischer Theorie der Pluralität bestehe in der Zurückweisung von Gleichheitsforderungen und Einigkeit: „Nicht in der Assimilation, sondern in der Treue zu sich sah sie den Weg der Paria.“ (199) Der Autor betrachtet mit Arendt vor allem den Minderheitenschutz als einen wesentlichen Bestandteil der pluralistischen Demokratien. (Kap. 15). Jedweder Form von Exklusion müsse Einhalt geboten werden. Arendts Diktum des Rechts, Rechte zu haben, fordere im Kern die Verhinderung von Weltlosigkeit durch Rechtlosigkeit. Dem Vorwurf, dass Arendt in ihrem Werk selbst rassistische Stereotype bediene (Kap. 16), begegnet der Autor mit dem Hinweis, dass Arendt grundsätzlich an der genauen Beschreibung von Phänomenen interessiert sei, um die Leser:innen dadurch reflektieren zu lassen. Durch ihren Fokus nicht auf das Leid, sondern auf das Übel führe sie die Entwicklungen der Entweltlichung vor Augen. Die „vorwegnehmende Angst“ gelte ihr als Erzählmittel, um die Grundfrage des politischen Urteilens immer wieder erneut zu stellen, nämlich „ob sie [die Ereignisse, MB] einer totalitären Entwicklung dienen oder nicht.“ (225)

In den letzten Kapiteln (17 bis 19) thematisiert Heidlberger die Anknüpfungspunkte an Arendts politisches Denken für die Spätmoderne. Durch den Siegeszug der Wissenschaften hätten die Menschen sehr machtvolle Möglichkeit des Weltschaffens eröffnet bekommen, allerdings nur „im Gefängnis“ (231) ihrer selbstgeschaffenen Systeme. Die technische Verfügbarmachung der Natur bedrohe mittlerweile jedoch nicht nur die Freiheit, sondern die Existenz der gesamten Menschheit. Politische Freiheit ist für Heidlberger „nur innerhalb der Grenzen, die uns unsere Mitmenschen und die Natur setzen, denkbar.“ (235)

Die drängende ethische, und damit auch politische, Frage, die sich Arendt gestellt habe, war die nach der Richtung des technologischen Fortschritts. Die heutige „Urteilsmüdigkeit “ (241) werde durch die Klimaaktivisten aufgerüttelt, die ihre berechtigten Forderungen nach einer zukunftsfähigen und gerechten Klimapolitik ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rufen. Generell fasst Heidlberger zusammen, dass die Spätmoderne (in Anlehnung an Andreas Reckwitz) die Singularisierung der Menschen (243) und die Entwicklung einer „abstrakten Gesellschaft“ (241) hervorgebracht habe. Der Bezug auf Dinge und Mitmenschen sei verloren gegangen, das Vertrauen zueinander sei gestört, Aberglauben und Leichtgläubigkeit nähmen wieder zu und das demokratische Wertesystem werde sukzessive aufgekündigt (244).

Die Ignoranz gegenüber diesen „unliebsamen Tatsachen“ (246) werde die Probleme der Zukunft jedoch nur noch verstärken. Der Autor sieht sein Werk als Beitrag für einen möglichen Ausweg, nämlich mit Arendt Freiheit neu zu denken und dadurch ein menschenwürdiges Leben für alle zu schaffen. Die sich durch die gegenwärtigen Krisen ankündigende zweite Globalisierungswelle solle mit einer global governance gestaltet werden und den Liberalismus (auch in der souveränen Ukraine und in Russland) erneuern helfen. (261) Zum Abschluss appelliert Heidlberger noch einmal sehr eindringlich: „ohne Freiheit ist alles nichts.“ (262)

Heidlbergers Zugang zu Arendts Freiheitsbegriff ist nicht systematisch angelegt, sondern in der Form eines reflektierenden Dialogs zwischen Arendts Denken und ihren Vorläufer:innen, Wegbegleiter:innen, Kritiker:innen und Interpret:innen. Die Aufteilung des Buches in eine Vielzahl an nicht immer gleich langen Kapiteln erschwert es teilweise, sich in die jeweilige Themenstellung hineinzufinden. Die stete Einblendung der gegenwärtigen Krisen, vom Ukrainekrieg über die Corona-Pandemie bis hin zur Klimakrise, in die Interpretation von Arendts Denken ist erhellend und verdunkelnd zugleich. Einerseits ermöglicht der Autor dadurch eine direkte Auflösung der Arendtschen Begriffe, wie Pluralität, Handeln und Welt, in der Formulierung der Problemstellungen unserer Zeit. Begriffliche und theoretische Ambivalenzen in Arendts Denken werden zugunsten ihrer Anwendbarkeit nur touchiert. Andererseits leitet der Autor aus der Behandlung von Arendts Freiheitsdenken zugleich einen Weckruf bzw. moralischen Appell ab, der sich stellenweise sehr überspitzt und im Arendtschen Sinne cum ira liest. Er gibt damit im besten Sinne eine Anleitung zur Übung und Schärfung des rebellischen Widerspruchsgeists, der der Urteilsmüdigkeit auf die Sprünge hilft.

Martin Baesler

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg