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Ausgabe 1, Band 13 – Dezember 2023

Lea Mara Eßer: Vom Schweigen des Guten. Hannah Arendts Theorie der Menschlichkeit


Rezension: Lea Mara Eßer: Vom Schweigen des Guten. Hannah Arendts Theorie der Menschlichkeit, Bielefeld: transcript Verlag 2023, 327 S., 60,00 EUR.

Lea Mara Eßer fragt in ihrer Dissertation nach dem Guten bei Hannah Arendt. Sie untersucht Denken, Urteilen und Erzählen bei Arendt hinsichtlich des Guten, das, so eine zentrale These, mit dem Menschlichen zusammenfällt und in genannten sprachlich vermittelten Formen zum Ausdruck kommt (vgl. S. 28f.). Mit Weitblick über Arendt hinaus – im Besonderen dem Werk Walter Benjamins zugewandt – sowie mit zahlreichen Gegenwartsbezügen und in Auseinandersetzung mit Literatur fasst Eßer eine Thematik, die sonst in Arendts Werk nicht unmittelbar zugänglich ist.

Eine erste Annäherung schafft Eßer, indem sie verschiedene Konzepte des Guten im Überblick präsentiert (vgl. S. 11ff.). In diese Reihe lässt sich Arendt jedoch nicht ohne Weiteres eingliedern, denn eine Theorie des Guten ist auf den ersten Blick bei ihr nicht zu finden. Es finden sich aber Überlegungen zum Bösen. Diese greift Eßer auf und betrachtet ihre Verkehrung ins Gegenteil als das Gute und als das Menschliche. Diese beiden Begriffe setzt sie gleich und grenzt sie gemeinsam vom Bösen ab (vgl. S. 28f.). Der erste große Teil des Buches stellt somit eine Auseinandersetzung mit dem Bösen bei Arendt dar. Arendts zweifache Attribution, die der Radikalität und der Banalität des Bösen, wird diskutiert, die Themenkomplexe Totalitarismus und Terror sowie der Eichmann-Prozess kommen in der Rekonstruktion zu Wort. Die Banalität des Bösen fasst Eßer in den Aspekten „[d]er Gedankenlosigkeit, der Sprachlosigkeit und der daraus resultierenden Unfähigkeit zu urteilen“ (S. 62). Diese drei Aspekte kehrt die Autorin in der Frage nach dem Guten ins Gegenteil und richtet ihre Auseinandersetzung an der menschlichen Sprache im Denken, Urteilen und Erzählen aus. Diese drei Geisttätigkeiten markieren die folgenden drei Kapitel.

Unter umfangreicher Berücksichtigung der Sekundärliteratur, aber auch unter Einbezug der Gedanken Benjamins, rekonstruiert Eßer zunächst den Begriff des Denkens bei Arendt. Im Vordergrund steht dabei das Einzelne beziehungsweise Besondere, das im Denken in den Blick genommen wird. In der Bezugnahme auf das absolut Verschiedene identifiziert die Autorin den Bezug zum Guten beziehungsweise Menschlichen (vgl. S. 140), da umgekehrt „[d]as Böse […] ‚Alles klein‘ [macht] und […] den Menschen [verkennt], es lässt ihn sich auflösen in diesem Blinzeln, das Gleichgültigkeit ist“ (S. 37). Bezüglich des Denkens werden Verbindungen zu Arendts Begriffen der Natalität, Freiheit und des Anfangens aufgezeigt (vgl. S. 94ff.). Auch die Unterscheidung des Politischen und Sozialen wird hier angesprochen, diskutiert und auf die Gegenwart bezogen (vgl. S. 98ff.).

Hinsichtlich des Urteilens steht für Eßer ebenfalls das Einzelne als Besonderes im Fokus: „Dieses Besondere, das jedes Urteil meint und ist, bildet so zugleich eine neue Möglichkeit des Verstehens der Welt und der Sinnstiftung“ (S. 177). Es befindet sich damit in der Differenz zum Bösen, das Absolutheiten setzt, verallgemeinert und schließlich das Urteilen selbst suspendiert (vgl. S. 88). Ein Urteil könne dabei, so die Autorin, auf seine Richtigkeit beziehungsweise Wahrheit befragt werden, „die aus der Vielstimmigkeit derjenigen sich erhebt, die miteinander sprechen“ (S. 166). Nach Eßer sind es gerade die Vielstimmigkeit, das offene Fragen der Gemeinschaft und das Nicht-Müde-Werden im Urteilen, die die Möglichkeiten des Guten eröffnen können (vgl. S. 206).

Es schließt sich eine Beschäftigung mit dem Erzählen an, das gemäß Eßer einen Raum eröffnet, der wiederum mit dem Zwischen, mit der Möglichkeit des Neuanfangens im Handeln (vgl. S. 235f.) und insbesondere mit Anderen und der Möglichkeit einer anderen Welt (vgl. S. 248) verbunden ist. Erzählen wirke dabei selbst weltbildend und welterhaltend und sei daher in gewisser Hinsicht Bedingung der Möglichkeit des Guten, so die Autorin (vgl. S. 270).

Eßer fasst schließlich zusammen, dass Arendts Beschäftigung mit Menschen und ihrem Tätigsein gerade den Gegenpol zu ihrer Thematisierung des Bösen bilde (vgl. S. 303f.): das Gute und Menschliche bestehe letztlich in einer Freiheitspraxis, „aufzubrechen und der Möglichkeit wieder Raum zu schaffen, die jeder Mensch in die Welt bringt“ (S. 305), im Sprechen und in der Offenheit (vgl. S. 310).

Mit ihrer Dissertation leistet Eßer einen beeindruckenden Umgang mit Arendts Begriffen und zeigt mit großer Überzeugungskraft auf, dass Sprache, Sprachlichkeit und Sprechen in Arendts Werk nicht nur nicht zu vernachlässigen sind, sondern einen besonderen Fokus verdienen. Es gelingt der Autorin auf zugängliche und abwechslungsreiche Weise Arendts Gedankengänge präzise zu rekonstruieren und in Bezug zu setzen: zu anderen Denker:innen, wie beispielsweise Benjamin, zu Literat:innen wie Kafka und insbesondere zur Gegenwart.

Sie bringt dabei zwei Begriffe ins Spiel, die bei Arendt keineswegs unproblematisch sind: das Gute und das Menschliche. Es bleibt eine (philosophische) Frage, ob das Gute zwangsläufig aus der Negation des Bösen abgeleitet werden kann, wie Eßer vorschlägt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass nicht – so hebt es die Autorin auch hervor – von einem substanziellen Guten oder substanziellen Bösen die Rede ist, obwohl manche Formulierung auf diese Fährte locken könnte. Es geht stattdessen um Methoden und Aktivitäten, die nicht ein Gutes, Menschliches oder Böses realisieren; sondern im Tätigsein selbst liegt der normativ positive Bezug, während das Unterlassen normativ als negativ beziehungsweise böse gewertet wird. Eßers Ansatz bleibt plausibel, auch wenn eine normative Ebene in Arendts Werk meines Erachtens einer kritischen Prüfung und Einordnung bedarf.

Den Begriff des Menschlichen als einen eindeutig positiven Begriff mit Arendt einzuführen, übersieht, dass sie gerade aus politischen Gründen den Begriff des Menschlichen als entpluralisierend ablehnt und stattdessen den Begriff des „Weltlichen“ bevorzugt (vgl. Arendt 1989, S. 32). Auch in Arendts Beschäftigung mit dem Eichmann-Prozess erscheint der Begriff der Menschlichkeit als ein schwacher Begriff, denn sie lehnt die Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ für den Rechtsterminus Crimes against humanity als verharmlosend ab und bevorzugt stattdessen die Übersetzungsvariante „Verbrechen gegen die Menschheit“ (vgl. Arendt 1986, S. 398f.).

Diesen Aspekt lässt Eßer außen vor, was mit einer allgemeineren Unklarheit in Verbindung stehen könnte: Zweifelsohne ist Eßers Umgang mit dem Stoff legitim, aber ihre Arbeit erschwert Leser:innen eine Einordnung, da sie bis zuletzt im Changieren zwischen Exegese, Zusammenführung mit anderen Denker:innen sowie der eigenständigen Position und Lesart verbleibt. Doch ungeachtet dessen bietet „Vom Schweigen des Guten“ Anstöße zu neuem Denken und Sprechen über Arendt und ist zweifellos eine sehr gelungene Dissertation und empfehlenswerte Lektüre.

Literatur

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow, mit einem einleitenden Essay von Hans Mommsen, München 1986.

Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, In:

Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten. Herausgegeben von Ursula Ludz, München 1989.

Evelyn Wiebke Höfer

Wissenschaftliche Volontärin der Klassik Stiftung Weimar