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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Tobias Albrecht: Handeln und Kritik. Politik und Gesellschaftstheorie nach Arendt und Adorno, Frankfurt a.M. 2022. Campus Verlag 310 Seiten


Seit Anfang des 21. Jahrhunderts ist vermehrt konstatiert worden, dass die kritische Gesellschaftstheorie eines Politikbegriffs bedarf und eine kritische Theorie des Politischen sich mit ihren sozialen Voraussetzungen beschäftigen muss, um zur Kritik gegenwärtiger Gesellschaftsverhältnisse beitragen zu können (z.B. in der Debatte zwischen Wolfgang Streeck und Jürgen Habermas im Hinblick auf die Finanzkrise 2007/8; vgl. auch Bohmann/Sörensen 2019). Ohne diese grundlegenden gesellschaftlichen Voraussetzungen des Politischen zu berücksichtigen, wird auch die Frage nach dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz nicht angemessen analysiert werden können, von der Seyla Benhabib voraussagte, dass sie eine Bewährungsprobe für eine kritische Gesellschaftstheorie darstellt (Benhabib 1997). Kritische Gesellschaftstheorien und kritische Theorien des Politischen stehen also vor enormen Herausforderungen, die durch die Postkolonialen Theorien noch verstärkt werden. Innerhalb dieses Kontextes werden die Schriften von Hannah Arendt und Theodor W. Adorno zu Stichwortgebern der Gegenwartsdiagnose und dies mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen, wie die jüngst veröffentlichen Studien zu Hannah Arendt von Juliane Rebentisch und Marie-Luise Knott zeigen (Rebentisch 2022; Knott 2022). Zudem gibt es schon eine längere Diskussion über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Schriften von Arendt und Adorno (vgl. Auer/Rensmann/Schulze Wessel 2003; Weissberg 2011).

Tobias Albrecht schaltet sich nun in diese Debatte ein und legt mit seiner an der Goethe Universität Frankfurt eingereichten und von Rainer Forst und Martin Saar betreuten und jüngst veröffentlichten Dissertation die erste systematische Monografie über die Schriften von Theodor W. Adorno und Hannah Arendt vor. Dabei fokussiert er nicht nur auf die bereits häufig benannten und bekannten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen, sondern stellt auch heraus, dass Adornos und Arendts Schriften ohne den Bezug zur Wirklichkeit ihrer Zeit, insbesondere dem Nationalsozialismus, nicht nur nicht zu begreifen sind, sondern dass deren gesamte Schriften durch die Erfahrung der katastrophalen Ereignisse ihrer Zeit geprägt sind. So hebt Albrecht nicht nur hervor, dass Arendt und Adorno an ähnlichen Themenkomplexen arbeiteten – wie die schon häufig benannten gemeinsamen Erfahrungen als jüdisch-deutsche Intellektuelle, als von Nazideutschland Verfolgte sowie ihre Exilerfahrung in Amerika und ihre Analysen in Bezug auf den Nationalsozialismus –, sondern er geht auch davon aus, dass sich aus diesen Analysen die Schwerpunkte ihrer weiteren theoretischen Arbeiten ergeben. Das ist nicht unbedingt neu, bildet aber für Albrecht den Absprungsort für seine Argumentation, die von der Grundannahme getragen wird, dass nicht nur eine produktive Verbindung zwischen der politischen Theoretikerin Hannah Arendt und dem Sozialphilosophen Theodor W. Adorno möglich sei. Er stellt vielmehr die kühne These auf, dass die bei Arendt und Adorno vielfach identifizierten jeweiligen Blind- und Leerstellen (bei Arendt die soziale Frage; bei Adorno der fehlende Politikbegriff) nicht nur in ein Komplementärverhältnis gebracht werden können, sondern dies sogar in gelingender Weise möglich sei.

Diese These wird in zwei großzügig angelegten Themenkomplexen mit jeweils drei Argumentationschritten aufgefächert. Dabei greift der Autor im ersten Abschnitt die bekannten Gemeinsamkeiten und Unterschiede anhand von drei Themenkomplexen auf: Erfahrung des Totalitarismus, Arendts und Adornos Analysen der totalen Herrschaft und ihre Kritik der philosophischen Tradition. Der zweite Abschnitt mit dem Titel „Konturen einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno“ ist von seiner Komposition her durch die in der Einleitung angekündigte Komplementaritätsthese strukturiert: Politik und Kritik.

Betrachtet man den ersten Abschnitt, so sind folgende Reflexionen von besonderer Bedeutung: ihrer beider Versuch, „das Unbegreifliche zu begreifen“, die Abkehr von der traditionellen Philosophie nach dem Zivilisationsbruch, die besondere Bedeutung, die Walter Benjamin für Arendt wie auch für Adorno hatte – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – und die beiden gemeinsamen Forderungen nach einer Neuorientierung der Philosophie nach Auschwitz.

Bei dem Vergleich zwischen der „Dialektik der Aufklärung“ und den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ rückt Albrecht die Rezeptionslesarten beim Vergleich der beiden Bücher in den Vordergrund: „Bruch oder Kontinuität?“, „Kritische Theorien der Moderne“, „Theorien totaler Herrschaft“. Damit wird jedoch zumindest hinsichtlich des Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ eine Rezeptionsdominanz auf den Kontext des Abschnitts über totale Herrschaft betont. Der Preis, den Albrecht dafür zahlt, ist nicht unerheblich. Denn um die Hauptwerke beider Autoren in Beziehung setzen zu können, muss er den Fokus auf den dritten Teil von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ richten. Dadurch aber bleiben die sozialen und politischen Voraussetzungen totaler Herrschaft unsichtbar, die Arendt in den beiden ersten Abschnitten zu Antisemitismus und Imperialismus herausarbeitet. Dies rächt sich insofern, als damit Arendts Kritik sozialer Verhältnisse überhaupt nicht mehr berücksichtigt wird, und bereitet den Boden dafür, dass ihr Handlungsbegriff nicht in Beziehung zu ihrem Kritikbegriff gesetzt wird.

Während der erste Abschnitt der Studien eher auf die Gemeinsamkeiten von Arendt und Adorno fokussiert, werden im zweiten Abschnitt die unterschiedlichen Konsequenzen, die sich für Adorno wie auch für Arendt aus ihren verschiedenen Analysen ergeben, jeweils einer kritischen Analyse unterzogen. Bei Adorno steht sein fehlender Politikbegriff im Fokus. Albrecht wendet sich dabei gegen zwei Thesen, die bezogen auf das Fehlen einer politischen Praxis bei Adorno formuliert wurden. Weder sei die Annahme richtig, dass das Fehlen eines Politikbegriffs bei Adorno ein Widerspruch zu seinen gesellschaftstheoretischen Schriften darstelle, noch sei die gegensätzliche These, die aus der diskurstheoretischen Wende hervorgebracht wurde, richtig, dass es nur folgerichtig sei, dass Adorno keinen Politikbegriff entwickelt habe. Albrecht entgegnet der ersten Interpretation mit dem Argument der zweiten Kritik, indem er hervorhebt, dass es in einer gewissen Folgerichtigkeit liege, dass es keinen Politikbegriff bei Adorno gebe. Der zweiten Kritik entgegnet er, dass es sehr wohl Überlegungen Adornos gebe, den herrschenden Verhältnissen befreiende Elemente abzuringen, dass diese Möglichkeiten jedoch lediglich vorbereitenden Charakter für politisches Handeln bei Adorno haben. Hierzu bezieht er sich auf das „Primat der Theorie“ von Adorno, weil „Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittenen Standes“ (Adorno) misslingen müsse, und nimmt Bezug auf Adornos „Wendung aufs Subjekt“, die „keine Verlegenheitslösung“ sondern „eine Bedingung der Möglichkeit von politischer Veränderung“ (S. 181) sei, um dann Adornos negative Dialektik und sein Kunstverständnis als „Versuch die Freiheit zu denken“ zu interpretieren. Diese „Suchbewegungen“ zielen auf die Frage, wie das „Nichtidentische zu seinem Recht kommen kann“ (S. 188).

Der Abschnitt „Mit Arendt gegen Adorno“ will zeigen, dass Arendts Handlungstheorie einen Politikbegriff impliziert, der auf die kritische Gesellschaftstheorie Adornos geradezu antwortet und diesem auch angemessen sei (S. 226). Hier setzt nun Albrechts zweiter Argumentationstrang an. Arendts Politikbegriff und dessen Bedeutung für die Gesellschaftstheorie von Adorno begründet er in drei Argumentationschritten: in der Hervorhebung von Arendts These der immer gegebenen Möglichkeit des Neuanfangs, ihrem Machtbegriff, mit dem sich darüber nachdenken ließe, „unter welchen Bedingungen die Macht der Menschen gegen die materielle Übermacht (des Staates oder der Strukturen) Erfolg haben kann“ (S. 190), und schließlich damit, dass bei Arendt die „politische Sphäre eine subjektermächtigende Funktion“ hat und dem öffentlichen Raum eine „wirklichkeitserzeugende Kraft“ zukommt, indem sich das „Wer einer ist“ erst in der politischen Praxis herausbilde und „die Urteilskraft der politisch Handelnden ständig weiter ausgeprägt wird“, um „Pluralität institutionell“ zu sichern (S. 191). Dies beschreibt Albrecht zurecht als das zentrale Anliegen des arendtschen Politikbegriffs, als die Frage, wie das Besondere (Pluralität) von einem Allgemeinen (Institutionen) „nicht nur nicht unterdrückt, sondern gerade ermöglicht und sichtbar gemacht werden kann“ (S. 191). Diese Grundelemente ihres Politikbegriffs, so Albrecht, entsprechen dem Gedanken Adornos, wie die Kunst an der „Identifikation des Nichtidentischen“ als „Kommunikation der Unterschiedenen“ (Adorno) ermöglicht wird.

Zugleich habe Arendts Politikbegriff seinen Preis, insofern dieser mit einer strikten Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen entwickelt wurde. Aber genau darin liege eben die Bedingung der Möglichkeit des Komplementärverhältnisses von Arendt und Adorno. Denn bei aller Kritik an der Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Politischen entdeckt Albrecht auch ein Potenzial, das er in der Politisierbarkeit von sozialen Fragen durch Entnaturalisierung sieht, das Arendt selbst bei Marx hervorhebt und von Seyla Benhabib und Rahel Jaeggi - wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen - weiterentwickelt wird. Albrecht knüpft hieran an, konstatiert jedoch, dass Arendt keinen Hinweis dafür liefere, wie denn die Transformation vom Sozialen zum Politischen als Politisierung sich vollziehen könne. Arendt habe zwar ein Verständnis politischen Handelns als Modus der Veränderung, nicht aber ein Verständnis von Kritik sozialer Verhältnisse.

Spätestens an dieser Stelle hätte man Arendts Analysen der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft daraufhin befragen können, was „Kritik“ bei ihr heißt. Die Fokussierung auf die Hauptrezeptionslinien der „Dialektik der Aufklärung“ und der „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ verhindert dies aber. So bleibt gerade Arendts Verständnis von Kritik als Praxis der reflektierenden Urteilskraft in Theorie und Praxis seltsam unberücksichtigt. Vielleicht aber ist gerade dies auch der Preis der allzu patenten Komplementaritätsthese, die die beiden Protagonisten so zurechtrücken muss, dass es passt. Das jeweils Besondere ihres Kritikverständnisses droht auf der Strecke zu bleiben.

Tobias Albrecht hat eine gründliche und gut geschriebene Studie vorgelegt, die von der erkenntnisleitenden Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie des Politischen, die ihre sozialen Voraussetzungen reflektiert, und einer kritischen Gesellschaftstheorie motiviert ist, die nicht politikvergessen ist. Sie weist bislang wenig beachtete Verknüpfungen zwischen Theodor W. Adorno und Hannah Arendt nach.


Literatur

Auer, Dirk, Rensmann, Lars/Schulze Wessel,Julia (2003): Arendt und Adorno. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Benhabib, Seyla (1997): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Köln: Fischer Verlag

Bohmann, Ulf/Paul Sörensen (2019): Kritische Theorie der Politik, Hrsg. Berlin: Suhrkamp.

Rebentisch, Juliane (2022): Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Knott, Marie-Luise (2022): 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive – Hannah Arendt und Ralph Ellison. 17 Hinweise. Berlin: Matthes & Seitz.

Rensmann, Lars/Samir Gandesha (2012): Arendt and Adorno. Political and philosophical investigations.

Stanford: Stanford University Press.

Weissberg, Liliane (2011): Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter

Schule. Frankfurt a.M.: Campus.

Waltraud Meints-Stender (Hochschule Niederrhein)