header image

Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Kurze berichtende Notiz und Gedanken zur Tagung „Philosophie und Rassismus“ an der WWU Münster vom 6.-8. Oktober 2022

Frauke A. Kurbacher

Wenn der Blick auf das Kosmopolitische gerichtet ist und sich auch philosophisch weltweit erstreckt, kann dies im 21. Jahrhundert nicht mehr ohne kritischen Reflex auf die koloniale Geschichte des Postkolonialen, nicht ohne kritische Fragen nach – auch strukturellem – Rassismus, Fragen der Geschlechtlichkeit und der Interkulturalität, der Nachhaltigkeit und Migration geschehen, um nur die steilsten Spitzen zu nennen und damit steht Philosophie in ihrer westlichen, abendländische Prägung selbst in Befragung.

Passend zu dieser gravierenden Problemlage fand, ausgehend vom Lehrstuhl für praktische Philosophie, an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster vom 6. – 8. Oktober 2022 eine internationale Tagung zum Thema „Philosophie und Rassismus“ statt. Das ausgefeilte, dreifach gegliederte, wohldurchdachte Programm war mit spannenden Beiträgen und illustren Moderatoren (u.a. Ram A. Mall, Andrea Esser, Rolf Elberfeld) bestückt und traf auf ein hochinteressiertes und so engagiertes wie kompetentes Fachpublikum. Die wissenschaftliche Leitung hatte Franziska Dübgen von der WWU Münster zusammen mit ihrem Mitstreiterinnen Kristina Lepold von der HU Berlin und Marina Martinez Mateo von der ADBK München.

Im Ankündigungstext zur Tagung war auf den NSU-Komplex und die Attentate von Hanau und Halle verwiesen, die hierzulande einer breiteren Öffentlichkeit zu Bewußtsein gebracht haben, daß „Rassismus auch in Deutschland ein Problem ist“ und danach wird die zentrale Frage gestellt: „Welchen Beitrag kann die Philosophie zur Auseinandersetzung mit Rassismus leisten?“ Diese Frage stellt sich umso mehr, da sie selbst auch nicht vom Rassismus-Verdacht ausgenommen ist.

Zum Auftakt der Veranstaltung reflektierte Dübgen in ihrer Einleitung kurz auf die Historie des Studienorts Münster mit dem mittlerweile umstrittenen Namen seiner Universität und konnte so schon in den ersten Minuten mit diesen wenigen ersten Bezügen zum Standort ein komplexes Problempanorama entwerfen, dessen Entfaltung, kritische Reflexion in Theorie wie Praxis sich die Veranstalterinnen zusammen mit den Vortragenden und Gästen vorgenommen haben.

Bereits die beiden ersten Vorträge von Nachwuchswissenschaftler*innen aus der Philosophie und Politikwissenschaft setzten mit ihren feinsinnig differenzierten Überlegungen Maßstäbe für die angestrebte kritische Reflexion zur Thematik. Annika von Lüpke von der LMU München stellte Aristoteles mit seinen Überlegungen zur „Natur des Menschen“ und zur „Gewohnheit“ auf den Prüfstand und fahndete nach Rassismus in seiner politischen Philosophie und Sarah Rebecca Strömel von der Universität Regensburg untersuchte Tocqueville und „die Ambivalenz des Rassismus“. Ein Vortrag zu „Arendts Rassismus“ von Franziska Martinsen von Universität Duisburg-Essen entfiel leider.

Gerade die demokratiekritischen Überlegungen von Tocqueville ließen ob ihrer Aktualität aufhorchen. Durch den einerseits verfolgenswerten Gleichheitsgedanken fehle es der Demokratie gleichsam andererseits jedoch als Gesellschaftsform an Verbindlichkeit. So punktet die Demokratie als Staatsform, läuft jedoch grundsätzlich Gefahr, diesen Vorzug als Gesellschaftsform zu verlieren. Dabei erscheint die Demokratie durchaus auch Tocqueville als beste Staatsform, nämlich als freiheitliche, aber als Gesellschaftsform birgt sie Probleme. Auf Basis der für jede Demokratie konstitutiven Gleichheit fördert sie aus seiner Sicht ein Streben nach Individualität, die in Egoismus ausarten kann, ohne eigentlich die Gleichheit auszuhebeln. Wir vermeinen uns dann nur als individuell und sind mit Abstand betrachtet, viel gleicher als wir denken.

Dieser erste Tagungstag, der sich insbesondere kritisch der Philosophiegeschichte widmete, wartete noch mit Reflexionen zu Anton Wilhelm Amo, der Kritik kolonialer Praktiken, dem exemplarischen Streitfall Kant und einem Roundtable für eine kritische Philosophiegeschichte auf, während der zweite Tag mit dem Schwerpunkt „Race“ und Rassismus einen Bogen über Kapitalismus bis hin zur Kunst spannte, bevor am dritten Tag sowohl Erinnerungspolitiken, Antisemitismus und Postkolonialismus sowie die konkrete Frage nach notwendigen institutionellen Veränderungen innerhalb der Philosophie zur Debatte standen. Dieser summarische Überblick läßt nur erahnen, wie vielfältig die Ausrichtungen und Überlegungen waren.

Zu den beim ersten runden Tisch gegebenen „Impulsen“ für eine kritische Philosophiegeschichte, probaten – letztlich aufklärerischen Empfehlungen zum polyperspektivischen Umgang mit Rassismus und Philosophie, gehört unter Umständen noch ein weiterer: eine Ambivalenz-Toleranz, denn es liegt eine – philosophisch reflektiert – unaufhebbare philosophische Ambiguität in der Sache, die einen bemerkenswerten schmalen Grat im Verhältnis zwischen Philosophie und Politik mit der Frage nach dem strukturellen Rassismus berührt. Immer wieder stießen sich Beiträge und Diskussionen an dem universellen philosophischen Anspruch im Kontrast zu der konkreten und sehr unterschiedlichen Bedingtheit der weltweit Philosophierenden. Im Gedanken der Befreiung werden beide Momente, das Ideelle des Universellen und Konkrete der Bedingtheit ansichtig. Das politische Potential, das in jeder Befreiung respektive Emanzipation steckt, gewinnt der Befreiungsakt selbst nicht zuletzt dadurch, daß er über das Politische und Gegebene hinausgreift. Befreiung vollzieht sich vor dem aufklärerisch-philosophischen Versprechen, unabhängig von allen Bedingungen und damit auch Umständen und politischen Gegebenheiten sein zu können. So realisiert sich Emanzipation unter der philosophischen Fiktion, ein unabhängiges, freies, neutrales Subjekt zu sein, was wir faktisch – in concreto würde Kant wohl sagen – jedoch nie sind. Und gerade so stellen sich auch in der aufklärerischen Befreiungsbewegung von unleugbarer politischer Kraft bis Wucht bereits wieder jene „blinden Flecke“ (Waldenfels) ein,1 die wir als nächstes kritisch zu bearbeiten und in der näheren Zukunft zu überwinden haben, und die doch zugleich auch ein ‚Produkt‘ unserer Freiheit sind. Diese Spannung scheint der Philosophie und dem Philosophieren eigen, die und das sich herausnimmt, sich von allem ungebunden zu fühlen und zu wähnen. Oder ist dies eine andere Unabhängigkeit? Gehören nicht historische, politische, situative Situiertheit je zur Bestimmung moderner Auffassungen von Person, auch der eigenen und ist das aufklärerische Denken nicht gerade diesbezüglich auch jene geschichtliche Scharnierstelle, die dies allgemein zu Bewußtsein bringt und damit genau dieses moderne Verständnis lanciert, an das viele, u.a. auch Arendt, letztlich anknüpfen? Dies kann ganz gewiß bejaht werden, nichtsdestotrotz eröffnet gleichwohl die philosophische Reflexion auf Emanzipation als persönlichen Entscheidungs- und Urteilsakt genau jene Ambivalenz, die etwa Derrida als „Unendscheidbarkeit“, die jeder Entscheidung inhärent ist, sprechend werden läßt. Im Akt der Befreiung machen wir grundsätzlich Bedingten uns kurzfristig – zumindest ideell frei, von allem, was uns bedingt und gleichsam den Wunsch nach Befreiung allererst hat aufkommen lassen und somit befördert hat. Und dieser letztlich ‚unmögliche mögliche Moment‘, um es noch einmal in einer derridasche Paradoxie zu fassen, ist das potentielle ‚Einfallstor‘ für die kommende notwendige Kritik.

Neben der zwar durchaus unterschiedlichen Güte, aber durchweg hochgradig spannenden und aktuellen Themen der Beiträge, fiel gleich zu Beginn die unersetzliche Qualität der Interventionen aus dem Plenum auf.

So wies Ram A. Mall, der Gründungspräsident der vor mehr als 30 Jahren entstandenen „Gesellschaft für interkulturelle Philosophie“ (GiP), treffend auf die Perfidie westlicher Argumentationen, die letztlich eine mit Pseudoargumenten versehene Ausschlußpraxis beschreibt: Entweder, es wird wie in Europa philosophiert, dann sei dies redundant und überflüssig, oder es wird anders philosophiert, dann aber sei es keine Philosophie. Ein Diskutant, der der farbigen community2 in Deutschland angehört, deutete auf die hochgradige Problematik fehlender Identifikationen, es fehlen Modelle und Strukturen des Selbstbegreifens für coloured people3 in der Gesellschaft und ein anderer Teilnehmer aus Kamerun beschrieb plastisch die Auswirkungen einer westlichen Deutungshoheit bis in die Bildungspolitik hinein. Während er in seinem Land in der Schule bestens über den Kölner Dom informiert wurde, blieben geographisches oder kunstgeschichtliches Wissen der eigenen Umgebung völlig ausgeblendet, derselbe Diskutant gab zusammen mit einer Diskutantin aus Asien anläßlich des Runden Tisches, der wie eine Art Workshop gestaltet war und das Plenum mit Fragen und ‚Murmelrunden‘ aktiv einbezog, Zentrales zu denken. Zu der ersten Frage, die eine Forschergruppe von der FSU Jena dem Plenum stellte, wo wir uns im Arbeitsfeld mit dem Thema Rassismus konfrontiert sehen, wurde trefflich von den beiden Gästen aus dem Publikum entscheidend kommentiert: ‚Diese Frage kann nur von denen gestellt werden, die nicht unter Rassismus leben‘. Damit war zugleich ein Licht darauf geworfen, daß es vermutlich noch ein langer Weg ist, der hier zurückgelegt werden muß, bevor wirklich von gemeinsamem Dialog gesprochen werden kann. Aber mit der kritischen Tagung zu „Philosophie und Rassismus“ ist offenkundig einer von vielen notwendigen gemeinsamen Anfängen der Begegnung und des Austausches gemacht – und Fortsetzungen sind erwünscht und erhofft.



1 Sie stellen sich für uns Menschen grundsätzlich ein, weil wir eben keine Götter sind und nichts vollständig überblicken und gerade wegen dieser konstitutiven Fehlerhaftig- und Fehleranfälligkeit ist es auch so wichtig, dauerhaft aufklärerisch-kritisch zu bleiben, die Selbstkritik immer inbegriffen.

2 Bei diesen Bezeichnungen handelt es sich um die Formulierungen, die von den betreffenden Diskutierenden verwendet wurden.

3 Siehe zur Erläuterung die vorherige Fußnote.