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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Weltreise mit Hannah Arendt. Zu Hildegard Kellers Roman


Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Roman, Köln: Eichborn-Verlag 2021, 576 S., 24,00 EUR (E-Book und Audiobook). Taschenbuchausgabe unter dem Titel: Was wir scheinen. Hannah Arendt, poetische Denkerin, Köln: Eichborn-Verlag 2022, 576 S., 14,00 EUR. [Zitate nach der Taschenbuchausgabe]


Was wir scheinen ist der erste Roman über Hannah Arendt. Er nimmt uns mit auf eine Reise zu wichtigen Stationen ihres äusseren und inneren Lebens. Ausgehend von konkreten Daten und Ereignissen zieht die Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin, Filmemacherin und Schriftstellerin Hildegard E. Keller alle ihre Register. Der Roman ist hervorragend recherchiert und integriert Fakten, Werkteile sowie Briefe aus den Arendt Papers, die kaum je beachtet worden sind. Ebenfalls nahezu unbekannt ist die hier auserzählte Beziehung Hannah Arendts zur Schweiz. Keller arbeitet mit Fiktionalisierungen, die in Verbindung mit den neuen Rechercheergebnissen wohl selbst für Kenner nicht leicht durchschaubar sein dürften. Als Literaturwissenschafterin kann ich mich in den umfangreichen Anhang mit ungedruckten und gedruckten Quellen vertiefen, erkenne intertextuelle Bezüge (von Ingeborg Bachmann über Kurt Blumenfeld, Bert Brecht und Günther Anders bis zu Uwe Johnson) und sehe, dass Florian Illies sich schon bald nach Erscheinen des Romans darauf gestützt hat (Liebe in Zeiten des Hasses, 2021). Das mag alles anregend und wichtig sein, doch als Romanleserin suche ich einen anderen Zugang zu Hildegard Kellers Werk und ihrer Hauptfigur.

Die Erzählung bewegt sich auf zwei Zeitschienen durch Leben und Werk: Die Kapitel mit den ungeraden Nummern spielen im Sommer 1975, dem letzten Sommer im Tessin; die anderen zwischen 1941 und 1969, dem Jahr, in dem Hannah Arendt und Heinrich Blücher ihren ersten Urlaub in Tegna verbracht haben. Die Rahmenhandlung zeigt eine Hannah Arendt, die, wie seit 1969 jedes Jahr, im Tessin zur Ruhe kommen, faulenzen, träumen, Rückschau halten und, ja, auch das, wieder einmal Gedichte schreiben möchte: „An Wörtern hatte sie sich immer festhalten können. Und Wörter wollte sie auch in Tegna wieder aufs Papier bringen, wie früher nur einige wenige auf ein Blatt. Wie früher wollte sie noch einmal erleben, wie ein Wort das andere ruft, so wie es die Wörter in ihrer Erinnerung immer schon getan hatten. Wörter spielen ihr ganz eigenes Liebesspiel“ (S. 30). Es ist der letzte Sommer der jüdischen Philosophin und poetischen Denkerin Hannah Arendt, die 1941 über Paris und Lissabon nach Amerika emigrierte. Im Dezember 1975 sollte sie in an einem Herzinfarkt in New York sterben, im Beisein von Salo Baron, den man im sechsten Kapitel (Menschen ohne Schatten. Wiesbaden und Köln. Januar und Februar 1950) kennenlernt. Man erahnt seine Bedeutung für Hannah Arendts Werdegang in Amerika.

Noch aber ist sie in Tegna. Vieles geistert ihr durch den Kopf, während sie den Vögeln und Eidechsen zusieht und die warmen Sonnenstrahlen, das gute Essen, die Gastfreundschaft der Casa Barbatè genießt. Sie versinkt in Gedanken, in Gedichten, beispielsweise von Gottfried Keller oder Alfonsina Storni, und liest am Abend im Bett Krimis, am liebsten Maigret. Sie schreibt Briefe und an ihrem Werk Life of the Mind. Dann und wann flattern Gedichtzeilen in ihren Alltag. Von Tegna aus lenkt Hildegard E. Keller mit ausgewählten, gelungenen Rückblenden auf Lebensstationen den Blick auf Momente, die sie geprägt, und Menschen, die begleitet haben. Da sind etwa die gemeinsamen Ehejahre mit Heinrich (Blücher), mit dem sie auch den letzten Urlaub hier verbracht hatte. Seit fünf Jahren ist sie nun Witwe. Er fehlt ihr sehr: „Ohne Heinrich war das Leben halb leer“ (S. 54).

Oder da ist Karl Jaspers, ihr ehemaliger Doktorvater und später väterlicher Freund, bei dem sie in Heidelberg über den Liebesbegriff bei Augustin promoviert hatte und mit dem sie bis zu dessen Tod eng verbunden blieb. Er hatte sie ermuntert, gestärkt, war mit ihr in einem bereichernden, liebevollen, manchmal auch warnenden Dialog gewesen, etwa, wenn sie Gefahr lief, sich in eine Sache zu verrennen. (Nach Erscheinen des Romans hat Hildegard E. Keller in ihrem Radiofeature Was wir sind und scheinen, Passage 2, online auf der Webseite von Schweizer Radio SRF) wiederentdeckte Archivaufnahmen von Karl Jaspers und Hannah Arendt zugänglich gemacht). Oder da war schließlich Martin Heidegger, dessen Studentin und Geliebte Hannah Arendt in Marburg einst gewesen war und der nie gewagt hatte, die Beziehung zu seiner Frau aufzugeben und jene zu Arendt zu legalisieren. Im Sommer 1975 besuchte ihn Hannah Arendt ein letztes Mal; im Roman begleitet man sie auf der Reise bis nach Zürich und erlebt dann, wie sie ins Tessin zurückkehrt und aus dem Erlebten Bilanz zieht. Immer wieder ist auch Walter Benjamin präsent, sein Überlebenskampf, den er nicht bestanden hatte, und das Gedicht, das sie für den toten Freund geschrieben hatte (S. 46).

Mehrere Kapitel entfalten die Begegnung zwischen Hannah Arendt und Ingeborg Bachmann im Sommer 1962. Sie lernten einander kennen anlässlich von Bachmanns Lesung in Manhattan, die der Leiter des Goethe-Hauses moderierte. In peinlich wirkender Ahnungslosigkeit lenkte Hans Egon Holthusen Ingeborg Bachmann auf Nebenschauplätze, doch als Leserin bekomme ich gleichzeitig Arendts Reaktion sowohl auf die von Bachmann vorgelesenen Texte (unter anderem aus „Unter Mördern und Irren“) als auch die Interaktion der jungen Autorin mit dem Moderator mit (Jahre später kam dessen Nazi-Vergangenheit ans Licht). Anderntags lud Hannah Arendt Ingeborg Bachmann zu sich nach Hause ein. Bei Spiegeleiern mit Speck wurde deutlich, wie viel die beiden verband, persönlich und als dichtende Philosophinnen; auf dieser Basis hätte eine Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft entstehen können. Tatsächlich wünschte sich Hannah Arendt, dass Ingeborg Bachmann das Buch Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, damals im Entstehen, später ins Deutsche übersetzen sollte, doch dazu kam es nicht mehr.

Wie ein dunkler Geist flattert auch in Tegna der Eichmann-Prozess in Jerusalem durch die Gedanken der Hauptfigur. Im Auftrag des New Yorker 1961 hatte Hannah Arendt als Gerichtsjournalistin beigewohnt und aus dem ihre spätere Schrift Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen entstanden war. Immer wieder denkt sie an diesen ermüdenden Prozess, an das „Gespenst“ im Glaskasten, das nicht einmal „Täterformat“ (S.446) bewiesen hatte. Sie erinnert sich, wie sie lachen musste, als sie die 3600 Seiten des Verhörprotokolls gelesen hatte (S.503), ein Lachen, das man ihr mehr als nur übelgenommen hatte – und zwar von verschiedenen Seiten. Für die anderen ein „Monster“, für sie ein bodenlos dummer „Hanswurst“, der immer nur wegschaute, wo doch das Hinschauen essenziell gewesen wäre. In exzessiv bürokratischem Gehorsam führte er Befehle aus, ohne je wissen zu wollen, welche Konsequenzen damit verbunden waren.

Hannah Arendts Ringen um das Eichmannbuch nimmt viel Platz ein. Hildegard Keller zeigt die Autorin in ihrem Schreibprozess, aber auch 1963, nach der Veröffentlichung der Reportagenserie und des daraus entstandenen Buches, als mutige, unerschrockene, aber nicht unverletzbare Hannah Arendt. Die sogenannte Kontroverse nach der Publikation kostete ihren Preis, soviel ist nach der Lektüre dieses Romans klar: Nicht nur, wie heftig damals gegen die Person Hannah Arendts geschossen wurde, dass die Flut an öffentlichen Diffamierungen kaum mehr verebbte, dass auch ihre Ehe und einige Freundschaften einer Zerreissprobe unterzogen wurde, sondern auch, wie die Rezeption dieser Kontroverse zu Fehldeutungen geführt hat. Der Roman zeigt immer wieder andere Sichtweisen als die gemeinhin bekannten, so auch auf die Beziehung von Hannah Arendt zu Gershom Sholem; auch hier ist Keller fündig geworden, diesmal im Archiv der ausgiebig zitierten Neuen Zürcher Zeitung. Ähnliches stellt man bei Passagen über die Freundschaft zu Kurt Blumenfeld fest; er war eng mit Hannah Arendts Werdegang verbunden, sie fühlte sich als seine „lebenslange Denk- und Weggefährtin“ (S. 205) und hätte nur zu gern gewusst, wie er über ihr Eichmannbuch dachte. Als es erschien, war er sterbenskrank und verschied einen Monat später.

Hildegard Kellers Roman kreist immer wieder um das Selber-Denken und die Freiheit, die darin liegt. Obwohl es unverständlich erscheinen mag, dass Arendt zu Heidegger auch nach dem Krieg noch Kontakte unterhielt, liegt ein Schlüssel zum Verständnis vielleicht darin, dass Denken für ihn von zentraler Bedeutung war. So sagt sie in einem Dialog mit einer jungen Frau über Heidegger: „Er hat mich unterscheiden gelehrt, das Beste überhaupt. Wissen Sie, uns Studenten war der gelehrte Gegenstand damals ziemlich gleichgültig, nicht aber das Denken. Noch heute ist es rar an den Universitäten, weil man dort ja immer über etwas oder jemanden arbeitet. Wer denkt, sagte Heidegger, steht nicht über den Dingen, sondern geht in sie ein. Der Denkende ist mittendrin“ (S. 314). Beim Denken zusehen kann man ihr in diesem Roman auch an Universitäten, in der Interaktion mit Studierenden. Sapere aude, Kants Schlüsselsatz für ein menschenwürdiges, erfülltes, freies, verantwortungsvolles Leben. Im Roman sagt Hannah Arendt dazu: „Selber denken macht fett“ (S. 508, ein Zitat aus einem Brief an Scholem, S. 429).

Wie jeder Roman, der von historischen Figuren und Begebenheiten ausgeht, kann auch Was wir scheinen wohl nur dann als authentisch empfunden werden, wenn man als Lesende wahrnimmt, dass sich die Autorin mit einer Person – und hier auch: ihrem Werk – wirklich auseinandergesetzt hat und in einen Dialog mit ihr eingetreten ist. Mit anderen Worten: Wenn Fiktion und die Fiktionalisierung von Fakten so passen, dass sie stringent erscheinen. Die Autorin gibt im Nachwort (es findet sich nur in der Taschenbuchausgabe) ein Bild für die von ihr entwickelte Erzählperspektive, nämlich die zwei Vögel, die auf Buchstaben sitzen, in der gebundenen Ausgabe auf dem Cover, im Taschenbuch innen auf den Zwischentiteln: „Die Vögel sitzen auf den Buchstaben wie wir auf den Schultern der Hauptfigur: ganz nah an Kopf und Herz. Wir haben Teil an ihrer Lebens- und Welterfahrung“ (S. 569). Mit dieser Erzählweise betritt Hildegard Keller Neuland. Entsprechend leicht und zugleich anspruchsvoll mag die Rezeption für manche sein. Beim Lesen muss man sich auf eine Perspektive der Nähe einlassen, damit Hannah Arendt lebendig werden kann, als Mensch, Denkerin, Liebende, Schreibende, Dichterin. Es werden auch Dimensionen dieses Lebens erahnbar, zu denen sich Arendt selbst nie öffentlich geäussert hat, ohne dass je etwas Voyeuristisches aufkäme. Die Vögel stehen also für die Art, wie man in diesem Roman mit der Hauptfigur unterwegs ist. Im Dialog mit Ingeborg Bachmann, in der es um das Porträtieren von Menschen geht, sagt Hannah Arendt: „(…) ich will Eichmann auf die Schliche kommen. Das habe ich bei der Rahel nie versucht. Es wäre mir deplatziert vorgekommen. Ich wollte Rahel nie entlarven, sondern immer nur gerade das wissen, was sie selbst auch wissen konnte. Ich bin mit ihr durch ihr Leben gegangen, bis zum bitteren Ende. Also bis zur Einsicht, dass alle Anpassung vergeblich und sie trotz allem immer noch Jüdin war.“ (S. 390).

Hildegard Keller scheint hier ihre poetologische Entscheidung zu motivieren, im Rückgriff auf Hannah Arendts Buch über Rahel Varnhagen (Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin, München: Piper 1958). Im Vorwort der kritischen Ausgabe von 2021 (Wallstein-Verlag) liest man: „Ich hatte niemals die Absicht, ein Buch über die Rahel zu schreiben, über ihre Persönlichkeit, die man psychologisch und in Kategorien, die der Autor von außen mitbringt, so oder anders interpretieren und verstehen kann; oder über ihre Stellung in der Romantik und die Wirkung des von ihr eigentlich inaugurierten Goethe-Kultes in Berlin; oder über die Bedeutung ihres Salons in der Gesellschaftsgeschichte der Zeit; oder über ihre Gedankenwelt und ihre »Weltanschauung«, sofern sich eine solche aus ihren Briefen konstruieren lassen sollte. Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können.“ (S. 133).

Es dürfte dieser Erzählperspektive, kombiniert mit solidem Durchdringen von Leben, Werk und Zeitkontext, zu verdanken sein, dass wir durch Hildegard Keller eine Hannah Arendt erleben, wie sie gedacht, debattiert und gehandelt hat, wie sie ihre Texte verfasst und auch miteinander verbunden hat, wie sie Freund und Feind behandelt und lebenslang Treue gelebt hat. Das entstandene Bild ist farbig, lebendig und weist weit über dasjenige der politischen Denkerin hinaus, die man gemeinhin kennen mag. Es deutet auf eine unerschrockene, mutige Frau hin, die ihren Weg unbeirrt von Anfeindungen gegangen ist, eine liebende Frau auch mit Affinität für Poesie, mit Sinn für Situationskomik und einer nahezu unverwüstlichen Fähigkeit, Freundschaften einzugehen und zu pflegen. Dennoch stellt sich die Frage: Eine weitere Publikation zu Hannah Arendt – ein Mehrwert?

Die Taschenbuchausgabe, die am 26. August 2022 erschienen ist, zeigt Hannah Arendt in einem Pariser Café, jung, nachdenklich, ein wenig bohèmehaft, keck und unverwandt blickt sie zu den Lesenden und lädt dazu ein, sich an ihren Tisch zu setzen. Das ist das Ziel, das Keller mit ihrem Roman verfolgt: Man soll Hannah Arendt auf Augenhöhe begegnen und mit ihr etwas erleben. Es ist ein vielschichtiges Buch, spannend und flüssig verfasst, kognitiv äusserst anregend wie auch poetisch, ein wunderbares Werk, das Ruhe braucht, um sich in seiner ganzen Fülle zu entfalten. Während der Lektüre kann man erleben, wie die Protagonistin Mut zum eigenen Denken, Handeln und für das Immer-wieder-neu-Anfangen macht. Unmittelbar begegnet man beim Lesen dem eigenen Leben und gerät in einen Dialog mit Arendt. Nur schon das ist ein großes Vergnügen dieses Romans mit Hannah Arendt.

Lilli Mühlherr

(Lic.phil., Studium der Deutschen Literatur, Psychologie und Pädagogik; emeritierte Studiengangleiterin BScN an der Fachhochschule ZHAW in Zürich)