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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Nostalgie von der Antike bis heute


Barbara Cassin, Nostalgie: Wann sind wir wirklich zuhause? (C. Pries, Übers.). Berlin: Suhrkamp 2021, 142 Seiten.


Gerade in einer Zeit, in der das Verlangen nach kollektiver Zugehörigkeit und Verbundenheit mit Land, Herkunft und Sprache seinen spürbarsten politischen Ausdruck in Versuchen findet, Nationen „wieder groß“ zu machen, erscheint es grausam folgerichtig, dass Menschen, die zur Migration gezwungen sind, für überflüssig gehalten oder verdrängt werden. Barbara Cassins Essay Nostalgie, erstmals im Jahr 2013 erschienen und nun von Christine Pries ins Deutsche übersetzt, ist eine zeitgemäße und originelle Intervention, die sich mit den Problemen dieses zeitgenössischen Szenarios von Heimat, Exil und Sprache befasst. Darin setzt sich die französische Philosophin und Altphilologin mit dem komplexen Begriff der Nostalgie auseinander, also mit Fragen wie: Woher kommt die Nostalgie? Wo fühlen wir uns wirklich zu Hause? Zur Beantwortung dieser Fragen diskutiert sie ihre eigenen Erfahrungen von Heimat, aber auch die Epen von Odysseus und Aeneas sowie schließlich das Werk von Hannah Arendt. Ihr Ziel ist dabei die Ausarbeitung eines neuen Verständnisses von Nostalgie, das auf der Sprache und nicht auf dem Ort beruht und das nach Ansicht der Autorin in der Lage ist, Nostalgie vom Patriotismus zu trennen und an der „Schwelle eines großzügigeren, offeneren Denkens“ zu platzieren (S. 23).

Das Buch setzt an dem an, was Cassin als ein zutiefst persönliches Rätsel darstellt: Warum, so fragt die Autorin, fühlt sie sich von Nostalgie durchdrungen, wenn sie einen Ort verlässt, an dem sie weder geboren wurde noch verwurzelt ist? Cassin kontrastiert dieses intuitive Verständnis von Nostalgie als Konstruktion, als „menschliche und kulturbedingte Fiktion“ (S. 13), mit dem relativ jungen Ursprung des Begriffs. Anhand einer linguistischen Untersuchung zeigt sie auf, dass die Kombination aus dem griechischen „nostos“ (Heimkehr) und „algos“ (Schmerz) nicht etwa griechisch, sondern schweizerisch geprägt ist. Als Neologismus wurde der Begriff erstmals im siebzehnten Jahrhundert von Ärzten verwendet, um eine Krankheit zu bezeichnen, an der Schweizer Söldner litten, die sich insbesondere beim Spielen bestimmter Lieder nach ihrer Heimat zurücksehnten. Die Kritik dieser weit verbreiteten Assoziation von Nostalgie mit etwas Ursprünglichem und Originärem steht im weiteren Verlauf des Buches im Mittelpunkt von Cassins Überlegungen.

Im zweiten Kapitel wird die Idee der Rückkehr anhand einer erneuten Lektüre der Odyssee von Homer erläutert. Bekanntlich kehrt Odysseus in diesem Epos zehn Jahre nach seinem Sieg in Troja als Bettler verkleidet nach Ithaka zurück, um von den Usurpatoren seines Throns nicht erkannt zu werden. Für Cassin liegt die Nostalgie folglich nicht in der Tatsache der Rückkehr selbst, sondern in der Suche nach Identität und Anerkennung durch andere. Einerseits reproduziert diese Sichtweise immer noch die traditionelle Darstellung der Nostalgie als Heimkehr ins Originäre: Als zentrales Symbol für die Rückkehr Odysseus’ in seine Heimat dient ein materieller Gegenstand, nämlich das von ihm geschnitzte Ehebett, dessen Entstehung ein Geheimnis darstellt, in das nur seine Frau Penelope eingeweiht ist. Die Autorin will aber auch zeigen, dass die Odyssee Eigenheiten aufweist, die mit solch landläufiger Auffassung von Nostalgie unvereinbar sind. So will Odysseus zwar in seine Heimat zurückkehren, erwartet aber keineswegs, dass diese unverändert geblieben ist. Noch wichtiger ist für Cassin, dass Odysseus nach nur einer Nacht in seinem Ehebett Ithaka wieder verlassen und zu einer neuen Reise aufbrechen muss. Sie deutet dabei an, dass Odysseus neben Heimweh auch an Fernweh leidet und dass Nostalgie somit nicht nur eine Frage der Rückkehr zu einer authentischen Vergangenheit ist, sondern auch Ausdruck von Sehnsucht und Begehren.

Nachdem Cassin das Konzept der Nostalgie über die Rückkehr zu einem bestimmten Ort hinaus entwickelt hat, wendet sie sich in einem dritten Kapitel zu Vergils Aeneis als ein Epos der Gründung, insbesondere der Stiftung einer politischen Sprache. Aeneas, der mit seinen trojanischen Landsleuten nach der Zerstörung ihrer Stadt ins Exil gezwungen wurde, trägt sein Vaterland auf dem Rücken, scheitert aber immer wieder daran, ein neues Troja zu gründen. Erst als sich seine Sehnsucht in ein Verlangen nach dem Kommenden verwandelt und er sich durch eine fremde Ehe darauf einlässt, eine neue Sprache (Latein) zu sprechen, kann Aeneas eine Stadt (später Rom) gründen und somit endlich eine Heimat finden. Das Gründungsepos ist somit für Cassin die eigentliche Widerlegung der Prämisse ‚Entwurzelung ist wahre Heimat‘, denn es „geht nicht darum, dasselbe zu reproduzieren, sondern darum, anderes zu erschaffen“ (S. 64). Cassin erkennt in der Rolle des Lateinischen im kaiserlichen Rom die Möglichkeit, eine inklusive und sich vermischende Sprache zu entwickeln, die offen für verschiedene Identitäten ist und so eine Form der Mehrsprachigkeit ermöglicht, die sie als Gründungsideal zeitgenössischer politischer Systeme wie demjenigen Südafrikas oder der Europäischen Union ansieht.

In einer vierten und letzten Szene wendet sich Cassin an Hannah Arendt, um die veränderte Beziehung zur Sprache durch das Exil und das Verhältnis zwischen Sprache und Volk in der Nostalgie zu beleuchten. Arendt, die erst 1951 in ihrem amerikanischen Exil eingebürgert wurde, definierte sich selbst bekanntlich nicht in Bezug auf ein Volk oder ein Land, sondern in Bezug auf die deutsche Sprache. Cassin greift vor allem auf ihr Interview mit Günter Gaus und ihren Eichmann-Text zurück und stellt Arendts Erfahrung des Exils als Beweis dafür dar, dass Nation respektive Volk und Sprache nicht mehr zusammengehören. Mit Rückgriff auf einen Gegensatz zwischen „Sprache“ und „Muttersprache“ führt Cassin aus, wie die nationalsozialistische Gleichschaltung der deutschen Sprache Arendt von der Notwendigkeit überzeugt habe, ein „Anderswo“ zu kultivieren, damit die Sprache die Autonomie des Denkens bewahre. Cassin liest dies zunächst als eine Bestätigung der Sprache als Mittel der Verbundenheit, eines deterritorialisierten Heimatgefühls, das sich in der Realität heutiger Geflüchteter widerspiegelt, die sie als Avantgarde ihrer Völker betrachtet, sofern sie ihre Identität bewahren. Sie findet in Arendt aber auch einen Appell, über die eigene Sprache hinauszugehen und stattdessen die Vielsprachigkeit zu kultivieren, um die Bewahrung des pluralen Zusammenlebens zu gewährleisten. In einer offenen Kritik an der zeitgenössischen globalen Verbreitung der englischen Sprache, „Globish“ (S. 79), wie sie diese nennt, schließt Cassin daher mit einem hoffnungsvollen Plädoyer für die Pflege einer „schwankenden Vieldeutigkeit“ (S. 113), das heißt „eine[r] sich nicht abschottende[n] Welt voller unterschiedlicher ‘Mitmenschen’, die einem ähneln und nicht ähneln“ (S. 119-120).

Cassins eklektische Zusammenstellung von Quellen aus ganz unterschiedlichen Epochen und Genres hat zur Folge, dass sich unweigerlich Fragen der Textautorität und der konzeptionellen Kohärenz stellen. Besonders deutlich tritt dies bei ihrer expliziten Entscheidung zutage, eine relativ neue Terminologie (diejenige der Nostalgie) im Kontext der Antike zu verorten, in der es keine Verwendung für dieses Konzept gab. In ähnlicher Weise ist Cassins Auseinandersetzung mit Sprache, die in der zweiten Hälfte des Buches in den Vordergrund tritt, in den ersten Kapiteln etwas dürftig, was Zweifel daran aufkommen lässt, ob sie die Kluft zwischen der politischen Exilerfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts und den Anliegen der antiken Dichtung überbrücken kann. Dies mag jedoch weitgehend der Gattung des Buches geschuldet sein, das als kurzer Essay in erster Linie nicht auf eine einheitlich vergleichende Analyse der Texte abzielt, sondern eine Reihe von vielversprechenden Einsichten, sowohl wissenschaftlicher als auch persönlicher Art, für die Gegenwart bietet. Damit ist aber eine für jede Untersuchung unendlich wichtige Frage angesprochen: Unter welchen Bedingungen können Quellen aus verschiedenen Perioden produktiv in Beziehung gesetzt werden?

Eine Stelle, an der Cassins Ansatz besonders fruchtbar erscheint, ist ihre Auseinandersetzung mit Arendt. Angesichts Cassins Behandlung der Antike wäre es wohl einfach gewesen, den Fokus zunächst auf Arendts eigene zahlreiche Ausführungen zu dieser Periode zu setzen, erst recht auf die (ohnehin überwundene) Debatte über Arendts angebliche „Polis-Nostalgie“ (vgl. Gutschker 2000). Indem Cassin aber die Debatten der Sekundärliteratur fast komplett ausklammert, gelingt es ihr, die Lektüre auf die Sprache, einen relativ übersehenen Topos in Arendts Werk, zuzuspitzen. Ihr selektiver Rückgriff auf Textgrundlagen bringt noch einen weiteren Gewinn: Indem sie Arendts eigene Biografie in den Mittelpunkt stellt und Quellen wie Arendts Interview mit Günter Gaus heranzieht, die mehr zitiert als ernsthaft untersucht werden, gelingt es Cassin, Arendts Denken für besonders greifbare und aktuelle Debatten um sprachlichen Nationalismus und die politische Konstruktion von Staatsbürgerschaft nutzbar zu machen. Hier stellt sich die Frage, ob die Tatsache, dass ihr Ansatz originell wirkt, nur mit ihrer argumentativen Schärfe zu tun hat oder auch damit, dass die akademische Debatte über Arendt an gewisse Grenzen gestoßen ist.

Letztlich bleiben Historikerinnen, die nach einer zeitsensiblen Interpretation antiker Texte suchen, mit diesem Werk wahrscheinlich nicht ganz zufrieden; auch Psychologen, die sich neue Erkenntnisse über Nostalgie für die klinische Praxis erhoffen, könnten enttäuscht werden. Doch für alle diejenigen, darunter auch Arendt-Forscherinnen und Sprachphilosophen, die sich für die Bedeutung von Sprache und Übersetzung in modernen, multikulturellen Gesellschaften interessieren, bietet Cassins Essay eine wertvolle und anregende Untersuchung. Denn gerade in Bezug auf Fragen wie „Was würde es für Demokratien bedeuten, offener für die Sprachen anderer zu sein?“ oder „Wie wirkt sich die Einsprachigkeit der meisten Nationalstaaten auf deren Inklusivität aus?“ dürfte eine eingehende Beschäftigung mit Cassins Essay äußerst ergiebig sein. Es ist deshalb zu hoffen, dass dieses Buch auch dazu dient, Barbara Cassin einem deutschsprachigen Publikum vorzustellen und – ganz im Sinne ihres Plädoyers für Mehrsprachigkeit – Platz für weitere Übersetzungen ihres Werkes zu schaffen.


Literatur

Gutschker, Thomas: „Polis-Nostalgie oder kritische Theorie der Moderne. Neue Beiträge zur Hannah-Arendt-Forschung“. In: Philosophisches Jahrbuch 107 (2000), 498–509.

Carlos Morado

(Masterstudent in Politischer Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der TU Darmstadt)