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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Zur Vielheit verurteilt


Günther Anders: Der Emigrant. Mit einem Nachwort von Florian Grosser. München: C.H.Beck 2021, 86 S., 10,00 EUR


Der Essay „Der Emigrant“ des Philosophen und Schriftstellers Günther Anders erschien erstmals 1962 in der Zeitschrift Merkur. 2021 wurde er nun von dem C.H. Beck Verlag neu verlegt und mit einem umfassenden Nachwort des Philosophen Florian Grosser versehen. Dass dieser Text wieder veröffentlicht wurde überrascht angesichts seiner beinahe beklemmenden Aktualität nicht. Anders geht darin einer grundlegenden Frage zu dem Themenkomplex Migration und Flucht nach: Was macht es mit dem eigenen Selbst- und Weltverhältnis, wenn äußere, gewaltvolle Umständen einen Menschen dazu zwingen, sein vertrautes Umfeld zu verlassen, staatliche Grenzen zu überschreiten und sich in einem neuen Land wiederzufinden? Er behandelt in diesem kurzen, aber gehaltvollen Text also die Erfahrungen von Flucht und Exil, wenngleich er selbst hauptsächlich von Migration spricht. Darüber schreibt er vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung als verfolgter Jude, der 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Frankreich, später in die USA geflohen ist.


Anders geht den Konsequenzen von Flucht- und Exilerfahrung auf das Selbst in sechs kurzen Abschnitten nach. Dabei richtet er sich immer wieder mit einem „Du“ direkt an den/die Leser*in, so dass der Text sich wie ein Brief liest, in dem uns Anders seine Gedanken darlegt. Durch die Flucht, so die Hauptthese von Anders, werde das eigene Leben seiner Kohärenz beraubt, es zerfalle in viele einzelne Stücke. Flüchtende seien „von der Weltgeschichte Gejagte“, die „von Umwelt zu Umwelt gestoßen“ werden; die einzelnen Lebensphasen und Stationen dieser erzwungenen Migration seien durch „Kerben“ voneinander getrennt (S. 9). Die Phasen vor, während und nach der Flucht erscheinen Anders wie voneinander gelöste Abschnitte, die nicht aufeinander verweisen und in keinem Bezugssystem zueinanderstehen. Flüchtende hätte somit immer nur „Leben im Plural“ und seien zu einer „Vielheit verurteilt“ (S. 10), für die sie sich nicht aktiv selbst entschieden haben und die sie das Ganze ihres Lebens nicht mehr überblicken lässt.


Diese Zerstückelung des eigenen Lebens habe gravierende Auswirkungen auf das geflüchtete Subjekt und präge sein Dasein im Exil. Eindrücklich beschreibt Anders, wie ein Gefühl von Entfremdung und Verlassenheit in einer unbekannten Welt entsteht, die nicht für einen selbst gemacht zu sein scheint. Im Exil würden Geflüchtete in einem ihnen fremden Umfeld selten von ihren Mitmenschen adressiert und in Anspruch genommen werden. Diese fehlende Anerkennung führe dazu, dass ihnen der Status als aktive Subjekte verweigert wird, weil sie letztlich wie Luft behandelt würden und in keiner Beziehung zu ihrer Umwelt stünden. Zentral ist für ihn dabei die Unfähigkeit sich sprachlich auszudrücken, wenn Geflüchtete die neue Sprache also noch nicht oder nicht gut sprechen können. Sie seien so zu einem „Stammeldasein“ (S. 43) verdammt, während sie häufig zugleich im Laufe der Zeit nach und nach ihre Muttersprache verlernten oder verdrängten, was die Erfahrung des zerstückelten Lebens in voneinander getrennte Einheiten verstärke. In der folgen prägten eine „Weltlosigkeit“ und ein „Sozialhunger“ das migrantische Selbstverhältnis, dass im schlimmsten Fall bis zum eigenen „Existenzverlust“ führen könne (S. 19).


In dieser ohnehin schon prekären sozialen Lage sei das Leben im Exil dann zumeist von der „Sorge um das nackte Leben“ (S. 37) bestimmt. Und das bedeute vor allem ein Ringen der Geflüchteten mit dem Staat um Papiere und Dokumente, ohne die ihr Dasein an diesem Ort permanent gefährdet sei. An diese rettenden Papiere zu kommen stelle den Geflüchteten vor permanente Herausforderungen, das notwenige Geld sei häufig nur durch illegalisierte Arbeit zu beschaffen, wodurch die Sonderstellung des Geflüchteten in seiner neuen Umwelt weiter zementiert werde. All diese Umständen prägen nun nicht nur das Verhältnis des Geflüchteten zu sich selbst, sondern auch dessen Beziehung zur Welt leidet, Anders zufolge, unter diesem prekären Dasein. Der permanente Überlebenskampf bedeute für die Geflüchteten, dass diese sich nicht, oder nur eingeschränkt, um Andere oder das Weltgeschehen sorgen könnten. Darin liegt für Anders nun eine besondere Form der „Schande“ (S. 36), die Geflüchtete in ihrer Situation erfahren, ohne dass sie selber Schuld daran hätten: An den großen politischen Miseren ihrer Zeit und an den Geschehnissen in ihren Herkunftsländern könnten sie nur beschränkt emotional Anteil nehmen, da sich ihre Sorgen so sehr um das eigene Überleben in der neuen Lebenswelt drehen müssten. Das geflüchtete Subjekt ist in diesem Zustand spezifisch weltlos und auf sich selbst zurückgeworfen.


Anders setzt sich dann mit der Frage auseinander, welche Handlungsmöglichkeiten Geflüchtete in ihrer von äußeren Umständen begrenzten Subjektivität haben, um das Leben im Exil zu gestalten. Er identifiziert im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Die einen versuchten sich zu assimilieren, um sich schnell eine neue Umwelt aufzubauen, in der sie wieder eine soziale Bedeutung haben. Andere jedoch – zu denen Anders auch sich selbst zählt – verweigerten im Exil eine solche Assimilation und behaupteten eine eigenständige migrantische Existenz. In der Weigerung sich in die Mehrheitsgesellschaft einzufügen sieht er eine Möglichkeit für das prekäre geflüchtete Subjekt Selbstachtung und Würde zu behaupten: Für ihn bedeutet das Sich-nicht-Assimilieren sich weiterhin darüber zu empören, überhaupt geflohen sein zu müssen, es bedeutet sich nicht restlos diesem Umstand zu fügen und ihn dadurch gewissermaßen zu akzeptieren.

In seinem Essay liefert Günther Anders in einer gekonnten Mischung aus theoretischer und literarischer Reflexion eine dichte Beschreibung von Selbst- und Weltverhältnissen derer, die zu der Erfahrung gezwungen werden, fliehen und im unfreiwilligen Exil leben zu müssen. Ganz nah an seinen eigenen Erlebnissen oder Beobachtungen seziert er die Weltlosigkeit des geflüchteten Subjekts im Exil, verliert aber auch nicht dessen mögliche Handlungsfähigkeit aus dem Blick.


Das umfangreiche Nachwort von Florian Grosser vertieft das Verständnis dieses Essays, indem er diesen werkgeschichtlich einordnet und nach aktuellen Impulsen fragt, die die Lektüre für aktuelle Debatten liefert. Zunächst stellt er in gebotener Kürze wesentliche biographische Aspekte von Anders` Leben dar. Er zeigt auf, wie seine schriftstellerischen und philosophischen Werke immer wieder stark von der eigenen gelebten Erfahrung geprägt sind, wie es eben auch bei „Der Emigrant“ der Fall ist. Diesen Essay stellt Grosser dann in den Kontext von Anders` Gesamtwerk und bescheinigt diesem generell eine eigenständige philosophische Position zwischen den großen philosophischen Strömungen der Phänomenologie, des Existenzialismus und der Kritische Theorie. Nachdem er dann zentrale Inhalte des Essays vorgestellt hat identifiziert Grosser einige Aspekte des Essays, die für heutige Debatten anschlussfähig und lehrreich sind. Unter anderem stellt er noch einmal den Gedanken von Anders heraus, dass die Forderung nach Assimilation von Geflüchteten für diese „nur um den Preis eines beschädigten, problematisch abgeschnitten Verhältnissen zur eigenen Biographie zu erfüllen ist“ (S. 83). Diese Analyse macht noch einmal deutlich, dass komplette Anpassung zu fordern immer auch ein Stück weit bedeutet, von Geflüchteten zu verlangen sich von ihrer Misere geschlagen zu geben. Mit diesem Aspekt kritisch vor Augen, lässt sich die Weigerung, sich in dem neuen Land umstandslos einzufügen, als ein subjektiver widerständischer Akt in dieser unsicheren Situation deuten, mit dem das geflüchtete Subjekt Selbstachtung und Würde behaupten kann. Zentral ist für Grosser schließlich, dass es dieser Essay schafft, in der Diskussion um Migration, Flucht und Exil ein Hauptaugenmerk auf die Innenansicht der geflüchteten Person selbst zu legen. Wenn man sich auf ihn einließe könne, dieser Essay so einen Teil dazu beitragen, das eigene Vorstellungsvermögen über die Situation geflüchteter Menschen zu erweitern, um auf diese Thematik nicht ausschließlich aus der Perspektive eines/einer Staatsbürger*in in einem so genannten Zielstaat zu blicken.


Der Essay von Günther Anders bietet in einer eleganten Sprache Einblicke in das Innenleben eines Menschen im erzwungenen Exil. Das Nachwort liefert eine fundierte Einbettung der theoretischen Abhandlung in den zeitlichen und biografischen Kontext des Autors und fragt nach der Aktualität des Textes. Die Lektüre beider Texte ist äußerst anregend und vermittelt wertvolle Reflexionen eines eigenwilligen Denkers des vergangenen Jahrhunderts. Florian Grosser macht zudem darauf aufmerksam, dass sich die konkrete historische Situation von Günther Anders – einem Juden, der vor der Vernichtungspolitik der Nazis fliehen musste – natürlich von der Situation heutiger Geflüchteter, häufig aus Ländern des globalen Südens, unterscheidet. Man könne also von einem 60 Jahre alten Text keinen unmittelbaren Kommentar zur Gegenwart erwarten. Und sicherlich unterscheidet sich Fluchtgeschichten damals und heute nicht nur im Hinblick auf die Fluchtursachen, sondern auch dahingehend, welche Erfahrungen Geflüchtete in den „Zielstaaten“ machen und mit welchen Konflikten sie dort konfrontiert werden. Die Situation von etwa geflüchteten Schwarzen Menschen oder People of Color in den Gegenwartsgesellschaften des globalen Nordens ist sicherlich eine andere als die eines jüdischen Geflüchteten in den USA zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie treffen auf jeweils unterschiedliche Gesellschaften in den „Zielstaaten“ und werden dort etwa nicht nur auf globale, sondern sicherlich auch auf spezifische Konflikte mit der Mehrheitsgesellschaft stoßen. Geflüchtete sind also keine homogene Gruppe und ihre Geschichten von Vertreibung und die Erfahrungen im Exil ereignen sich in jeweiligen speziellen Kontexten. Es gibt also in der wirklichen Welt nicht „den Emigranten“ oder „die Geflüchtete“. Es gibt sie immer nur im Plural.

Julian Pietzko

(Universität Magdeburg)