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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Zur emotionalen Bedingtheit des Politischen


Héla Hecker: Berührbarkeit als conditio humana. Emotionale Phänomene in Hannah Arendts politischem Denken, Bielefeld: transcript 2021, 248 S., 35,00 EUR


Obwohl sich mit der Woge des affective turns auch in der Politischen Theorie der Zusammenhang von Emotionen und Politik zu einem intensiv bespielten Forschungsgebiet entwickelte und traditionelle Konfliktlinien aufgeweicht wurden, bleibt nach wie vor ein Traditionsbestand dominant, der zwischen primär rationalistischen und tendenziell emotionssensiblen Politikverständnissen unterscheidet. Nach dieser sehr schematischen Unterscheidung bilden sich liberale Politikverständnisse unter der Prämisse einer dualistischen Trennung von Gefühlen und Rationalität aus, wobei sowohl das interessenbasierte Politik- wie das rationalistische Rechtsverständnis die Grundlagen einer tendenziell emotionsaversen Theorieströmung bilden. Republikanische Theorien unterstreichen demgegenüber wesentlich deutlicher die emotionale Grundierung des Politischen und unterstreichen deren Gewicht auch in normativer Hinsicht, etwa – so der klassische Rousseausche Topos1 – in Bezug auf den emotionalen Gehalt des Gemeinsinns.2

Das Verhältnis von Emotionen und Politik nunmehr bei Hannah Arendt aufzusuchen, mag auf den ersten Blick irritieren. In der mittlerweile kaum zu übersehenden Arendtforschung stellen Emotionen, wenn überhaupt, einen höchst marginalen Teil dar, von einer systematischen Auseinandersetzung ganz zu schweigen. Dass sich Héla Hecker in ihrer Dissertation mit dem Zusammenhang von affektiv-emotionalen Phänomenen bei Arendt auseinandersetzt, zeugt von der enormen Sensibilität, mit der Hecker Arendt liest. Dies umso mehr als Hecker dem Vorurteil des antiemotionalen Charakters von Arendts Werken eine welt- und politikeröffnende Dimension von emotionalen Phänomenen entgegenstellt, und so die Frage danach stellen kann, welche Rolle Emotionen in der Etablierung gesellschaftlicher Ordnung spielen. Dies ist hinsichtlich der oben genannten Diskurse insofern interessant, weil Arendt sich trotz ihrer republikanischen Schlagseite nicht in abgegriffene Schemas der Ideengeschichte integrieren lässt und daher eine produktive alternative zu den jeweiligen Engführungen bieten könnte. Hecker möchte – ohne sich jedoch mit dem von mir eingeführten Traditionsbestand zu befassen – mit Arendt verdeutlichen, dass affektiv-emotionale Phänomene wesentlich für die Bedingungen sind, unter denen Politik ermöglicht oder verunmöglicht wird (15).

Hierzu führt sie den Begriff der „Berührbarkeit“ ein, der dazu dient emotionale, affektive und allgemein gefühlsorientierte Phänomene unter einer Begrifflichkeit zu bündeln.3 Bricht man die zentrale These Heckers runter, dann findet sich der wesentliche Schnittpunkt der Berührbarkeit und dem Politischem darin, dass die Berührbarkeit eine spezifische pathisch-ereignishafte Erfahrung ist, die als subjektive Ermöglichungsbedingung des politischen Handelns gelten darf. Indem gewisse affektiv-emotionale Phänomene das Subjekt aus seiner geordneten (individuellen und intersubjektiven) Gegebenheiten wirft, stiftet die Berührbarkeit kreative Handlungsmöglichkeiten.

Die erste Grundsatzfrage, die sich dem Begriff der Berührbarkeit folglich stellt, liegt in dessen Abgrenzung gegenüber solchen affektiv-emotionalen Zusammenhängen, die einen gelingenden Weltbezug verhindern und Politik im Arendtschen Sinne daher verunmöglicht (Kapitel 2). Mit der Figur Rahel Varnhagens weist Arendt jene selbstisolierende und weltvernichtende Tendenz in der Romantisierung der Aufklärung aus, die mit der Selbstzentriertheit des denkenden Subjekts zugleich deren Berührbarkeit wie Heteronomie von weltlichen Bedingungen nivelliert (25 f.). Die damit verbundene Kritik gegenüber Rousseau, der die „Macht und Autonomie der Seele“ auf Kosten der „mit anderen Menschen geteilte[n] Wirklichkeit“ sichere,4 entbirgt eine Möglichkeit, durch eine gewisse Form sentimentaler Emotionalisierung den Widerfahrnischarakter des Lebens (und damit die Berührbarkeit) einzuebnen (27-29). An der Doppeldeutigkeit des Begriffs des Mitleids – entweder als pathische ‚compassion‘ oder als bevormundende ‚pity‘ – zeigt sich mit Arendt, wie diese einmal als Berührbarkeit (compassion), das andere Mal als Verhinderung (pity) derselben fungieren kann. Dabei beharrt Arendt auf der Partikularität der compassion, die die Einzigartigkeit (und damit die Pluralität) derjenigen, mit denen man mit-leidet, anerkennt. Berührbarkeit entsteht sowohl im Fall Varnhagens wie im Mitleiden dann, wenn die eigene und fremde Geworfenheit als nicht überwindbare Heteronomie der Weltlichkeit affirmiert wird (30-34).

Hecker zeichnet diese Bipolarität emotional-affektiver Phänomene durch Arendts gesamtes Werk nach. Analog zu Arendts bekannter Kritik an Augustinus’ Liebesbegriff (‚caritas‘) (52 ff.) halten in der Arendtschen Interpretation das Entsetzen, der Schmerz und Rachegefühle „den Menschen in seiner ontologisch gesetzten Isolation gefangen und verschließen vor ihm die Möglichkeit der sicheren und freien Bindung zur Welt und zu den anderen.“ (73) Auf der anderen Seite kann Wut (‚rage‘) eine geradezu befreiende Wirkung haben, indem eine ohnmächtige Leidenserfahrung als letzte Möglichkeit explosionsartig zu widerständiger Aktivität wird und dadurch als Ausdruck des Erleidens der Welt gleichzeitig ein Funken zu deren Veränderung darstellt (50). Auch Mut lässt sich mit Arendt als eine Form des Berührbarwerdens interpretieren, indem dieser die Bedingung für das Sich-Aussetzen in der politischen Öffentlichkeit und des Wagnisses des Versprechens und des Vertrages ist (96).

Binden lassen sich diese Ausprägungen der Berührbarkeit in Arendts Voraussetzung einer amor mundi, die die Weltlichkeit und Abhängigkeit von anderen in gemeinsamen Handlungsmodi grundlegend affirmiert und daher einen emotional positiven Bezug zu jenen ontologischen Gegebenheiten des menschlichen Lebens eröffnet, die die Isolationstendenzen von Augustins Liebesbegriff über die totalitären Bewegungen bis hin zum animal laborans zu verdrängen oder gar vernichten drohen (vgl. 67-72).

Der Begriff der Berührbarkeit hilft indessen die wesentliche Differenz von pathischen Phänomenen, in denen sich individuelle Menschen als (Er)Leidende erfahren und des Politischen als gemeinsames Handeln neu zu denken. Differenz muss hierbei nicht nur als trennend, sondern gleichsam als bindend gedacht werden. Dies führt zu einer begrifflichen Herausforderung, die bei Arendt bekanntermaßen oftmals unter phänomenologisch bereinigten Begriffsbildungen zu verschwinden droht, denkt man etwa an Arendts Tendenz, das Politische primär als eine von allem Sozialen oder Ethischen bereinigte Begrifflichkeit zu denken. Heckers Dissertation weist demgegenüber sehr plausibel und kenntnisreich den Zusammenhang der vermeintlich apolitischen Berührbarkeit mit dem Politischen auf. Gleichsam ließen sich jedoch die damit einhergehenden begrifflichen Konsequenzen weiter vertiefen. Erinnert sei hierbei bspw. an die Arbeit, die Roberto Esposito in dieser Hinsicht in seinen Categorie dell‘impolitico vorgenommen hat.5 In dessen Richtung könnte ohne Weiteres auch mit Heckers Begriff der Berührbarkeit angeschlossen werden, um das Politische selbst an eine apolitische Dimension zu binden, die jedoch nicht als simple Negation des Politischen, sondern vielmehr als konstitutive Kehrseite des Begriffs des Politischen selbst zu verstehen ist.

Konsequent ist aus Perspektive der Verstrickung von Unpolitischem und Politischem, dass Hecker emotional-affektive Phänomene als impliziten Subjektivierungsvorgang bei Arendt interpretiert, auch wenn Arendt selbst nie einen Subjektbegriff entwickelt (97 ff.). Dies erlaubt es ihr, Arendts Verständnisse des Urteilens, des Gewissens, aber auch der Moral und der Person in den Politisierungsprozess einzubinden, der sich vom pathisch-subjektiven Moment hin zum aktiv-kollektiven Moment des gemeinsamen Handelns abspielt (97-134). Wichtiger als mich hier auf diese einzelnen Motive einzulassen, erscheint mir, dass Heckers letztes Kapitel die zuvor gewobenen Stränge in der exemplarischen Figur der Theoretikerin Hannah Arendt bündelt. Arendt als berührbare Denkerin auszuweisen, trägt nämlich den normativen Kern des Begriffs der Berührbarkeit ans Licht. Dieser besteht darin, das philosophische thaumazein, dem Staunen oder Wundern, entgegen der philosophischen Tradition auf die menschliche Pluralität und Weltlichkeit anzuwenden (135 ff.). Im grundsätzlich apolitischen Charakter dieser Erfahrung weist sich zugleich eine politische Bedeutung aus: dass das thaumazein pluralisiert werden kann, bedeutet, dass prinzipiell alle sich für dessen destitutive Wirkung gegenüber etablierten Ordnungssystemen offenhalten können (145 ff.). Diese Form der Berührbarkeit kann man letztlich als jenes selbstreflexive Moment interpretieren, das Berührbarkeit nicht einfach seinem unwillkürlichen Widerfahrnischarakter überlässt, sondern affektiv-emotionale Zustände durch Artikulation in „öffentlich vernehmbare Erscheinungen transformiert“ und dadurch politisiert (150).

Hier von einer Transformation zu sprechen, ist entscheidend, da eine distanzlose Direktwiedergabe ohne eine weltstiftende Urteilsbildung (im Sinne Arendts) selbst wiederum als isolierende Einzelmeinung das Politische einebnen würde (ebd.). Dass sich dabei gerade Arendt teilweise selbst als zweifelhaftes Exemplar erweist, thematisiert Hecker ausführlich und sehr differenziert in ihrer Interpretation von Arendts durchaus problematischen Texten Die ungarische Revolution und Reflections on Little Rock (150-161). Die wesentliche Herausforderung, die sich einem berührbaren Philosophieren stellt, läge zusammengefasst darin, dass auch die thaumatische Erschütterung eine totalisierende Wirkung annehmen und die Urteilskraft hemmen kann (161). Entgegen einer solchen Verkürzung stellt sich die Aufgabe die eigene affektiv-emotionale Betroffenheit stets in einem dialogischen Verhältnis zu den Urteilen und Perspektiven der Anderen kritisch zu hinterfragen und in der Meinungsbildung entsprechend zu transformieren.

Die Stärke von Heckers Buch liegt fraglos darin, eine Ebene in Arendts Denken ans Tageslicht zu bringen, die trotz der kaum überschaubaren Arendtforschung bisher keine systematische Aufmerksamkeit bekam, oder dann allenfalls ausschließlich die emotionsaverse Seite Arendts thematisiert wurde. Aus dieser Leistung wird ersichtlich, wie mit Arendt an einer Dynamisierung des Verhältnisses von affektiv-emotionalen Zuständen und dem Politischen gearbeitet werden kann, und dies obwohl Hecker im Fließtext keine direkten Berührungspunkte zu rezenten Diskussionen ausarbeitet. Es ist auffällig, wie solche Berührungspunkte allenfalls in den Endnoten besprochen werden, was dazu führt, dass der Text vielerorts die gewonnene Dynamik und Spannung, welche die mehr als spannende Thematik in sich trägt, wieder verliert. Die Einbettung einiger Schnittpunkte in den Haupttext hätten der enorm sensiblen und kenntnisreichen Interpretation Heckers sicherlich zusätzliches Gewicht verleihen und die Bedeutung Arendts für rezente Debatten um Emotion und Politik weiter unterstreichen können.

Damian Nussbaumer

(Doktorand am Lehrstuhl für Ästhetik und Kunstphilosophie an der Université de Fribourg mit Forschungsschwerpunkten in zeitgenössischen Normativitätsdebatten und Politischer Theorie)

1 Vgl. das Schlusskapitel in Du contrat social (Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou / Vom Gesellschaftsvertrag. Französisch/Deutsch, Stuttgart 2010 (frz. 1762), 286 ff.).

2 Vgl. für einen knappen Überblick: Gary S./Heidenreich, Felix: „Politik der Gefühle. Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 63, 32-33 (2013), 3-11. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/165744/politik-der-gefuehle-zur-rolle-von-emotionen-in-der-demokratie/ [zuletzt abgerufen am 30.08.2022]. Dies als durchaus bis in rezente Debatten der Demokratietheorie fortgeführter Streitpunkt, beachtet man bspw. das Spannungsverhältnis zwischen Jürgen Habermas’ Deliberationsmodell und Chantale Mouffes agonistischer Demokratietheorie.

3 Hecker wendet sich gegen die übliche Trennung von ‘Affekten’ und ‘Emotionen’ und beansprucht gar mit dem Begriff der Berührbarkeit „das gesuchte Phänomen hinter Emotionen, Gefühlen und Affekten“ (16), ohne diesen Anspruch allerdings jemals ausführlich zu diskutieren.

4 Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1981, 25.

5Esposito zeigt auf, wie Arendts radikales Verständnis von Pluralität selbst als unpolitische Kehrseite im Politischen zu charakterisieren ist. Verkürzt formuliert deshalb, weil Pluralität als Bedingung der Möglichkeit des Politischen selbst niemals in Erscheinung treten kann, was allerdings wiederum spezifisch für Arendts Begriff des Politischen ist. Vgl. Esposito, Roberto: Categories of the Impolitical, New York 2015 (ital. 1988), 81 ff.