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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Siebzehn Exkursionen zu komplexen Lagen. Arendt und die People of Color in den USA.


Marie Luise Knott: 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Waldo Ellison. Berlin: Matthes & Seitz Verlag 2022, 148 S., 22,00 EUR


Es gibt bekanntlich zwei Texte von Hannah Arendt, die immer wieder kontrovers diskutiert werden und welche die Emotionen hoch kochen lassen. Der eine ist Arendts Gerichtsbericht über die Verurteilung von Adolf Eichmann, der im Buch „Eichmann in Jerusalem“ zusammengefasst wurde. Der andere ist der Essay „Reflections on Little Rock“ mit dem Arendt sich im Winter 1958/59 in die rassistische Segregationspolitik der USA einmischt und sich gegen eine gesetzlich verordnete Aufhebung der Rassentrennung in Schulen ausspricht. Beide Texte wurden harsch kritisiert. Das Eichmann Buch beschädigte Arendts Reputation nachhaltig und zerstörte Freundschaften. Dennoch hat Arendt zu keiner Zeit ihre darin formulierten Thesen widerrufen. Anders sieht das im Falle von „Little Rock“ aus. Hier gesteht sie sieben Jahre nach der Veröffentlichung einen fundamentalen Fehler ein. Sie schreibt dem schwarzen Schriftsteller Ralph Waldo Ellison einen zwanzigzeiligen Brief, der als Durchschlag in der Washingtoner Library of Congress aufbewahrt wird und nun auch digital einsehbar ist.1 Anlass war ein Interview, das Ellison dem Journalisten Robert Penn Warren für sein Buch „Who Speaks for the Negro?“ (1965) gegeben hatte, indem er Arendt ein Unverständnis für das „Ideal des Opfers“ der schwarzen Bevölkerung vorwirft, dass diese täglich in den USA bringen müssen. Arendt bestätigt das knapp: „Sie haben völlig Recht […] ich wusste immer, dass ich irgendwie falsch lag, und hatte das Gefühl, ich hatte die nackte Gewalt, die elementare körperliche Angst nicht begriffen. Aber ihre Bemerkungen scheinen mir so zu treffend, dass ich jetzt erkenne, dass ich die Komplexität der Lage schlicht nicht verstanden habe“. Dieses bemerkenswerte Eingeständnis ist der Ausgang der siebzehn Exkursionen zur „Komplexität der Lage“, die Marie Luise Knott in ihrem jüngsten Buch zu Arendt, Ellison und dem Rassismus in den USA unternommen hat.

Das Fazit vorweg: Knott hat ein vorsichtiges und nachspürendes Buch geschrieben, das den Brief von Arendt an Ellison zum Ausgang nimmt, um die jeweiligen Perspektiven zu erhellen. Von Ellison ist weder eine Antwort übermittelt noch ist klar, ob Arendts Zeilen ihn je erreicht haben. Den Mangel an Dialog nimmt Knott zum Ausgang, die Perspektive von Ellison herauszuarbeiten und gleichzeitig aufzuzeigen, welchen Wandel Arendts Denken in Bezug auf den Rassismus in den USA durchmachte. Vieles wird durch Knotts Exkursionen klarer. Inhaltliche Fragen was zum Beispiel das „Opfer“ für Ellison bedeutete, aber auch zeithistorische Kontexte und Arendts Willen, ihr Begreifen der Rassenfrage in politische Forderungen umzusetzen, verhelfen sehr das heutige und das vergangene Amerika sowie Arendts Auseinandersetzung mit der USA zu verstehen. Die Reichhaltigkeit der Perspektiven sowie die Knotts Rekonstruktion des Denkprozesses von Arendt sorgen für einen gelungenen Band. Wer sich also gerade Deutschland mit Arendts Text „Little Rock“ auseinandersetzt, findet in Knotts Exkursionen wertvolle Hinweise, auch wenn sie sich selbst nicht mit dem Text auseinandersetzt.2

Dabei rekonstruiert Knott nicht nur den Denkweg Arendts bezüglich der Rassenproblematik in den USA, sondern begeht auch denselben Fehler, der Arendt schon in die Irre führte: Antisemitismus und US-amerikanischer Schwarzenrassismus werden als einander ähnliche Phänomene begriffen. Dieses Problem ist von Beginn an im Buch angelegt. Knotts Exkursionen entfalten sich entlang eines Bogens, der von der Schilderung jüdischer Erfahrungen zum Rassenhass in den USA führt. So fängt Knott auch gar nicht mit den Ereignissen in Little Rock an, die Arendt zum Verfassen ihres Textes bewogen haben. (Es sei hier kurz erinnert, dass in Little Rock am 4. September 1957 erstmal neun schwarze Schüler:innen eine weiße High-School besuchen durften, sich auf dem Weg zur Schule einem Mob und der Nationalgarde stellten und schließlich aufgeben mussten. Anlass war die Aufhebung der Rassentrennung in Schulen durch den Supreme Court im Jahr 1954. Darauf nimmt Arendt in ihrem Text Bezug.) Sondern Knott stellt ihren Exkursionen die Erzählung voran, wie der jüdische-lettische Immigrant Barney Josephson den ersten nichtsegregierten Musik-Club in New York City eröffnete. Auf diese Weise werden die Exkursionen von Beginn an durch eine Parallelsetzung des Hasses auf Juden mit der Rassendiskriminierung der Schwarzen in den USA dominiert. Knott nimmt als Grundlage ihres Buches an, jüdische Immigranten und People of Color würden einander im Schicksal ähnlich sein. Sie verfolgt damit denselben Gedankengang, der Arendt zu ihrem Text bewog. Nämlich, dass Arendt persönliche antisemitische Angriffe und darauf folgende Reaktionen mit dem Geschehen in Little Rock sowie der Rassenfrage in den USA vermischt, sofern sie sich nämlich die Frage stellte „What would you do if you were a Negro mother?“3 Viel zu spät in ihrem Buch bemerkt Knott knapp: „Auch Arendt war in dieser Hinsicht eine ‚Weiße‘, die sich schwarzen Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht zuwandte,“ (84) sondern zumindest Ende der 1950er immer erst ihre eigene Perspektive auf die Dinge befragte.

Auch Knott stellt zunächst die jüdische Perspektive dar. Im Zentrum der ersten Exkursionen steht nicht die Erklärung des US-amerikanischen Rassismus, sondern die Gegenüberstellung von Arendts Buch über Rahel Varnhagen und Ellisons Novel „Invisible Man“. In solchen und ähnlichen Betrachtungen konstruiert Knott immer wieder Verbindungen, Ähnlichkeiten und Unterschieden. Sie braucht den Vergleich mit der jüdischen Situation, um das Schicksal der People of Color in den USA herauszuarbeiten. Seltsamerweise widerspricht sich Knott in diesem Vorgehen selbst, wenn sie zum einen schreibt, „dass man, das lehrt uns auch die derzeitige Auseinandersetzung über multidirektionales Erinnern, letztlich den Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA parallel, geschweige denn gleichsetzen kann“ (44), um dann immer wieder genau darauf zurückzugreifen, dass die „Schwarzen wie die Juden einen Doppelkampf“ gegen die fortgesetzte Unterdrückung und die Unterdrückungsmentalität in den eigenen Köpfen zu führen hätten (58) oder dass mit Rabbi Abraham Joshua Heschel gesprochen, der „Zug Israels durch das Rote Meer ein Spaziergang gewesen [sei], verglichen mit dem Gang eines Schwarzen über einen Universitätscampus“ (78). Diese Parallelsetzungen und Vergleiche erreichen ihren Höhepunkt letztlich in der Thematisierung von James Baldwins Frage, ob die Schwarzen von den Weißen eines Tages genauso umgebracht werden, wie die Juden von den Nationalsozialisten (68). So augenscheinlich und erhellend diese Vergleiche und Kontraste auch sein mögen, sie verdecken das Singuläre des US-amerikanischen Rassismus. Die Schwarzen wurden und werden nicht wie die Juden im Nationalsozialismus aufgrund ihrer Religion und ihrer Abstammung enthumanisiert und umgebracht, sondern die Schwarzen kämpf(t)en täglich darum, überhaupt den Status, ein Mensch mit Rechten zu sein, zu erlangen.

Dieser Punkt wurde Arendt anscheinend erst 1965, sieben Jahre nach der Veröffentlichung ihres Artikels bewusst, als Ralph Waldo Ellison in seinem Interview mit Robert Penn Warren eindrücklich die existentielle und alltägliche Erfahrung skizzierte, die Arendt trotz ihrer eigenen Erfahrungen fremd sein musste und die Marie Luise Knott im Nachdruck des Interviews nun dankenswerterweise vor Augen führt: „Gewalt war so omnipräsent und wurde oft durch banale oder willkürliche Anlässe entfesselt, dass wir entweder neue Formen von Mut erfinden oder eben auf ihn verzichten mussten, ihm keine Bedeutung gaben. […] Jedes Selbstwertgefühl wurde durch Kleinigkeiten in Frage gestellt. Die belangloseste Geste konnte über Leben und Tod entscheiden.“ (125) Das scheint Arendt erst in der Nachfolge des Interviews überhaupt begriffen zu haben. Denn als sie sich hinreißen ließ, über die Segregation zu schreiben, wurde sie lediglich von ihrer eigenen jüdischen Biografie und ihren gemachten Erfahrungen geleitet. Diese Verquickung jüdischen mit schwarz-amerikanischen Erfahrungen hat Arendt die Situation verblendet. Und auch Knotts Buch ist in dieser Weise der Parallelsetzung von Antisemitismus und Rassismus bis auf weite Strecken gefangen. Das Eigenhafte des US-amerikanischen Rassismus tritt viel zu spät hervor.

Knott wendet sich erst zum Ende ihres Buches voll und ganz dem Empfinden und der Situation der Schwarzen in den USA zu. In der Rekapitulation der von Arendt beim Verfassen ihres Textes „Ziviler Ungehorsam“ (1970) herangezogenen Untersuchung „Slavery. A Problem in American Institutional and Intellectual Life“ von Stanley Elkins (zuerst 1959) gelingt ihr ein wichtiger, ja vermutlich für eine deutsche Leserschaft entscheidender Einblick (ab 102): Der US-amerikanische Rassismus ist nicht ohne die Sklaverei zu denken. Er war und ist vor allem an die Eigentumsfrage gebunden; daran, dass die schwarze Bevölkerung von 1620 bis 1865 als Besitz begriffen worden war und dass sich das in den Südstaaten bis ins 20. Jahrhundert nicht geändert hatte. Die Wurzel des US-amerikanischen Rassismus ist das Verbrechen der Sklaverei und darauffolgende dauerhafte Rechtslosigkeit und die damit verbundenen Gewalterfahrungen der schwarzen Bevölkerung. Das ist jedoch in der Parallelsetzung von Antisemitismus und Rassismus nicht begreifbar. Folgt man Knott war Ellisons Kritik an Arendt ein wesentlicher Anstoß die Komplexität der Lage, dadurch zu entwirren, sich verstärkt den US-amerikanischen Eigenheiten zu widmen. Wann immer dann Arendt die Studie von Eklins gelesen hat, die Lektüre hatte anscheinend Einfluss darauf, dass Arendt auch letztlich versuchte zu intervenieren, in dem sie für die Schaffung eines verfassungsgesicherten Rechtszustandes für alle People of Color plädierte und den zivilen Ungehorsam als legitimes Mittel der Bürgerrechtsbewegung verteidigte. Marie Luise Knott kann, als sie sich wie Arendt der tatsächlichen Situation der Schwarzen zuwendet, zeigen, dass Arendt substantiell ihre Argumente des Textes „Little Rock“ überdacht hat. Gleichzeitig wird ersichtlich, dass für Arendt die entscheidenden Schlachten auf dem Feld des Rechts zu schlagen sind (104/105).

Knotts Buch zeigt sehr gut, wie weit der Vergleich der jüdischen Erfahrungen mit den Erfahrungen der People of Color in den USA reicht. Der Vergleich findet sogleich da seine Grenzen, wo erstens Gemeinsamkeiten sowie Ähnlichkeiten gesucht und woraufhin zweitens Urteile gefällt und Folgen gefordert werden. Das musste auch Arendt erkennen, als ihr Text „Little Rock“ nicht nur an der verbrämten „liberalen“ Öffentlichkeit scheiterte. Die Singularität des US-amerikanischen Rassismus ist ihr zunächst entgangen. Auch Knott vergleicht zu lange, obgleich darin auch ein Vorteil liegt. Man lernt Arendts Perspektive genauso kennen, wie man einen Einblick in die Welt der schwarzen Intellektuellen in den USA erhält. Vor allem lernt man bei Knott, „wie arm an Erfahrungen [Arendt in den 1950er /RR] in der Schwarzenfrage war“ (90). All das verbirgt Knott nicht. Doch nimmt sie Arendt ebenso gern in Schutz. Gleich zwei Mal schreibt Knott, Arendt habe unter Zeitdruck ihren Text „Little Rock“ geschrieben. Dabei fällt unter den Tisch, dass zwischen der Ablehnung durch die Zeitschrift Commentary und der Veröffentlichung im Magazin Dissent gut ein Jahr verging — genügend Zeit also, sich genauer Gedanken zu machen. So fehlt in der kritischen Auseinandersetzung mit Arendt auch, dass es sehr wohl weiße Intellektuelle gab, die sich mit den Schwarzen in New York City viel früher auseinandersetzen. Simone de Beauvoir schildert ihre Ausflüge nach Harlem mit dem schwarzen Schriftsteller Richard Wright schon in den 1940er Jahren.4 Wenn man bedenkt, dass Arendt am Morningside Drive (wo sie bis 1959 wohnte) wie auch am Riverside Drive in unmittelbarer Nachbarschaft zu Harlem lebte, versteht man eigentlich sehr wenig, warum Arendt so lange brauchte, um den Rassismus als ein ganz anderes gelagertes Phänomen als den europäischen Antisemitismus zu begreifen. Vielleicht hat Arendts erwecktes Interesse ja damit zu tun, dass Ralph Waldo Ellison ab 1964 im Bard College lehrte und somit Kollege ihres Ehemann Heinrich Blücher gewesen ist. Ganz sicher hat Arendt, je mehr sie sich mit dem US-amerikanischen politischen wie auch gesellschaftlichen System beschäftigte und die europäischen Fragen hinter sich ließ, das Verbrechen der Sklaverei mit anderen und interessierteren Augen gesehen. In diesem Sinne ist Knotts Buch „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“ auch eine Exkursion dem Hudson entlang von der Upper West Side in die Mitte von Harlem.

Ringo Rösener

(Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig)

1 Hannah Arendt Papers: Correspondence, 1938-1976; General, 1938-1976; "E" miscellaneous, 1963-1975. Blatt 7. https://www.loc.gov/resource/mss11056dig.020340/?sp=7.

2 Eine erhellende inhaltliche Auseinandersetzung findet sich bei Maike Weißpflug (2019): Hannah Arendt. Die Kunst politisch zu denken. Berlin: Matthes & Seitz. S. 62-98.

3 Hannah Arendt (1959): „A reply to my critics“, Dissent, Spring 1959, New York: Dissent Pub. Corp., S. 179-181, insb. S. 179.

4 Simone de Beauvoir (2011): New York, mon amour. Reisetagebuch. Herausgeben und mit einem Vorwort von Susanne Nadolny. Berlin: edition ebersbach, S. 55ff.