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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Im Streit mit Hannah Arendt


Rezension: Juliane Rebentisch: Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt. Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, 287 S., 28,00 EUR.


Zur allererst: Das neue Buch von Juliane Rebentisch hat einen leidlich irreführenden und irgendwie auch redundanten Titel. Treffender und erhellender müsste das Buch schlicht „Im Streit mit Hannah Arendt“ heißen. Auch das Cover ist in seiner Wahl- und Relevanzlosigkeit erschütternd. Mit der grau-tristen Aufmachung hilft der Suhrkamp Verlag seiner Autorin kaum und man kann sich nur wünschen, dass das Buch baldigst im gewohnten Softcover erscheint, worin Suhrkamp seine Titel unverwechselbar in eine etablierte Marke verwandelt. Denn grundsätzlich hat es das Buch verdient. So hat Rebentisch insbesondere für den deutschsprachigen Raum sowie für an Hannah Arendt Interessierte ein wichtiges und an vielen Stellen spannendes Buch geschrieben. Was aber macht das Buch von Rebentisch so besonders im Vergleich zu den zahlreichen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre? Rebentischs Auseinandersetzung sticht in der Reihe der Veröffentlichungen der letzten Jahre vor allem deshalb heraus, weil es Position bezieht. Damit erweist sie sich an vielen Stellen nicht als Hannah Arendt-Erklärerin, sondern als eine durchaus ebenbürtige Disputantin. Das gelingt Rebentisch vor allem dann, wenn sie Arendt mit den richtigen Gesprächspartner:innen zusammenbringt und die Pluralität zum Prinzip des Buches erklärt, statt nur darüber zu schreiben.


Man kann das Buch trotz seiner zehn Kapitel in drei Teile einteilen. Rebentisch beginnt mit drei – für Arendt Expert:innen – scheinbar schwachen ersten Kapiteln. Diese erinnern stark an Einführungsvorlesungen und sind vermutlich auch so gedacht, um das darauf Folgende vorzubereiten und die Stoßrichtung des weiteren Buches vorzugeben. Anschließend kommt sie in fünf Kapiteln zu den streitbaren Themen in Arendts Werk: Die Ausblendung sozialer Fragen, die Behandlung von Rassismus und die Spannung zwischen Assimilation und Diskriminierung. Die zwei letzten Kapitel fallen etwas aus der Struktur des Buches heraus, weil Rebentisch hier an dichten politik-philosophischen Auseinandersetzungen schreibt, die Kategorien wie Freiheit, Gleichheit, Einzigartigkeit sowie demokratischer Meinungs- und Entscheidungsbildung diskutieren. Damit dockt Rebentisch an die gegenwärtigen disziplinären Diskurse der Politikwissenschaften und Sozialphilosophie an und verlässt so auch ein wenig die starken Auseinandersetzungen mit Arendt ihrer vorherigen Kapitel.


Zu Beginn jedoch bleibt Rebentisch dicht bei Arendt. Die ersten drei Kapitel versuchen eine kleine Einführung in die grundlegende Theorie der Pluralität zu geben, oder wie es Rebentisch selbst ausdrückt „das Arendtsche Begriffsnetz von der Seite der Pluralität“ hochzuheben (10). Pluralität wird dabei zunächst als Haltungsfrage und als Zuwendung zu einer gemeinsamen Welt entdeckt. Hier geht es Rebentisch vor allem darum, mit Arendt das Miteinander-Sprechen als wichtigsten Anker einer multiperspektivischen Welt zu deuten. Die Leittexte sind Arendts Auseinandersetzung „Gedanken zu Lessing“ und die Veröffentlichung Sokrates. Apologie der Pluralität.1 Dabei interessiert sich Rebentisch vor allem für die Aspekte, ob es so etwas wie Wahrheit im Sprechen überhaupt geben kann. Für Arendt-Vertraute ist daran nicht viel neu. Arendts Lessing stände für die Findung der Wahrheit im Meinungsstreit, Sokrates für den Nachweis, dass man ohnehin nicht(s) wisse und jede vermeintliche Gewissheit erstmal kräftig irritiert werden müsse. Beide Positionen werden gegen die systematischen Philosophien auf der Fluchtlinie Platon - Hegel gehalten. Arendt, so Rebentisch, wäre in ihren Texten eine Philosophin, „die ihren Ursprung im Staunen über die Pluralität hat“ (27) und nicht in der Systembildung.


In die auf das Staunen folgende Systematik führt das zweite Kapitel ein. Rebentisch liest sehr fokussiert die Vita activa oder Vom tätigen Leben und konzentriert sich auf die Aspekte des von Arendt beschriebenen Erscheinungsraums, als Raum des politischen Handelns und Sprechens.2 Einzigartig ist der Mensch in der Lesart Rebentischs nicht nur aufgrund biologischer Konstitution, sondern weil er seine Stimme (als sogenannte zweite Geburt) in einem öffentlichen Erscheinungsraum erhebt. Problematisch wäre, dass Arendt vor allem soziale Prägungen aus dem Blick verliere (42). Die soziale Bedingtheit wäre mit Arendt nicht gemeint, denn der Erscheinungsraum bleibe ein Raum nur derjenigen, die „vor- und füreinander in Erscheinung treten“ (43). So lässt sich anhand Rebentischs der Kern in Arendts Überlegungen nochmals klarer fassen: Dass nämlich jeder Erscheinungsraum dem Sprechen und Handeln folgt und nicht schlicht vorliegt (vgl. auch das 10. Kapitel). Daran schließt sich letztlich das Hauptproblem Rebentischs mit Arendt an: Nur wem das Sprechen erlaubt ist und wem dann zugehört wird, wäre überhaupt in der Lage in Erscheinung zu treten (Vgl. 44). Für Rebentisch heißt das, dass die soziale und gesellschaftliche Bedingtheit von Menschen bei Arendt immer wieder ausgeblendet wird. Das wird jedoch von Rebentisch nicht in diesem Kapitel zu Ende gedacht, sondern erst ab dem vierten Kapitel systematisch behandelt.


Im dritten Kapitel geht Rebentisch auf dem von ihr benannten „Negativraum des Erscheinens“ ein, indem sie sich vor allem Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zuwendet. Bemerkenswert ist Rebentischs Nachzeichnung, wie unerwünschte Menschen im Nationalsozialismus aber auch in der Gegenwart „Mundtot“ gemacht werden (65). Rebentisch konzentriert sich insbesondere die Analyse „Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte“.3 Das verwundert jedoch, da Arendt viel klarer und viel bewusster im letzten und später hinzugefügten Essay „Ideologie und Terror“ die Präparierung von Opfern und Mundtoten nachgezeichnet hat. In diesem Sinne wirkt das Kapitel ein wenig an Arendt vorbei geschrieben. Anscheinend geht Rebentisch hier vor allem anhand einer spezifischen Fragestellung Arendts, dem Problem der Menschenrechte, auf einen Diskurs ein, der in den vergangenen Jahren u.a. von Christoph Menke angestoßen und moderiert wurde. Das ist in sich nicht verkehrt, bleibt aber in dieser Debatte hängen, ohne sich mit Arendt weiter zu beschäftigen.


Von ganz anderem Charakter sind die daran anschließenden Kapitel. In diesen begibt sich Rebentisch in einen Streit mit Arendt, der sowohl befreiend als auch erhellend ist. Fokussiert werden in den weiteren Abschnitten die Folgen der Dichotomie des lichten sowie öffentlichen Erscheinungsraum im Gegensatz zur Dunkelheit des verdrängten und vergessenen Lebens. Die Kapitel widmen sich Aspekten der sozialen Frage, der US-amerikanischen Sklaverei, dem Rassismus und dem Verlust der Moral. Hier legt Rebentisch sozusagen die Finger in die Wunden, die Arendts Aufteilung den Diskursen und Menschen zugefügt hat und versucht diese dadurch zu kitten, dass sie andere Gedanken und Ideen mit ins Spiel bringt. Das ist mitunter etwas durcheinander, weil die Themen eher in Wellen statt systematisch bearbeitet werden, hat aber den Vorteil, dass pro Kapitel jeweils ein oder zwei Grundtexte mit einem oder zwei Disputanten konfrontiert werden.


Das vierte Kapitel wird getragen durch Arendts Bemerkungen zur Rolle der Armen und sozial Vergessenen in der Französischen Revolution in der Gegenüberstellung zur Amerikanischen, die bekanntermaßen deshalb erfolgreich gewesen wäre, weil sie keine soziale Revolution war. Rebentisch betont, dass Arendts Behauptung auf eine Ausblendung der Sklaverei in den USA fußt und stellt dieser die Analysen von Orlando Patterson Slavery and Social Death. A Comparative Study und verschiedenen Texten von Fred Moten entgegen.4 Beide zeigen, so Rebentisch, das fundamentale Problem des Zugangs von Arendt auf: Diese blende nicht nur die Sklaven als die Träger des Elends aus, aufgrund dessen die Gründerväter der USA ihre Verfassung schreiben konnten, sondern Arendt binde ihren Freiheitsbegriff an Herrschaft und Gewalt über jene Menschen, die lediglich „nacktes“ Leben sind (92f). Arendt verliere so die „moralische Verpflichtung“ aus dem Blick, die daraus eigentlich erwachsen würde (94).


Das Problem der Weltlosigkeit der schwarzen Sklaven setze sich bei Arendt in der kritischen Bewertung der sogenannten „Brüderlichkeit“ der an den Rand oder in die Dunkelheit gedrängten in Kapitel Fünf fort. Vertraut ist auch hier, dass Arendt dieser nur insofern Wert zuschreibe als dass unter ihnen eine besondere Wärme und Menschlichkeit entsteht, die jedoch die „Stunde der Befreiung noch niemals auch nur eine Minute überlebt“ hätte (Arendt, zitiert nach 102). Auch hier setze sich die Unterscheidung zwischen Erscheinungsraum und Sphäre des puren Lebens fort. Dort wo das Leben in Gefahr wäre, würde sich die Brüderlichkeit herausbilden, ja sogar als eine Liebe zueinander verstanden werden, aber diese wäre eben nie politisch. Rebentisch zeigt das daraus resultierende Problem exemplarisch anhand James Baldwins Artikel „Letter from a Region in My Mind“ im The New Yorker (1962) auf und bringt so Baldwin als Gegenspieler in Stellung.5 Arendt antwortet auf Baldwin und ermahnt den Schriftsteller, dass Liebe in der Politik nichts zu suchen hätte (106). So weit, so bekannt. Rebentisch gelingt aber nun in der Analyse von Baldwins Text nicht nur der Nachweis, dass Arendt allzu flüchtig gelesen und vorschnell geantwortet hat, sondern auch, dass Baldwins Liebe, als eine „Feier des Lebens“ überhaupt die Basis ist, Erscheinungsräume entstehen zu lassen. Genauer stellt Rebentisch heraus, dass nämlich die Liebe, von der Baldwin spricht, eine Liebe zur Welt ist, weil sie die Existenzbedingungen des Lebens feiere und nicht verdränge (117). Auch hier gelingt es Rebentisch aufzuzeigen, dass Arendt zu Unrecht die Dunkelheit jenseits der Erscheinungsräume, das pure bzw. das soziale Leben, abzutun scheint.


Die gleiche Dichotomie spielt eine entscheidende Rolle in Arendts Text „Reflections on Little Rock“, der im achten Kapitel diskutiert wird. Das eigentliche Problem des Textes entgeht Rebentisch: Dass Arendt in den Reflexionen die Ebenen des Sozialen und des Politischen vermischt, da Arendt ihre eigene Biografie als Argument in ihr Urteilen einflechtet und daraufhin verpasst, das Politische, ja die Entstehung eines Erscheinungsraumes in Little Rock und Charlotte als eine solches Ereignis zu erfassen! So fügt Rebentisch der Debatte um „Little Rock“ auch kaum etwas Neues hinzu und man ist hier mit Marie-Luises Knotts 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive besser beraten.6 Wiederholt wird die problematische Trennung des Sozialen, in der Diskriminierung notwendig ist, vom Politischen, wo Gleichheit unabdingbar wäre. Rebentisch konzentriert sich hier auf die von Arendt befürchtete Nivellierung durch eine gleichförmige Massengesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, Unterscheidungen zu treffen, also „zu diskriminieren“. Dabei vergesse Arendt auch hier, dass sie damit lediglich „eine Ordnung weißer Vorherrschaft“ stütze (180).


Dieses Argument wird im sechsten Kapitel explizit ausgeführt, das mit eines der stärksten in Rebentischs Auseinandersetzung mit Arendt ist. Hier zerlegt sie Arendts Herleitung des Rasse-Begriffs in ihrem Totalitarismus-Buch. Das ist in der Schärfe und in der Klarheit im deutschen Sprachraum bisher ungewöhnlich und bisher nur von Michael Brumlik (2002) durchgeführt worden, den sich Rebentisch folgerichtig als Gewährsmann dazu holt.7 Rekonstruiert wird Arendts windschiefe Ableitung des Rasse-Begriffs aus der Minderheiten Erfahrung der Buren und der Heranziehung Joseph Conrads Herz der Finsternis. Gegenübergestellt werden eine angenommene Traditionslosigkeit und konstruierte Zivilisiertheit, die sich zunehmend in die Traditionslosigkeit auflöse. Rasse markiert mit Arendt dabei genau jenes Ende, in der das Zivilisatorische über den Haufen geworfen werde und die Weltlosigkeit um sich greife (138). Rebentisch entwirft damit eine grundlegende Skizze, woraufhin man sich Arendts Kapitel „Rasse und Bürokratie“ nochmals genauer anschauen sollte. Arendts Eurozentrismus wird genauso greifbar wie ihr westlicher Kulturelitismus. Denn mir Rebentisch wird nochmals klar, Arendt übergeht in ihrer Herleitung nicht nur den Sklavenhandel, der von den weißen Kolonialisten organisiert und perfektioniert wurde, sondern es kommt ihr gar nicht in den Sinn, dass die in Afrika lebenden Menschen ebenso über eine Kultur und eine Zivilisation verfügen, die lediglich anders ist, als die Europäische. In diesem Sinne ist man erleichtert, wenn Rebentisch klarstellt: „Das alles ist […] schlichtweg unhaltbar“ (137).


Im Nachgang all dieser Kapitel stellt sich jedoch eine entscheidende Frage: Wie tief steckt in Arendts Unterscheidungen zwischen einer Welt der Menschen und der Weltlosigkeit, zwischen dem politischen Erscheinungsraum und dem lediglich Privaten, zwischen Zivilisation und dem puren Leben, eine zutiefst bürgerliche Scham vor einem angenommen „schmutzigen“ Allzumenschlichen (für das Arendt nie die Kraft aufwendete, sich dem zuzuwenden)? Oder anders gefragt, wie verhaftet ist Arendts Denken in der alteuropäischen Vorstellung von „Kultur- und Zivilisationstraditionen“? Ist überhaupt noch die berühmt zitierte Figur des „Denken ohne Geländer“ haltbar? Hält Arendt sich nicht doch an einem Geländer fest, das in der Tradition der cultura animi (Cicero) oder Kants Kultiviertheit steht und tief in der Welt des europäischen Bürgertums verhaftet ist? Müsste man also nicht noch eine viel distanziertere Perspektive einnehmen und fragen, ob Arendt, statt aristokratisch oder gar olympisch zu denken und zu urteilen, nicht vor allem darum bemüht ist, sich an einem zutiefst bürgerlichen Bild von Kultur und Zivilisation zu orientieren und einen Topos des Bürgertums des langen 19. Jahrhunderts lediglich politiktheoretisch wendet?8


Rebentisch stellt diese Fragen nicht, sondern biegt in den letzten beiden Kapiteln in einen politiktheoretischen Diskurs ein. Hier verfolgt sie, wie der öffentlich demokratische Raum als eine Erscheinungsraum zu denken ist, in dem etwas zu Sprache kommen kann. Dabei konzentriert sich Rebentisch vor allem auf den vermeintlich blinden Fleck Arendts, „dass [nämlich / RR] die Frage, wer bestimmt, was sich als öffentliche Angelegenheit und daher als wahrhaft politischer Gegenstand qualifiziert, selbst eine hochgradig politische Angelegenheit ist“ (220). Spezifischer geht es Rebentisch (diesmal mit Jaques Rancière)9 um die Problematisierung dessen, dass der öffentliche Raum zugangsbeschränkt ist und Politik schon da einsetzen würde, wo die Zugangsbeschränkungen aufgesprengt werden – also wo sich das Soziale zu einer Stimme erhebt — und eben nicht erst im Erscheinungsraum selbst. Rebentisch versucht das Soziale und Private für das politische Handeln zu retten und hält sich vor allem an den kapitalismuskritischen Diskurs der vergangen Jahre. Dabei bewegt sie sich aber immer weiter von Arendt weg und verpasst den eigentlich ermächtigen Zug in Arendts Schriften.


Denn es lässt sich ja schon fragen, wo der Vorteil von Arendts Figur des Erscheinungsraumes von Gleichwertigen ist und warum das Soziale ausgeklammert wird. Arendts Antwort liegt in ihrem Text „Freiheit und Politik“. Arendt wusste sehr genau, dass wer spricht und handelt etwas Privates hinter sich lassen muss, um andere überhaupt adressieren und dauerhaft etwas verändern zu können. Aus diesem Grund ist eine wesentliche Hürde in die Öffentlichkeit zu treten, auch nicht das Soziale oder Notwendige, das den Einzelnen allein betrifft, sondern dessen Überwindung. Diesen Willen zur Überwindung des Sozialen oder des Privaten bezeichnet Arendt als Mut: „Des Mutes in einem politischen Sinn bedarf es, um diese uns überdauernde Welt des Öffentlichen überhaupt zu betreten, nicht, weil in ihr besondere Gefahren lauerten, sondern weil in ihr die Sorge um das Leben seine Gültigkeit verloren hat. Der Mut befreit von der Sorge um das Leben für die Freiheit der Welt. Des Mutes bedarf es, weil es in der Politik niemals primär um das Leben, sondern immer um die Welt geht, die so oder anders aussehen, so oder anders uns überdauern soll.“10 Wenn aber Mut, die eigentliche Eigenschaft ist, um öffentlich zu sprechen, dann garantiert Arendt allen Menschen, egal in welcher Lebenssituation, die Fähigkeit zu, politisch zu werden und einen Erscheinungsraum aufzuspannen. Reichlich spät erkannte Arendt jedoch, dass insbesondere dafür in den USA die rechtlichen Rahmenbedingungen fehlten. Nachträglich lässt sich der Aufsatz „Ziviler Ungehorsam“ womöglich deshalb als ein Plädoyer für eine Konstitution verstehen, in der Arendt den für sie einzigen gültigen Hebel entdeckt, das Erscheinen abzusichern: Nur eine rechtliche Verankerung zum zivilen Protest hilft allen (vgl. Knott 2022, Kapitel 17).11


Wenn man mit Arendt streitet und sich nicht von aktuellen Diskursen leiten lässt, dann lässt sich eine Grundspannung in Arendts Schreiben nachzeichnen. Ihr Denken bewegt sich nämlich im Konflikt zwischen dem Festhalten an einer ungewöhnlich affirmativ aufgeladenen eurozentristischen Bürgerlichkeit und ihrer Entdeckung, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, selbst in Aktion zu treten, um etwas (dauerhaft) zu verändern. Rebentischs Buch schrammt an der Aufdeckung dieses Konfliktes im Denken Arendts vorbei, aber es stößt die Tür zu diesem auf. Das gelingt Rebentisch gerade weil sie Arendt von der Pluralität her liest und den Widersprüchen nachgeht, die Arendt in der Gegenüberstellung von Leben und Welt, Privatem und Öffentlichem sowie Leben und Handeln in allen ihren Schriften eingeflochten hat. In diesem Sinne ist Rebentischs Buch eine lohnenswerte Auseinandersetzung. Viel lohnenswerter scheint es allerdings zu sein, Arendt bis zu ihren bürgerlichen Wurzeln zu verfolgen, sie zu historisieren und sie als eine Frau neu zu lesen, die sich zwischen dem langen 19. Jahrhundert und einem Aufbruch in Amerika bewegt.

Ringo Rösener

Universität Leipzig

1 Hannah Arendt, „Gedanken zur Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, München 2019, S. 11-45.

Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität. Berlin 2016.

2 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2001.

3 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2001.

4 Orlando Patterson, Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge (Mass.), London 1982

Fred Moten, „Blackness and Nothingness (Mysticism in the Flesh)“, in: The South Atlantic Quarterly 112:4 (2913), S. 737-780.

Fred Moten, The Universal Machine, Durham 2018.

Stefano Harney, Fred Moten, Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien, Linz u.a. 2016.

5 James Baldwin, „Letter from a Region in My Mind“, in: The New Yorker vom 17. November 1962, S. 59-144.

6 Marie Luise Knott, 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison. 17 Hinweise. Berlin 2022.

7 Michael Brumlik, „‚The scramble for Africa. Hannah Arendts paradoxer Versuch, den Holocaust aus dem Kolonialismus abzuleiten“, in: Lothar Fritze (Hg), Hannah Arendt weitergedacht, Göttingen 2008, S. 153-165.

8 Vgl. z.B. Wolfgang Kaschuba, „Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis“, in, Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 2, München 1988, S. 92– 127: „Ihr bürgerliches Interesse und ihre Vorstellungen verknüpfen sich in bestimmten politischen und sozialen Grundauffassungen: etwa im Prinzip ‚Öffentlichkeit‘, im Prinzip ‚Individualität‘, im Prinzip ‚Diskurs‘, im Prinzip ‚Allgemeinwohl‘ und im Prinzip ‚Fortschritt‘.“ (92) „Eben dies meint ‚Bürgerlichkeit‘, verstanden als ein sozial bestimmter und kulturell geformter Habitus: ein in sich zwar vielfach abgestuftes und variiertes, in seinen Grundzügen jedoch verbindliches Kulturmodell, das entscheidende Momente sozialer Identität in sich birgt. Es vermittelt bürgerliches Selbstverständnis und Selbstbewußtsein, definiert durch den Gebrauch materieller Güter, durch den Bezug auf ideelle Werte, durch die Benutzung kultureller Verhaltensmuster, die zusammengenommen ein lebensweltliches Ensemble bilden. Es ist gleichsam die ‚zweite Natur‘ der Bürgerlichen, die sich darin verkörpert, die sich in eigenen Formen und Normen habitualisiert und damit der ‚Kultur‘ eine doppelte Funktion zuschreibt, als Identitätsmodell wie als Distinktionsmittel.

Dabei kommt dieser zweiten Wirkungsebene, der Distinktionsfähigkeit, zu Beginn des 19.Jahrhunderts zweifellos eine ganz besondere Bedeutung zu. Bietet sie allein doch den bürgerlichen Gruppen die Möglichkeit, trotz des Verzichts auf ständische Privilegien und formale Schranken dennoch soziale Grenzen und Distanzen in der Gesellschaft zu wahren, sich als Individuum wie als soziale Gruppe kenntlich machen zu können. Man braucht dabei nur an Sprachverhalten und Bildung zu denken, an Kleidung und Körperlichkeit, an Eßkultur und Wohnstile, an Familienformen und Ehrbegriffe, um vor sich ein breites, alltägliches Verhaltensspektrum zu sehen, das wie ein Signalsystem funktioniert. Seine Wirkung beruht auf ‚sozialen Zeichen‘ und ‚symbolischen Formen‘, in denen sich eine bestimmte Umgangsweise mit materieller und geistiger Kultur ausdrückt, bestimmte Muster von Stil und Geschmack als Signets für ‚Bürgerlichkeit’.“ (101f.)

Vgl. auch: Jürgen Kocka, „Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in, ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63, insb. 42-48. (Der Rezensent dankt Uta Karstein an dieser Stelle für die Literaturhinweise).

9 Jacques Rancière, Zehn Thesen zur Politik, Berlin 2008.

10 Hannah Arendt, „Freiheit und Politik“, in, dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Herausgeben von Ursula Ludz, München 2012, S. 201-226, hier S. 208.

11 Hannah Arendt, „Ziviler Ungehorsam, in, dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II. Herausgeben von Ursula Ludz, München 2012, S. 283-321.