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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Hannah Arendt, Stimme im Kanon der abendländischen politischen Ideengeschichte


Dana Villa, Arendt, London-New York: Routledge, 2021, 416 S. Paperback £ 19.99. eBook £ 16.99.


Dana Villa, Professor of Political Theory an der University of Notre Dame im Bundesstaat Illinois der USA und eine Autorität in der Arendt-Sekundärliteratur, hat in der Reihe „Routledge Philosophers“ den Band „Arendt“ übernommen. Er hat die Gelegenheit genutzt, um tief und detailliert in Arendts Werk einzudringen. Sein Anliegen ist nicht ein „diffuse survey of her oeuvre“, sondern er konzentriert sich auf die Gedankenwelt der politischen Philosophin/Theoretikerin, von der er gleich eingangs (S. 8) behauptet, sie könne eindeutig „in the mainstream of the civic republican tradition“ verortet werden. Arendts vier Hauptwerke stehen im Mittelpunkt seiner Untersuchungen: The Origins of Totalitarianism als Kapitel 2 mit der Übergangsphase der Marx-Studien als Kapitel 3, The Human Condition (Kap. 4), On Revolution (Kap. 5) und The Life of the Mind (Kap. 6, 7). Jedes Kapitel wird durch ein „Summary“ und ausgewählte Vorschläge für „Further Reading“ beendet (es gibt kein Gesamt-Literaturverzeichnis, leider auch kein Siglen-Verzeichnis zur zitierten Arendt-Literatur). Dieser Korpus wird umrahmt von einer tabellarischen Chronologie zu Arendts Leben und Werk und einem ersten Kapitel über „Life, influences, and central concerns“ am Anfang sowie einem achten zusammenfassenden Kapitel mit dem Titel „Legacy“ und einem ausführlichen Namens- und Sachindex am Ende des Bandes.

Villas Untersuchungen bewegen sich im Rahmen der englischsprachigen politischen Wissenschaft und Theorie. So gut wie unberücksichtigt bleibt bei dieser Würdigung Arendts als „,canonical‘ thinker in the Western tradition of political theory“ (S. 1) ihr 2002 aus dem Nachlass veröffentlichtes Denktagebuch, von dem bis dato keine englische Ausgabe erschienen ist. Ganz ausgeklammert ist darüber hinaus die Thematik von Arendts Zweisprachigkeit, d.h. die Tatsache, dass von ihren (besprochenen) Hauptwerken (ausgenommen The Life of the Mind) neben der englischen eine von ihr selbst erstellte, mit der englischen nicht identische, deutsche Fassung existiert. Auch der ersterschienene Band (= Band 6) der Kritischen Hannah-Arendt-Gesamtausgabe (KGA) wird nicht einbezogen. Das ausführliche Referat der Gauss Lectures (S. 122-136, im Buch leider durchgehend als Gaus <sic!> Lectures), erfolgt nicht auf der Grundlage der KGA, sondern anhand der Veröffentlichungen von Jerome Kohn in dem Band Thinking Without a Banister (2008).

Andererseits ist Villas Sicht auf Arendt durchaus transatlantisch angelegt. Er erläutert und kommentiert ihr Denken nicht nur im Licht der einschlägigen amerikanischen Literatur, sondern in der Tradition abendländischen politischen Denkens von Plato, Aristoteles bis zu Kant, Hegel, Marx und Tocqueville, aber auch unter Hinweis auf europäische Autoren der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Erwähnt sei Martin Heidegger als Autor, der – wie Villa in einer vielzitierten Monografie aus dem Jahr 19951 herausgearbeitet hat – einen großen Einfluss auf Arendt hatte. Häufiger Referenzautor aus dem deutschen Sprachraum ist ferner Jürgen Habermas, in Villas Blickfeld sind darüber hinaus etwa auch Albrecht Wellmer und, besonders erwähnenswert (S. 300f.), Hans Blumenfeld.

Im Schlusskapitel „Legacy“ stellt Villa fest (S. 396), dass erst ab den 1990er Jahren Arendts Werk ohne „ideological preconceptions“ und „on its own terms“ gelesen werden konnte. Sie habe Bedeutsames zu sagen gehabt „not just about totalitarian evil and participatory politics, but also about the public sphere, political freedom, the legacy of republicanism, the anti-democratic character of much of the Western tradition, and the civic corruption produced by an unfettered capitalism.“ Sein Buch ist eine eindringliche Vorführung dieser Gedankenwelt.

Villa liest Arendt mit großer Gründlichkeit (die überwiegende Zahl seiner „notes“, allein fast 200 im Kapitel 5, enthalten Hinweise auf Stellen in den besprochenen Arendtschen Werken). Er nimmt ihre Argumente ernst, ja er lässt sich, wenn man so will, auf sie ein. Zum Beispiel, wenn er auf Arendts besorgte Haltung („fearful sense“) darüber hinweist, was wir mit sich beschleunigenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technologischen Wandlungsprozessen dem „human artifice that houses us“ und der „earth upon which that artifice is built“ antun. „Let us say that Arendt is right about this“, formuliert Villa an einer Stelle, die herausgegriffen sei (S. 160f.). Er folgt ihrem Gedankengang über das Herabsinken des Herstellens auf das Niveau des Arbeitens und stellt fest, dass er einen wahren Kern enthält, z.B. wenn sie von „der Gefahr der bevorstehenden Automation“ schreibt:

Bei der Gefahr der bevorstehenden Automation handelt es sich sehr viel weniger um die Bedrohungen des natürlichen Lebens durch Mechanisierung und Technisierung als vielmehr darum, daß gerade die ‚Künste‘ des Menschen, und damit seine wirkliche Produktivität, in einem ungeheuer intensivierten Lebensprozeß einfach untergehen könnten, wobei dann dieser Prozeß automatisch, nämlich ohne der Mühe und Anstrengung der Menschen noch zu bedürfen, in dem natürlichen, immer wiederkehrenden Kreislauf des Lebens mitschwingen würde. Der natürliche Lebensprozeß würde dabei zwar ungeheuer intensiviert und dementsprechend außerordentlich viel ‚fruchtbarer‘ werden, weil er ständig von dem Rhythmus der Maschinen zusätzlich angetrieben und beschleunigt werden würde; aber auch dieses maschinisierte und motorisierte Leben würde seinen Grundcharakter in Bezug auf die Welt nicht ändern, es würde nur ungeheuer schneller und intensiver die Dinge der Welt verzehren und damit die der Welt eigene Beständigkeit zerstören.2

Villa also begibt sich in Arendts Texte, schreibt nicht über sie. Das ist eine rezeptive Haltung, die Arendt gefallen hätte, die ihren Vorstellungen von der Auseinandersetzung mit einem Autor entsprechen dürfte. Im Anschluss an die zitierte Stelle schreibt Villa und diagnostiziert:

Die menschliche Fähigkeit des spontanen Handelns würde von diesem pseudo-natürlichen Rhythmus verschlungen, während die öffentliche Sphäre an den wirtschaftlichen Imperativen des Business-Kreislaufs oder der zentral geplanten Wirtschaft ausgerichtet wäre. Der ‚Lebensprozess der Gesellschaft‘ wird eine Tyrannei ausüben, angesichts derer Marxens ‚Fetichismus der Waren‘ so ziemlich harmlos aussähe. (S. 160f.)

Soweit zu Villas Darstellung von Arendts an Marx anknüpfender Zeitkritik. Gleichermaßen, so fährt er fort, gibt es bei Arendt interpretatorische Elemente, die eine positive Rolle der Verdinglichung (reification) nahelegen. Anders sei ihr Konzept des „human artifice“ als Werk nicht nur von herstellenden Berufen, sondern auch von Künstlern, Dichtern und Geschichtsschreibern nicht zu verstehen.

Es ist ein penetrierendes Fragen und Antworten, dem Villa Arendts Texte unterwirft und sie im Licht seiner profunden Kenntnis der Arendt-Sekundärliteratur erschließt, wobei er detaillierte Auseinandersetzungen mit den Kollegen und Kolleginnen und entsprechende Zitationen meidet, so dass Arendts oft wörtlich zitierte Texte frei atmen können.

Die genannten Werke der Arendtschen politischen Theorie/Philosophie betrachtet Villa nicht als einzelne – und dies ist ein Vorwurf an die Adresse vieler Autoren und Autorinnen, die sich auf die Analyse und Kritik jeweils nur oder vor allem eines Werkes von Arendt beschränken –, sondern für ihn hängen sie miteinander zusammen. Ja das erste, The Origins of Totalitarianism von 1951/1955, stelle eine Art Folie (backdrop) dar für Arendts späteres politisches Denken. Es bringe „eine Reihe tief empfundener Anliegen“ zum Ausdruck, die den Hintergrund bilden für ihren Versuch, in The Human Condition „eine Form von authentischer oder ‚reiner‘ Politik“, die frei ist „von ur-totalitären, in der Tradition angelegten Verzerrungen“ herauszuarbeiten (S. 35). Anschließend nähme Arendt eine umfassende Untersuchung dessen, was The Human Condition in der Theorie enthält, in ihrem Buch On Revolution (1963) vor. Ihm widmet Villa ein ebenso ausführliches Kapitel wie den Origins. Arendts politisches Handeln als Anfangen erhalte im Geschehen der französischen und amerikanischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts seine Konkretisierung und müsse entsprechend denkerisch bewältigt werden. Gleichzeitig bezeuge das Buch, welch fundamentale Rolle Verfassungen in Arendts politischem Denken spielen – mit

der Schaffung einer rechtlich und institutionell ausgestatteten Struktur, in der nicht nur individuelle Rechte geschützt werden, sondern die auch einen neuen Freiheitsraum [space of freedom, im Original kursiv] schafft, der es Bürgern ermöglicht, ‚participators in the government of affairs‘ zu werden (S. 302)

Indem er On Revolution auf diese Weise in Arendts Gedankenwelt einbindet, erübrigen sich so manche die Sekundärliteratur beherrschende kritische Argumente.

Ein weltgeschichtliches Ereignis, der Eichmann-Prozess in Jerusalem im Jahre 1961, bestimmt die weitere Entwicklung von Arendts Gedankenwelt. Im Kapitel 6 seines Buches geht Villa kurz auf ihn, Arendts Gerichtsbericht und die sich daran anschließende Kontroverse ein (S. 312-325). Interessanterweise wählt er für dieses Kapitel die Überschrift „Judging“ und eröffnet damit seine Interpretation von Arendts unvollendetem Spätwerk The Life of the Mind. Die Veränderung gegenüber Arendts geplanter Struktur des Werkes – „Judging“ vor „Thinking“ und „Willing“ – wird einleuchtend begründet, indem Villa Arendts Reflexionen zum Thema Urteilen aus dem 1971 in Social Research erschienenen Vortrag „Thinking and Moral Considerations“ entwickelt. Arendts Interesse am Denken als Tätigkeit habe sich nicht aus einem lange gehegten Wunsch nach Rückkehr zur Philosophie und der Beschaulichkeit des bios theoretikos gespeist, sondern es sei das konkrete Phänomen der Eichmannschen Gedankenlosigkeit gewesen, dem sie sich in Jerusalem und bei der Lektüre der Prozessdokumente konfrontiert gesehen habe. Gegen Ronald Beiners Auffassung von den „zwei Theorien“ des Urteilens bei Arendt (in Beiners „Interpretative Essay“ zu den von ihm herausgegebenen Kant Lectures [1982]) arbeitet Villa heraus, dass für Arendt „action, not contemplation, remains existentially supreme“ (S. 312). Das heißt, dass für sie, gestützt vor allem auf Sokrates und Kant, das Urteilen einen zentralen Platz einnimmt.

Mit dem ‚gedankenlosen‘ Eichmann im Hinterkopf, fragte sie sich in ‚Thinking and Moral Considerations‘, ob unsere Fähigkeit zu urteilen, richtig von falsch, schön von hässlich zu unterscheiden, etwas mit unserer Fähigkeit zu denken zu tun habe. Und wenn das in der Tat der Fall wäre, ob dann nicht eine Unfähigkeit zu denken und ‚ein schreckliches Versagen dessen, was wir gemeinhin Gewissen nennen‘, durchaus zusammengehen könnten. (S. 350)

Dem Denken und Wollen habe sie erst danach ihre erkundende Aufmerksamkeit geschenkt. Im Vordergrund habe zunächst das Problem gestanden, wie sie von einem „Besonderen“ (Eichmann) zu einem „Allgemeinen“ aufsteigen (ascend) könne, das sie als erste als „Banalität des Bösen“ konzipieren und bezeichnen konnte (ibid.).

Die Teile „Thinking“ und „Willing“ von The Life of the Mind werden von Villa anschließend im Kapitel 7 überwiegend als eine Auseinandersetzung mit der abendländischen philosophischen Tradition, ja als deren Destruktion gelesen. Eine Art Fazit für Villas Gesamtsicht findet sich aber bereits am Beginn des Kapitels „Judging“. Es sei abschließend vollumfänglich (in meiner Übersetzung) zitiert:

Der unsystematische Charakter von Arendts Werk „hat ihren Kritikern eine Art ‚standing invitation‘ geliefert, ihr ‚Argument‘ hinsichtlich eines bestimmten Punktes oder Themas zu rekonstruieren oder, besser, es zu widerlegen.

Solche Rekonstruktionen haben durchaus ihre Berechtigung. Insgesamt jedoch tendieren sie dazu, kritischen, historischen und thematischen Erkundungen ihre Dimensionalität zu nehmen [to one-dimensionalize them]. Die Erkundungen bieten zwar Argumente, aber Argumente, die sich über mehrere Seiten erstrecken und oft einen ausgesprochen experimentellen Charakter aufweisen.3 Anstatt Arendt als jemand zu betrachten, der eine Sammlung von einzelnen ‚Theorien‘ vorlegt, denke ich, dass es sinnvoller ist, sie als jemand zu sehen, der eine Reihe von miteinander verbundenen Reflexionen anbietet über wichtige politische und historische Phänomene, z. B. das Wesen des Totalitarismus, die Grundlegungen von politischem Handeln und das Wesen politischer Freiheit. Ihre Reflexionen sind zwar unsystematisch im Vergleich zu den politischen Philosophien eines Hobbes oder Rawls, aber sie können sicherlich nicht als ‚essayistisch‘ im pejorativen Sinn verworfen werden. Im Hintergrund nämlich stehen ausgedehnte historische Dokumentation und Interpretation, phänomenologische Analyse und begriffsgeschichtliche Befragung – all das zur Stützung klarer, wenn auch oft der Intuition zuwiderlaufender, Thesen. Arendts ‚kritische und experimentelle‘ Reflexionen sind darüber hinaus Ausdruck einer fundamental konsistenten und zusammenhängenden Sicht von Politik und öffentlicher Welt.“ Arendt sei, so heißt es einige Zeilen weiter, „eine Perlentaucherin“ gewesen, keine „Systembildnerin“. (S. 309)

In Anbetracht der in der Sekundärliteratur seit geraumer Zeit überwiegenden Studien zu einzelnen Argumenten, Begriffen in den Veröffentlichungen von Hannah Arendt und den wissenssoziologischen Bedingtheiten seiner Autorin hat Villas Buch etwas Befreiendes. Es öffnet den Blick neu oder auch wieder für die Einzigartigkeit, die Besonderheit des Arendtschen Werkes und die Zusammenhänge ihres Denkens.4

Ursula Ludz

1 Dana Villa, Arendt and Heidegger: The Fate of the Political, Princeton: Princeton University Press, 1995.

2Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Ausg. 1981, 3. Aufl., S. 119. Dies ist Arendts deutsche Übertragung der von Villa S. 160 wörtlich zitierten Stelle aus The Human Condition. Beide unterscheiden sich nicht in der grundsätzlichen Aussage, doch stark in der wörtlichen Ausformulierung.

3 Arendt selbst charakterisiert gelegentlich diese ihre „Methode“ mit dem Begriff „durchdenken“ (thinking a matter through), siehe etwa die Eintragung in ihrem Denktagebuch (veröff. 2002) unter dem Titel „On the difficulties I have with my English readers“ vom April 1970 (Heft XXVII/45), S. 771f.; zum „experimentellen“ oder experimentierenden Denken siehe das „Preface“ zur Essaysammlung Between Past and Future.

4Ähnlich intensiv und Zusammenhänge freilegend hat Helmut König Arendts Buch Eichmann in Jerusalem wiedergelesen, siehe sein Nachwort zu der Studienausgabe (Besprechung in dieser Nummer).