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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Zurück zu Hannah Arendts Werk. Die gelungene Studienausgabe von Eichmann in Jerusalem


Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Granzow, hrsg. von Thomas Meyer, mit einem Nachwort von Helmut König, erweiterte Neuausgabe, München: Piper 2022. [Paperback, Studienausgabe] 552 S., 16,00 €


Nach fast siebzig Jahren hat Helmut König, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der RWTH Aachen, Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem anlässlich der Studienausgabe wiedergelesen und ein Nachwort verfasst. In seiner Re-Lektüre gelingt es ihm, durch die vielen Schichten von Interpretation und Teilinterpretation, die dieses Werk seit seiner Erstveröffentlichung 1963 überlagern, zu dessen ursprünglichem Text hindurchzudringen, das Original wieder freizulegen. Er stellt – so der Titel des Nachworts – „ein faszinierendes Buch und zählebige Missverständnisse“ vor, handelt von – so der Untertitel – „Hannah Arendt über Eichmann, das Verbrechen gegen die Menschheit und die Gerechtigkeit“. Sein Nachwort ist, ohne Übertreibung, eine Sensation in der Rezeptionsgeschichte dieses mehr kritisierten, kommentierten als gelesenen Werkes.

Doch der Reihe nach. Die von Thomas Meyer für den Piper Verlag betreute Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften macht es sich zur Aufgabe, die letzten von Arendt autorisierten Fassungen ihrer Werke in durchgesehenen Ausgaben mit neuem Satzspiegel als Paperbacks zur Verfügung zu stellen. Dabei entfallen, was das seit 1964 im Programm des Verlages geführte Werk Eichmann in Jerusalem angeht, die in den verschiedenen Ausgaben verlagsseitig hinzugefügten Beigaben: der einleitende Essay von Hans Mommsen von 1986 und die „Anmerkungen zur Neuausgabe von 1986“ sowie Mommsens „Nachwort zur aktuellen Ausgabe“ aus dem Jahr 2011. Stattdessen enthält die neue Edition Mitteilungen des Herausgebers „Zu diesem Band“ (11-25), den Text von Eichmann in Jerusalem aus dem Jahr 1965 (27-438), einschließlich Bibliographie (439-443, mit einem Zusatz „Verwendete und bisher nicht gelistete Literatur“ [443f.]) und Namen- und Sachregister (445-454), gefolgt von o.g. Nachwort (445-541) mit Siglen- und Literaturverzeichnis (542-552).

Die herausgeberische Absicht wird durch das ausführliche Nachwort überzeugend gefördert. König gliedert es in zehn Teile. Als erstes behandelt er „Die Kontroverse“, widmet sich dann „Arendts Provokationen“ und im dritten Teil den „Deutsche[n] Zustände[n]“, mit denen sich Arendt im Nachkriegsdeutschland konfrontiert sah. Jeder wichtige Aspekt der einschlägigen Arendt-Eichmann-Auseinandersetzungen kommt hier zur Sprache. König hat umfassend recherchiert, wovon das Literaturverzeichnis am Ende des Bandes zeugt. Er bietet gute, überblicksartige thematische Zusammenfassungen der in den internationalen Debatten hervorgebrachten Argumente und stellt, jeweils an den Buchtext gebunden, Arendts Absichten und Ansichten heraus.

Der vierte Teil ist „Revision des Gerichtsverfahrens“ überschrieben. Hier nimmt der Autor einen Gedanken von Christoph Menke auf. Seine Einschätzung formuliert er wie folgt:

Das Buch orientiert sich in seiner Anlage und in seinem Duktus an den Vorgaben und Maßgaben seines Gegenstands, also am gerichtlichen Strafverfahren. […] In Eichmann in Jerusalem ist Arendt Prozessbeobachterin, und das Buch ist eine Art Revisionsverfahren der Verhandlungen gegen Eichmann, wie sie vor dem Gericht in Jerusalem im Jahre 1961 stattgefunden haben.

Das Buch sei, so heißt es am Ende von Teil IV, „ein Musterfall dafür, was Arendt unter Beobachten, Denken und Urteilen versteht“:

Eichmann in Jerusalem konfrontiert den Leser mit Sichtweisen und Urteilen, deren Direktheit ihn manchmal verblüffen mag, die aber immer dazu angetan sind, ihn ins Nachdenken zu bringen und seine Urteilsfähigkeit herauszufordern. (493)

Dieser Herausforderung stellt sich König unter Berücksichtigung einer großen Zahl weiterer Veröffentlichungen von Hannah Arendt (siehe das Siglenverzeichnis) sowie der diesbezüglichen Sekundärliteratur in den folgenden Teilen: „Ironie, Empörung und die Frage der Größe“ (V), „Rädchen, Todesfabriken, Täter“ (VI), „Antisemitismus oder die Unfähigkeit zu denken“ (VII), „Denken, Moral, Politik“ (VIII). Auch hier erweist er sich als kompetenter Kenner und guter Darsteller der jeweiligen mit Stichwort in der Überschrift angesprochenen Diskursmaterie. Darunter sei hervorgehoben seine Auseinandersetzung mit Bettina Stangneths Thesen über Eichmann in ihrem Buch Eichmann vor Jerusalem (2011). Nein, meint König und begründet dies eindringlich mit Arendts Text, Eichmann war nicht der Antisemit, als den Stangneth ihn schildert, nicht der „Inszenierungs- und Imagekünstler erster Ordnung“, der vor Gericht perfekt seine Rolle gespielt habe und dem Arendt auf den Leim gegangen sei (516ff.).

In den beiden letzten Teilen werden Arendts entscheidende, die Erfahrung Eichmann resümierende philosophische Thesen: „Verbrechen gegen die Menschheit“ (IX) und „Von der Weigerung, eine Person zu sein“ (X), diskutiert, um schließlich ihre Reflexionen im „Epilog“ zum Bericht über das Urteil des Gerichts, die Todesstrafe für den Angeklagten, nachzuvollziehen und am Ende, unter Verweis auf ein Zitat aus Vita activa1, die Erkenntnis zu formulieren:

Weil das Verbrechen am jüdischen Volk begangen wurde, verlangen die Opfer ‚mit vollem Recht‘ die Wiederherstellung ihrer ‚Würde und Ehre‘ […] durch die Bestrafung des Täters. Das ist, wie Arendt nachdrücklich betont, für ‚[u]ns Juden‘ […] und im Interesse der Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung. Was aber den Täter und seine Taten angeht, so sind es ‚buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich, und man kann, was den Täter der Untat betrifft, nur mit Jesu sagen: Es wäre ihm nützer, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer, bzw. es wäre besser, er wäre nie geboren – zweifellos das Furchtbarste, was man von einem Menschen sagen kann‘. (536)

So präsentiert Helmut König ein in sich geschlossenes, durchdachtes Werk, das in seiner langen Rezeptionsgeschichte unter die Räder gekommen war. Hannah Arendt, die Ex-kommunizierte (Amos Elon), wird sozusagen re-kommuniziert; was sie in ihrem Report schrieb, hat König erfreulich unaufgeregt rekonstruiert. Dabei hat er die nach wie vor kontroverse Debatte, wie sie auch die neueste deutsche Veröffentlichung von Werner Renz2 dokumentiert, produktiv genutzt. Es ist zu wünschen, dass sich ein solcher Umgang mit Arendts viel gescholtenem Buch durchsetzen möge, auch in den englischsprachigen Debatten.

Ursula Ludz


1 Hannah Arendt in dem Kapitel „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen“ in Vita activa oder Vom tätigen Leben (Studienausgabe 2020, S. 343).



2 Werner Renz, ad Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Die Kontroverse um den Bericht „von der Banalität des Bösen“, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2021.