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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Soziale Medien - Ein (kosmo-politischer) Erscheinungsraum?

Vanessa Ossino

Doktorandin an der Universität zu Köln und Universität Fribourg (Schweiz) sowie Kollegiatin an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Ihr Promotionsvorhaben widmet sich der Medialität von Erfahrung im Kontext der Phänomenologie, mit dem Schwerpunkt auf der Philosophie Maurice Merleau-Pontys.

Denn im Moment beobachten wir die schwierige Geburt einer neuen Art Gemeinschaft aus der realisierten Totalität aller Gemeinschaften der Welt. Sie wird realisiert in Konflikt, Ausschluß, Massaker, Intoleranz, aber immerhin realisiert, denn heute träumen wir nicht mehr vom Welt-Ganzen, wir stehen mit ihm in Verbindung, wir sind mittendrin.

(Édouard Glissant, Kultur und Identität, S. 27)

Einleitung: Soziale Medien und die Welt als Erscheinungsraum


Die Betrachtung der heutigen Weltöffentlichkeit führt nicht nur schnell zu dem Gedanken einer digitalen Öffentlichkeit, sondern findet mit aller Wahrscheinlichkeit auch mindestens teilweise durch das Medium des Internets selbst statt. Unsere Informationen speisen sich aus Apps, digitalen Zeitungsartikeln, Google-Suchen und nicht zuletzt aus sogenannten sozialen Medien. Allein die schiere Anzahl der aktiven Nutzer*innen von sozialen Medien lässt die Frage aufkommen, was für eine Welt das ist, die sich in den digitalen Räumen der sozialen Netzwerke eröffnet. Im Verlauf der menschlichen Geschichte gab es nie eine vergleichbare Möglichkeit, so niedrigschwellig vor einer solchen Masse an Menschen öffentlich in Erscheinung zu treten und in den kommunikativen Austausch mit Personen aus unterschiedlichsten Ländern zu treten. Um einen Maßstab zu geben: Facebook verzeichnete im Februar 2022 1,929 Milliarden aktive Nutzer*innen1, Instagram gab im Juni 2018 bekannt, dass die Zahl ebenfalls 1 Milliarde aktive Nutzer*innen überstieg2 und auch die jüngste der beliebtesten Social-Media-Apps ‚TikTok‘, verzeichnete bereits nach vier Jahren über 1 Milliarde Nutzer*innen3.

Dem Internet sowie den damit einhergehenden sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten, kann spätestens seit dem ‚Arabischen Frühling‘ im Jahr 2011 eine hohe Potenz und ein enormes Potential für transnationale Zusammenkünfte zugesprochen werden. Dies ist auch im Umkreis weiterer Themenfelder zu beobachten; sei es die Corona-Krise, Klimakrise, der Abzug ausländischer Truppen aus Afghanistan oder die aktuell so verheerende Situation in der Ukraine; Menschen vernetzen sich zumeist online, tauschen dort Informationen aus, sichten Bilder und laden Videos hoch, empören sich gemeinsam oder diskutieren in einem öffentlich-virtuellen Raum, der, so möchte man glauben, nicht Halt an nationalen Grenzen macht.

Doch wenn, wie Hannah Arendt sagt, die „Entstehung eines Menschengeschlechts, dessen Einheit weder politisch garantiert noch aus dem humanistischen Ideal der Menschheit abgeleitet ist“ zunehmend aus dem Umstand hervorgeht, dass sie, die Menschheit, zu einer einfach Tatsache geworden ist „seitdem seine Glieder erheblich weniger Zeit benötigen, um aus den vier Ecken der Welt zusammenzukommen, als die Glieder einer Nation noch vor wenigen Jahren brauchten, um sich in der Hauptstadt zu treffen“ (Arendt 2020, S. 365), was sagt das über den Zustand einer menschlichen Gemeinschaft aus, die nicht einmal mehr Sekunden braucht, um sich in digitalen sozialen Netzwerken zu ‚versammeln‘? Was für Versammlungsorte sind jene kommunikativen, virtuellen Räume von sozialen Netzwerken? Sind jene Orte demokratisch und frei oder ebenfalls von Machtgefällen und Heteronomie gezeichnet? Eignet jenen Netzwerken tatsächlich eine politische Kraft oder bleiben sie letztlich in Ansammlungen von Informationen verharren? In welcher Form ‚bewohnt‘ ein Mensch jenen virtuellen Raum? Ist man tatsächlich nur eine Nutzerin4 der Plattformen oder doch eher eine Bewohnerin und Bürgerin?

Der folgende Beitrag hat nicht zum Anspruch Antworten auf all diese Fragen zu geben. Vielmehr wird der Versuch unternommen, soziale Medien entlang Arendts Begriffsgerüst eines Erscheinungsraums zu betrachten und somit die Frage danach zu stellen, was für eine Form des Miteinanderseins sozialen Medien eignet und ob Pluralität in jenem Kontext überhaupt möglich ist. Der Text ist von einer phänomenologischen Lesart Arendts gezeichnet, die sich insbesondere an Sophie Loidolt (2018a, 2018b) anschließt.5 Dadurch wird vornehmlich ein intersubjektives ‚Zwischen‘ des Welthaften in den Fokus gerückt, was sich als Wegweiser für Arendts Verständnis einer genuin politischen Sphäre abzeichnet, die für sie einen inhärent kontingenten und freien Charakter verkörpert. Diese Lesart eröffnet aufschlussreiche Schnittstellen, die es ermöglichen Phänomenologie und politische Theorie fruchtbar zusammen zu denken. Der Themenkomplex privater versus öffentlicher Raum wird zwar ebenfalls Teil der Betrachtung sein, jedoch nicht das Zentrum der Analyse darstellen. Vielmehr wird entlang Arendts eigener Theorie der Intersubjektivität sowie ihrer Philosophie des Erscheinens erfragt, in was für einer Art und Weise Menschen in virtuellen, kommunikativen Räumen der sozialen Netzwerke vor einander in Erscheinung treten, und was für Konsequenzen dies für ein Denken eines digitalen Miteinanderseins hat.

Eine Weltbürgerin (kosmopolitês), so betont Soraya Nour Sckell, ist eine solche, die sich über die eigene Staatsangehörigkeit hinaus mit dem Kosmos, als der Welt, identifiziert. Eine Denkweise kann dann ‚kosmopolitisch‘ genannt werden, „wenn in ihr die Menschen als Mitglieder einer einzigen Gemeinschaft betrachtet werden, unabhängig von ihren politischen, religiösen, kulturellen oder sonstigen Zugehörigkeiten“ (Nour Sckell 2012, S. 43). Im Folgenden werde ich den Gedanken einer Gemeinschaft erproben, die sich zunächst unabhängig ihrer sonstigen Zugehörigkeiten, in einem virtuellen ‚Kosmos‘, einer Welt der sozialen Medien, begegnet. Im Mittelpunkt meiner Erörterung steht der für Arendt zentrale Gedanke, dass ein öffentliches Miteinandersein von einem Erscheinen vor anderen sowie einem miteinander agieren gezeichnet ist. In meiner Thematisierung von sozialen Medien, im Horizont von Arendts Philosophie des Erscheinens und einer pluralen Intersubjektivtät, wird es nicht um die politische Wirksamkeit von sozialen Medien per se gehen, sondern grundlegend um die Bedingungen der Möglichkeit für die Verwirklichung einer politischen, pluralen Intersubjektivität überhaupt.

Dafür werde ich zunächst den Weltbegriff Arendts erörtern, der sich als ein dreifacher herausstellt und nur in Anlehnung an ihre Philosophie des Erscheinens und Intersubjektivitätstheorie zu seiner vollen Reife gelangt. Anschließend werde ich die Tendenz zur Selbstdarstellung in sozialen Medien daraufhin prüfen, ob sie einem pluralen Erscheinungsraum im Arendt’schen Sinn entgegensteht. Zuletzt werde ich einige Elemente eines möglichen virtuellen Miteinanderseins erörtern. Dabei wird die These herausgearbeitet, dass soziale Medien zwar die Möglichkeit eines pluralen Erscheinungsraums implizieren, ihre Aktualität und Infrastruktur jedoch oftmals das In-Erscheinung-Treten des Arendt’schen ‚Wer-einer-ist‘ verdecken und somit das virtuelle Handeln und Sprechen von Personen der stetigen Gefahr von Anonymität ausgesetzt sind, was in der Folge die Versperrung einer gelebten Pluralität in öffentlichen Erscheinungsräumen bedeuten würde. Im Folgenden wird folglich nur indirekt danach gefragt, welches Potential soziale Medien in Bezug auf konkret politisches Handeln haben. Der Fokus liegt im Wesentlichen auf einer Ergründung des virtuellen in-Erscheinung-Tretens und Miteinanderseins.


Die Welt als Erscheinungsraum pluraler Perspektiven


In ihren Ausführungen über ‚die Welt‘ geht es Hannah Arendt stets um eine gewisse Zugehörigkeit zur Welt, die aktualisiert werden muss um bestehen zu bleiben. Die Gefahr einer Welt-Entfremdung durch den Verlust einer geteilten Realität, der Verdinglichung des eigenen Selbst oder der Trennung von anderen, bedroht jenen weltlichen Zustand, durch den Menschen die Möglichkeit haben, Räume der Freiheit und der öffentlichen Bedächtigkeit zu schaffen. Arendt geht es in ihren Erörterungen ‚der Welt‘ immer auch darum, einen genuin geteilten Raum von pluralen Perspektiven zu zeichnen, der einen realitätsstiftenden Charakter hat.

Die Zugehörigkeit zur Welt ergibt sich sowohl daraus, dass Menschen in der Welt und vor anderen erscheinen können als auch daraus, dass andere Personen sowie die Welt selbst für die Einzelne erscheinen. Ein Erscheinungsraum entsteht dann, wenn „Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen“ (Arendt 2020, S. 251). Juliane Rebentisch führt dazu aus, dass es sich „mithin um einen performativ, durch eine gemeinsame Praxis hervorgebrachten Raum [handelt], der sich im »Zwischen« personaler Beziehungen konstituiert, von deren fortgesetzter Aktualisierung er abhängig bleibt“ (Rebentisch 2021, S. 43).

Im Folgenden werde ich zunächst auf Arendts Philosophie des Erscheinens und Weltlichen eingehen, da jene Theorien die Möglichkeitsbedingungen für ein plurales Miteinandersein, im Arendt’schen Sinn, darstellen und ein weniger beachteter Aspekt in Arendts Denken als derjenige des öffentlichen Raums ist.


  1. Arendts Begriff der Welt


Wie Sophie Loidolt in Phenomenology of Plurality anmerkt, wird der Weltbegriff in einem Großteil der Arendt Rezeption zumeist in seinem Verständnis einer öffentlichen Welt und eines politischen Raums der Erscheinungen behandelt (vgl. Loidolt 2018a, S. 98). Loidolt hingegen, in ihrer Erörterung der phänomenologischen Dimensionen in Arendts Werk, zeichnet ein wesentlich komplexeres Bild des Arendt’schen Weltbegriffs, in dem sie die bindende und strukturierende Kraft ‚der Welt‘ in den Fokus rückt (vgl. ebd., S. 100). Liest man Arendt als Phänomenologin, lässt sich eine eigenständige Phänomenologie des ‚Zwischen‘ und der Intersubjektivität bei ihr ausmachen, wodurch die bindenden und strukturierenden Modalitäten ‚der Welt‘ in den Blick der Aufmerksamkeit gelangen. Eine Arendt’sche Phänomenologie geht grundlegend von einer solchen intersubjektiven und geteilten Welt aus, die sich nicht in Begriffen der Horizontalität, wie Edmund Husserl sie in seiner Theorie der Intersubjektivität betont, oder des Mitdaseins, wie Martin Heidegger es denkt, erschöpft. Durchaus in Anlehnung an jene beiden Philosophen, aber doch in deutlicher Abgrenzung zu ihnen, ist es Arendt gelungen einen Weltbegriff zu erarbeiten, der einerseits den Charakter einer realitätsstiftenden Hintergründigkeit hat und gleichzeitig von einem konkreten Miteinandersein zeugt.6 Die Welt ist für Arendt grundlegend ein kontextualisiertes „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 2020, §25). In den Worten Loidolts:


World’, is not a psychologically conceived ‘world-picture’ that a subject has in mind, nor a mere sociological construct that influences our behavior, but rather it is the primary space of appearance which is intersubjectively shared and in which reality and the real can therefore manifest themselves. Furthermore, before a subject can construct anything like a specific world or a world-picture, it always inhabits a world and moves in a meaningful context. (Loidolt 2018a, S. 97f.)


Die Welt ist folglich weder ein konstruiertes Weltbild, noch von einem Bewusstsein ausgehend konstituiert oder eine materiell unabhängige Dingwelt, die dem Menschen bedeutungslos vorausgeht. Als „Lebewesen […] von dieser Welt“ (Arendt 2020, S. 30) sind Menschen einerseits stets geprägt durch die sozio-historischen und bedeutungsschwangeren Kontexte einer Welt, die sich in ihre Erfahrungshorizonte einschreiben. Andererseits ist auch die Welt selbst auf ein erfahrungsfähiges Individuum angewiesen, das die Rolle der Zuschauerin einnimmt und ohne die es „in dieser Welt nichts und niemanden [gibt]“ (ebd., S. 29), wie Arendt betont. Die Welt und erfahrungsfähige Individuen sind folglich wechselseitig aufeinander angewiesen.

Sophie Loidolt unterstreicht jene Reziprozität durch einen dreifachen Begriff der Welt, den sie in Anlehnung an eine Phänomenologie Arendts ausarbeitet (vgl. Loidolt 2018a, S. 98ff.). So ist die Welt zunächst eine erscheinende Welt, eine Welt die von wahrnehmen und wahrgenommen-werden gezeichnet ist. In der stetigen Möglichkeit, dass ein Wahrnehmendes zu einem Wahrgenommenen wird, liegt nach Arendt auch die Welthaftigkeit der wahrnehmungsfähigen Lebewesen (vgl. Arendt 2020, S. 29f.). Das In-der-Welt-Erscheinen, als Möglichkeit des Wahrnehmens und wahrgenommen-Werdens, gleicht somit dem Welthaften überhaupt.

Der zweite Begriff der Welt ist der eines ersten Zwischen, einer Dimension der Gegenstände und Gegenständlichkeit und somit einer „relativ beständigen Dingwelt“ (ebd., S. 128). Jenes ‚erste Zwischen‘ gründet auf der Praxis einer Weltbildung, in der Menschen ganz konkret mit Gegenständen umgehen und in ihrer Tätigkeit dauerhafte und beständige Dinge herstellen. Der Grad der Beständigkeit und Dauerhaftigkeit der Dinge macht dann den Grad ihrer Weltlichkeit aus (vgl. ebd., S. 131). Aus dem Gebrauch der Dinge, der im Kontrast zum Verbrauch der Dinge steht, „erwächst uns die Vertrautheit der Welt, ihrer Sitten und Gebräuche, die den Umgang von Mensch und Ding wie den zwischen den Menschen regeln“ (ebd., S. 129). Dieses ‚erste Zwischen‘ der Dingwelt nimmt demnach Bezug auf die Alltäglichkeit der praktischen Tätigkeit des Menschen und gleicht darin einem ersten Bezug, in dem Menschen sich heimisch fühlen und durch den die Welt einen unhinterfragten Charakter des Wirklichen und Realen annimmt. Dieses ‚erste Zwischen‘ steht folglich für eine gegenständliche Dimension der realitätsstiftenden Hintergründigkeit der Welt, auf die sich Individuen gleichermaßen beziehen können. Das Welthafte, als die Möglichkeit des Wahrnehmens und wahrgenommen-Werdens, wird durch das ‚erste Zwischen‘ zusätzlich an eine gegenständliche Dauerhaftigkeit gebunden. Arendt schreibt dazu ausführend: „Wirklichkeit und Verläßlichkeit der Welt beruhen darauf, daß die uns umgebenden Dinge eine größere Dauerhaftigkeit haben als die Tätigkeit, die sie hervorbrachte, und daß diese Dauerhaftigkeit sogar das Leben ihrer Erzeuger überdauern kann“ (ebd., S. 130). Die praktische Welt der Gegenstände kann so als wichtiges Konditional für die Stabilität einer gemeinsamen Welt beschrieben werden, dadurch, dass sie eine relativ beständige Orientierung der menschlichen Angelegenheiten verspricht.

Der dritte Begriff der Welt ist nach Loidolts Erläuterung der des zweiten Zwischens, als der Mitwelt und „des Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten“ (ebd., S. 249). In jenem Bereich menschlicher Angelegenheiten bewegen wir uns nach Arendts Verständnis primär als handelnde und sprechende Wesen. Dieser dritte Begriff der Welt als Ort des Handelns und Sprechens verspricht eine wesentliche Erweiterung des phänomenologischen Verständnisses von Intersubjektivität. Als genuin intersubjektives Erscheinungs- und Interaktionsgeschehen, ist das Sprechen und Handeln oder „Einander-Ansprechen und Miteinander-Handeln“ (Loidolt 2018b, S. 11) ein solches Bezugsgewebe, das sich durch Performativität und Expressivität auszeichnet und letztlich nicht ‚dingfest‘ gemacht und abschließend eingeholt werden kann.

Der Verweis auf ein Zweites, so betont Loidolt, soll dabei kein Nach- oder Zweitrangiges anzeigen: „Vielmehr trägt es der phänomenologischen Einsicht Rechnung, dass die Interaktion schon in einer Welt stattfindet und sich dabei auf Welthaftes (im ‚ersten‘ Sinn) bezieht“ (ebd.). Dementsprechend hebt Arendt den ungreifbaren Charakter dieses zweiten Zwischenraums der Welt als dasjenige hervor, das grade „nicht aus Dinghaftem besteht und sich in keiner Weise verdinglichen und objektivieren läßt; Handeln und Sprechen sind Vorgänge, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte hinterlassen“ (Arendt 2020, S. 252).

Als ein solcher Zwischenraum der menschlichen Angelegenheiten, gleicht die Arendt’sche intersubjektive Mitwelt einem Raum der Sinn- und Bedeutungshaftigkeit. Geformt durch sozio-kulturelle Kontexte und menschliche Präsenz gleichermaßen, ergibt sich ein Raum, der nicht auf physische oder natürliche Beschaffenheit reduziert werden kann. Ein Raum, der flüchtig und ungreifbar ist und doch eine strukturierende Wirkmacht auf die mögliche Zusammenkunft und auch Entfremdung von Menschen in einer gemeinsamen Welt hat.

Arendt spricht bewusst von einem zwischenmenschlichen „Gewebe“, um der materiellen Ungreifbarkeit des Phänomens gerecht zu werden und ihre Erörterung damit jenseits eines politischen Materialismus verorten möchte. Ihr geht es vielmehr darum einen „subjektiven Faktor“ (ebd., S. 253) mitzudenken, der in interpersonalen Kommunikationen stets mitschwingt und sich wie ein sechster Sinn (Arendt 1998, S. 59) über ein zwischenmenschliches Geschehen legt.7 Dieser Punkt erinnert stark an Merleau-Pontys Stilbegriff, der Synonym für einen Überschuss in Handlungs- und Ausdrucksgeschehen steht und prägend für ein sinnhaftes, intersubjektives Verständnis einer Wahrnehmungssituation ist. Auf diesen Punkt werde ich in der Ausarbeitung des ‚Wer-einer-ist‘, als einer ungewollten Offenbarung der eigenen Person im Erscheinungsraum, zurückkommen.

Die von Loidolt hervorgehobene dreifache Begrifflichkeit der Welt verweist insgesamt auf ein solches Geflecht der Bezüglichkeit und Kontextualität menschlicher Angelegenheiten, das sowohl die Hintergründigkeit menschlicher Sinnvollzüge als auch den konkreten Raum für Visibilität thematisiert. Der Arendt’sche Kosmos, gemeint als das Arendt‘sche Verständnis ‚der Welt‘, spricht von einer Intersubjektivität wahrnehmender und wahrgenommener sowie erscheinender Individuen, die in ihrer ‚Wirklichkeit‘ aufeinander angewiesen sind.

In dem Maße, in dem die Welt „ein Gebilde von Menschenhand“ ist und dem „Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen“ (Arendt 2020, S. 78) gleicht, ist der Arendt’sche Kosmos ein öffentlicher. Als öffentliche ist die Welt dabei auf Dauerhaftigkeit angewiesen, um eine genuin gemeinsame Welt sein zu können. So schreibt Arendt, dass es „im Wesen des Öffentlichen [liegt], daß es aufnehmen und durch die Jahrhunderte bewahren und fortleuchten lassen kann, was immer die Sterblichen zu retten suchen vor dem natürlichen Verfall der Zeiten“ (ebd., S. 81). Auf diese Weise wird die intersubjektive, öffentliche Welt in ihrer zeitlichen Dimension gedacht. Als öffentliche ist die Welt gezeichnet durch Historizität und Mehrgenerationalität. „Die Welt“, so Arendt, „haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren, und denen, die nach uns kommen werden“ (ebd.).

Insbesondere der zeitliche Anspruch des Überdauerns einer öffentlichen Welt verspricht mit Hinblick auf die zeitliche Beständigkeit von sozialen Medien aufschlussreich zu sein. Denn beinahe im Gegensatz zu der Beständigkeit des Öffentlichen steht Arendts Gedanke, dass ein Erscheinungsraum „die Aktualität der Vorgänge, in denen er entstand, nicht überdauert, sondern verschwindet, sich gleichsam in nichts auflöst […], wenn die Tätigkeiten, in denen er entstand, verschwunden oder zum Stillstand gekommen sind“ (ebd., S. 252). Einerseits scheinen hier die technischen Voraussetzungen von sozialen Medien – die Server, Smartphones, Computer, Satelliten – für die Beständigkeit einer öffentlichen, digitalen Welt zu sorgen, während gleichzeitig die Daten und Datentransfers die entscheidende Hintergründigkeit einer ‚ersten Welt‘, der Dingwelt, von sozialen Medien darstellen. Erst auf Grundlage dieser ‚dinghaften‘ Hintergründigkeit – wie gegenständlich Datenverarbeitung im Internet tatsächlich ist, lässt sich an dieser Stelle nicht erschöpfend erörtern – ergibt sich dann überhaupt erst eine mögliche generationsübergreifende und überdauernde Öffentlichkeit der Welt von sozialen Medien.

Gleichzeitig geht ein Erscheinungsraum nicht in dem Überdauern des Öffentlichen auf, im Gegenteil, ein Erscheinungsraum ist fragil und auf die wahrnehmenden sowie erscheinenden Individuen notwendig angewiesen. Die Frage die sich dann stellt ist, ob die Bilder, Texte und Informationen, die in den Netzwerken von sozialen Medien in Form von Daten gespeichert werden, für die Aktualisierung eines Erscheinungsraums ausreichen.


  1. Das Erscheinen (in) der Welt


Aus dem Vorherigen geht hervor, dass Arendt eine eigenständige Theorie der Intersubjektivität erarbeitet hat, in der ‚Weltlichkeit‘ und das ‚In-der-Welt-Erscheinen‘ konstitutive Konditionale für eine geteilte Wirklichkeit sind. Auf diese Weise entwickelt sich die Zwischenwelt menschlicher Bezüge zum Ausgangspunkt jeglicher Aussagen über ‚die Welt‘. Gleichzeitig schließt Arendt aus, dass es eine unabhängige, realere Welt gebe, eine ‚Welt an sich‘ (vgl. Loidolt 2018a, S. 55). Mehr noch, Arendt betont, dass „in dieser Welt […] Sein und Erscheinen dasselbe [sind]“ (Arendt 1998, S. 29). In Anlehnung an Loidolts phänomenologische Arendt Lektüre, lässt sich Arendts Philosophie des Erscheinens über den gut bekannten Bezug auf die antiken Griechen und Nietzsche sowie ihrer Nähe zu Kants dritter Kritik, durch Bezüge zu Heidegger und Husserl gewinnbringend erweitern (vgl. Loidolt 2018a, S. 53ff.). Loidolt argumentiert demgemäß dafür, dass die phänomenologische Konzeption von Erscheinungen eine nötige Ergänzung zur Erhellung von Arendts Philosophie der Erscheinung ist. In Arendts Ausspruch, dass „Sein und Erscheinen dasselbe sind“ schwingt insofern eine phänomenologische Aussage mit, als das Erscheinende phänomenologisch eine Manifestation der Gegenstände selbst ist, und somit keiner Repräsentation gleicht. In den Worten Loidolts: “Phenomenology thus values the investigation of appearance and systems of appearance for discovering the real nature of things, instead of rejecting appearance as something merely subjective” (Loidolt 2018a, S. 58; bezugnehmend auf Zahavi 2007, S. 15). Ohne an dieser Stelle eingehend Bezug auf die Erbschaft und Überwindung des Erscheinungsbegriffs Arendts in Anlehnung an Husserl und Heidegger zu nehmen, was Sophie Loidolt ausführlich in ihrem Buch Phenomenology of Plurality gewährleistet, möchte ich an dieser Stelle direkt auf Arendts eigenständige Ausformulierung von Erscheinung eingehen.

Spricht Arendt von Erscheinung, so tut sie dies im Ausgang einer Zuschauerin der Erscheinung. Weit davon entfernt ein in der Luft schwebender Begriff zu sein, konzipiert Arendt ihren Erscheinungsbegriff anhand dessen wie etwas erscheint und wem etwas erscheint. Gleichzeitig geht es Arendt in ihrer Erörterung der Erscheinung auch um die Erhellung von Objektivität und Wirklichkeit, die auf weltbezüglichen Zusammenhängen und folglich intersubjektiven Faktoren fußen. Arendt betont den intersubjektiven Raum der Erscheinung als denjenigen Raum, in dem „die eigene Position von anderen verhandelt und also auch bestritten werden kann“ (Rebentisch 2022, S. 12). Wie Juliane Rebentisch in Rekurs auf Arendts Gedanken zu Lessing schreibt, „ist die Wahrheit nur im Medium des intersubjektiven Vergleichs ihrer Perspektiven möglich […]“ (ebd., S. 14).

Dass Wahrheit und Objektivität möglich sind, bedeutet jedoch nicht, dass sie auch zwingend im intersubjektiven Raum des Erscheinens erreicht werden. Mit Bezug auf den oben erörterten Weltbegriff einer erscheinenden Welt muss ergänzend hinzugefügt werden, dass die Erscheinungswelt der pluralen Perspektiven von wahrnehmenden Individuen durchaus von Irrtum und Schein durchdrungen wird und von Täuschungen nicht freizusprechen ist. Betrachtet aus der Ersten-Person-Perspektive betont Arendt, dass alles Erscheinende als ein „Es-scheint-mir“ (Arendt 1998, S. 47ff.) wahrgenommen wird, wodurch sich einerseits ein Raum für Irrtümer eröffnet, gleichzeitig jedoch das phänomenologische Diktum des ‚Meinigen‘ unterstrichen wird. Indem Arendt den „ganz primären Stempel des Wirklichseins bei sich“ (ebd., S. 59) betont, der mit jeder Erscheinung einhergeht, hebt sie auch hervor, dass die Erste-Person-Perspektive für sie eine tragende Rolle in der Entwicklung von Objektivität spielt. Wie etwas für jemanden scheint, ist dann nicht nebensächlich, sondern das Einfallstor für eine geteilte Realität und Objektivität. Ein Einfallstor, das jedoch in seiner Isoliertheit eines „Es-scheint-mir“ des Individuums niemals ein Garant für eine tatsächlich geteilte Realität und Objektivität sein kann. Was hier deutlich wird, ist Arendts Einordnung eines „Stempels des Wirklichseins“ über die Grenzen einer in sich abgeschlossenen Subjektivität hinaus. So schreibt sie:


Die Subjektivität des Es-scheint-mir wird dadurch behoben, daß der gleiche Gegenstand auch anderen erscheint, wenn auch vielleicht auf andere Weise. […] In einer Erscheinungswelt voller Irrtum und Schein wird Wirklichkeit durch diese dreifache Gemeinsamkeit gewährleistet: die fünf Sinne […] haben den gemeinsamen Gegenstand; die Vertreter einer Art haben einen gemeinsamen Kontext […]; und alle anderen mit Sinnen begabten Wesen nehmen zwar diesen Gegenstand aus völlig verschiedenen Perspektiven wahr, sind sich aber über seine Identität einig. Aus dieser dreifachen Gemeinsamkeit erwächst die Wirklichkeitsempfindung. (Ebd.)


Erstaunlicherweise geht Arendt hier so weit, dass sie die vermeintlich rein subjektive Empfindung einer Wirklichkeit als eine genuin intersubjektive Leistung versteht, die nicht nur von der eigenen Leiblichkeit geprägt ist - die Arendt unter den Prämissen der fünf Sinne und dem erwähnten sechsten Sinn denkt -, sondern wesentlich kontextabhängig ist und sich sogar aus einer Art-übergreifenden Übereinkunft ergibt.

Arendts Begriff der Wirklichkeitsempfindung wird so in Anlehnung an einen sensus communis gedacht und verdeutlicht, dass eine Wirklichkeitsempfindung im Grunde genommen keine reine Wahrnehmung ist, sondern sich sowohl aus einem Gemeinsinn speist, der als unverfügbarer Überschuss gedacht wird, als auch eng mit dem Kontext verbunden ist, in dem eine Wirklichkeit erscheint (vgl. ebd., S. 60). Auf diese Weise wird verständlich, wie grundlegend Arendt die Welt und Welthaftigkeit des Erscheinungsraums in intersubjektiven Dimensionen denkt. Loidolt schreibt ausführend:


Appearance, by its very essence, is not something private, but instead shines in the world. […] Arendt does not first regard it as a phenomenon of consciousness which then proves its “reality character” through certain features like intersubjectivity, a certain permanence, a regular sequence of appearance, etc. Rather, appearance is conceived of as intrinsically intersubjective and worldly. (Loidolt 2018a, S. 69).


Als erscheinende eröffnet die Welt sich der Einzelnen nur in Bezug zu anderen Perspektiven. Die Welt verweist somit auf einen Erscheinungsraum pluraler Perspektiven, die wesentlicher Bestandteil des Gewebes menschlicher Angelegenheiten sind. Doch geht es Arendt nicht nur darum, die Bedingungen der Möglichkeit einer erscheinenden Welt als solcher darzulegen. Vielmehr geht es ihr darum, die verwirklichten und in Aktualität stehenden Erscheinungsräume in ihren politischen und öffentlichen Dimensionen auszuformulieren.


  1. Pluralität als politische Intersubjektivität


Durch den Ausspruch, dass nicht der Mensch diesen Planeten bewohnt, sondern Menschen in der Mehrzahl „das Gesetz der Erde [sind]“ (Arendt 1998, S. 29), hebt Arendt die Ernsthaftigkeit hervor, mit der sie die Thematik der Pluralität in ihr Denken einführt. Die Welt erwies sich durch die vorangegangene Erörterung als ein Bezugsgewebe zwischenmenschlicher Angelegenheiten. Ein solches Bezugsgewebe resultiert für Arendt nicht aus einem kollektiven Akteur, als einem „starken Gruppen-Wir“ (Loidolt 2018b, S. 8), sondern zeugt von individuellen Perspektiven und Weltzugängen, die nur im kommunikativen Verbund miteinander zu einer tatsächlich geteilten Lebensrealität gelangen können. Loidolt betont in diesem Sinn: „The ‘we’ that she [Arendt] demands cannot be merged into a great ‘I’ that acts as one collective agent, since the latter would naturally destroy the plurality of the ‘we’” (Loidolt 2018a, S. 152).

Die Ausführungen über eine Erscheinungswelt haben verdeutlicht, dass einzelne Perspektiven auf die Welt zunächst von einem „Es-scheint-mir“ gezeichnet sind. Eine geteilte Welt, die auf der Zusammenkunft einzelner Perspektiven fußt, gleicht somit einem geteilten Erscheinungsraum, der permanent von Momenten der Täuschung und des Scheins bedroht ist. Die Gewissheit einer geteilten Realität, die sich nicht als Täuschung entpuppt, bedarf deshalb einer Öffentlichkeit der pluralen Perspektiven, die als dauerhafter Garant für individuelle Erscheinungen auftritt. Doch aus dem Umstand, dass unterschiedlichen Individuen in ihren pluralen Weltzugängen vermeintlich ein und dieselbe Welt erscheint, folgt noch nicht, dass jene Welt auch ein tatsächlicher Raum der Pluralität ist. Arendt denkt Pluralität nicht nur in ihren theoretischen Annahmen einer intersubjektiv-geteilten Welt, sondern wesentlich in ihrer Kontingenz und Aktualität. Pluralität, im Arendt’schen Sinn, geht von einem gelebten und kommunikativen menschlichen Miteinandersein aus. Ein Miteinandersein, das nicht selbstverständlich und dauerhaft gegeben ist.

Die Implikationen einer Pluralität, die sich aus dem menschlichen Miteinander des Handelns und Sprechens ergeben, verweisen so zunächst auf die Welt als „zweites Zwischen“ und „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, wie sie oben bereits erörtert wurden. Gleichzeitig betont Arendt, dass handeln und sprechen politische Tätigkeiten „par excellence“ sind (vgl. Rebentisch 2022, S. 29). Arendt geht es in ihrer Rede von Pluralität also nicht um irgendeine Intersubjektivität, sondern um eine dezidiert politische Intersubjektivität, die sie entlang von konkreten Formen des Miteinanderseins ausformuliert.

Das politische Miteinandersein, das Arendt dem gesellschaftlichen Miteinandersein gegenüberstellt, ist derjenige zwischenmenschliche Raum, in dem es von Bedeutung ist „Wer-einer-ist“ (Arendt 2020, S. 246). Die einzigartige Form des „Wer-einer-ist“ wird in den Worten Loidolts als „publicly articulated personal uniqueness“ (Loidolt 2018a, S. 170) beschrieben und findet in den Dimensionen des öffentlichen Handelns und Sprechens statt. Das Politische als aktualisierte Pluralität gründet sich also in dem Erscheinen des ‚Wer-einer-ist‘ im Gegensatz zu dem ‚Was-einer-ist‘. Letzteres schreibt Arendt dem gesellschaftlichen Miteinander zu und kritisiert es dafür, dass es sich in seinem Bezug auf ein ‚Was‘ auf die Aufzählung von Eigenschaften einer Person beschränkt und somit den Status, und nicht die Einzigartigkeit einer Person, thematisiert, die sich nur im Modus des ‚Wer‘ offenbaren kann. Folglich ist es also alles andere als egal, wie jemand im öffentlichen Erscheinungsraum wahrgenommen wird.

Pluralität, in ihrer politischen Dimension, impliziert notwendig die Einzigartigkeit einer Person, die sich erst im kommunikativen Miteinander verwirklichen kann. „Sprechend und Handelnd“, schreibt Arendt, „unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart“ (Arendt 2020, S. 214). Pluralität geht folglich über eine statisch-quantitative Vielheit hinaus und realisiert sich vielmehr als „Pluralitätsgeschehen“ (Loidolt 2012, S. 387; meine Hervorhebung). Wie Rebentisch treffend zusammenfasst, kann „erst bei einem solchen Geschehen, in dem die Perspektive der Einzelnen sich in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit geltend macht, […] von »menschlicher Pluralität« gesprochen werden […]“ (Rebentisch 2022, S. 34). Als Geschehen ist Pluralität wesentlich prozessual und ereignishaft, was gegen eine Verfügungsmacht des Einzelnen über sie spricht.8

Pluralität, gedacht nicht nur als Konglomerat pluraler Weltzugänge, sondern als Aktualität eines politischen und öffentlich-geteilten Erscheinungsraums, gleicht somit einer kommunikativen Vollzugsform, in der die Perspektive des Einzelnen in seiner Einzigartigkeit des ‚Wer-einer-ist‘ in Erscheinung tritt. Doch ist an dieser Stelle noch nicht gesagt, an welche Bedingungen das In-Erscheinung-Treten des ‚Wer-einer-ist‘ geknüpft ist, außer, dass eine gewisse Einzigartigkeit hervortreten muss. Wenn aber „Erscheinen stets [heißt]: anderen so und so scheinen und dieses Scheinen sich mit Standpunkt und der Perspektive der Schauenden [verändert]“ (Arendt 1998, S. 31), dann fordert Pluralität auch eine Erkennung und Anerkennung der einzigartigen, pluralen Weltzugänge und ist, wie Rebentisch anmerkt, „wesentlich durch Kontingenz und Unvorhersehbarkeit bestimmt“ (Rebentisch 2022, S. 37).


  1. Wer-einer-ist: Die Einzigartigkeit einer Person


Der Mensch ist für Arendt ein einzigartiges Wesen. Diese Einzigartigkeit, die mehr als eine Besonderheit ist, knüpft sie an kommunikative Bedingungen des Handelns und Sprechens. Als sprechendes und handelndes Wesen tritt der Mensch ‚in-Erscheinung‘. Jenes ‚In-Erscheinung-Treten‘ ist dabei unerlässlich damit verbunden, vor anderen und in einem Kontext zu erscheinen. „Ein Leben ohne alles Sprechen und Handeln“, so schreibt Arendt, „wäre buchstäblich kein Leben mehr, sondern ein in die Länge eines Menschenlebens gezogenes Sterben […]“ (Arendt 2020, S. 241). Sprechend und handelnd nimmt der Mensch also am Leben teil und betritt so die Welt des Zwischenmenschlichen, die wiederum darin begründet liegt, dass sie sich sprechend und handelnd eröffnet.

Die Einzigartigkeit des Einzelnen leitet sich aus einer zweifachen „Geburt“ und dem „Faktum der Natalität“ (ebd., S. 243) der Menschen ab. Die erste Geburt ist die biologische Geburt, durch die ein neues Leben in die Welt tritt. Durch den kommunikativen Eintritt in die Welt, als sprechend und handelnd, wird dieses Leben dann ein zweites Mal ‚geboren‘. Durch die zweite, „innerweltliche Geburt“ (Rebentisch 2022, S. 31) wird eine Person so zu einem Jemand. Wer-einer-ist ergibt sich dann nur in dem Erscheinen dessen Wer-jemand-ist. Arendt geht es in ihren Ausführungen über die Einzigartigkeit des Menschen darum, die Unverwechselbarkeit einer Person in ihrem einzigartigen Weltzugang des Miteinanderseins zu betonen. Es wäre dabei jedoch verfehlt jene Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit an personale Eigenschaften zu binden, die in ihrem Charakter aufgezählt werden könnten. Auch meint Arendt mit Einzigartigkeit keine „Naturanlage“ (ebd., S. 40). Dasjenige, was man über eine Person mehr oder weniger eindeutig in Worte fassen kann, deren Eigenschaften, Gaben, Talente und „Defekte“ (vgl. Arendt 2020, S. 246) eröffnet das Was-einer-ist. Das ‚Was‘ kann jedoch auch isoliert und für jeden in seinen eigenen Gedanken aufgezählt und betrachtet werden. Das ‚Wer‘ hingegen ist grundsätzlich an ein lebendiges Miteinandersein gebunden, in dem es sich durch sein Erscheinen „unwillkürlich in allem mitoffenbart“ (ebd.). Die einsame Aufzählung der Eigenschaften einer Person kann demgemäß niemals dasjenige einfangen, was eine Person in ihrer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit auszeichnet.

Das Hervortreten der Einzigartigkeit des Wer-jemand-ist, ist somit grundsätzlich in seinen intersubjektiven Dimensionen zu denken. Arendts ‚Wer-einer-ist‘ kann folglich nur in einer Pluralität erscheinen, in der die Einzigartigkeit des Einzelnen sich jeglicher Verfügungsmacht entzieht und sich in handelnden und sprechenden Akten als subtiler Überschuss der persönlichen ‚Eigenheit‘ in den Erscheinungsraum einzeichnet. Rebentisch führt dazu aus: „Das »Wer« der Person scheint sich Arendt in diesen Kontexten als eine Unverwechselbarkeit vorzustellen, die sich in allem, was die Person tut oder sagt, mit zeigt, und zwar insbesondere dort, wo die Person gar nicht erst versucht, einem bestimmten Bild von sich, einem Image zu entsprechen“ (Rebentisch 2022, S. 41). In dem Gedanken Arendts, dass sich im Handeln und Sprechen ein Unverfügbares sowie ein die Intention einer Person übersteigender Überschuss offenbart, und in gerade dem letztlich die Einzigartigkeit eines jeweiligen Weltzugangs in Erscheinung tritt, liegt eine gehaltvolle Philosophie der Expressivität, die Arendt in die Nähe zu Merleau-Pontys Denken setzt. Ähnlich wie Arendt argumentiert Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung dafür, dass es keinen „inneren Menschen“ gibt, sondern nur einen Menschen der zur Welt ist (Merleau-Ponty 1966, S. 7) und in diesem Zur-Welt-Sein grundlegend eine zwischenmenschliche Verflechtung liegt (vgl. ebd., S. 397 – 419). Auch Merleau-Ponty denkt ‚die Welt‘ als einen intersubjektiven Erscheinungsraum, der sich primär durch Ausdrucksgeschehen offenbart, wodurch ebenfalls eine grundlegend kommunikative Dimension Anteil an jener Sphäre der Intersubjektivität nimmt. Herausstechend an Merleau-Pontys Thematisierung von Ausdruck als intersubjektiver Dimension, ist seine vielfältige Einbindung eines Stil-Begriffs. Obwohl Merleau-Ponty keine eindeutige Definition oder Erörterung über sein Verständnis eines Stils gewährleistet, liegt in seinem regelmäßigen Gebrauch des Begriffs ein wesentlicher Zugang zu dem Gesamtverständnis seines philosophischen Denkens.

Für Merleau-Ponty ist ein Ausdruck - ganz gleich ob gesprochen, gezeichnet oder ‚performed‘ - ein originäres Zwischen, eine Passage und ein Übergang von „existenziellen Bedeutungen“ (ebd., S. 216), die niemals in einer Übersetzungsleistung von vermeintlich inneren Zuständen in ein Äußeres aufgehen könnten. Jener Umstand eröffnet sich dadurch, dass jedem Ausdrucksgeschehen ein Stil eignet, der es einem Individuum versagt, sich jenen Stil in seiner „existenziellen Bedeutung“ anzueignen. Als Stil ist ein Ausdruck folglich immer von einem Unverfügbaren sowie von einem Überschuss gezeichnet. Jenes Unverfügbare geht einerseits grundlegend mit einem Ausdruck einher und zeugt andererseits davon, dass ein Ausdruck vielmehr einer solchen Realisierung und Verwirklichung einer Bedeutung gleicht, die über die Verfügungsmacht eines einzelnen Individuums hinausreicht und nur in einer Pluralität von Weltzugängen zu ihrer vollen Ausdruckskraft gelangen kann.

Für eine Unverfügbarkeit der Realisierung und Verwirklichung von Bedeutungshaftigkeit in einem Ausdrucksgeschehen spricht ebenfalls, dass sich in einem Ausdruck als Stil immer eine Dimension mitträgt, die anderen erscheint, während sie dem sich ausdrückenden Individuum verborgen bleibt. So schreibt Merleau-Ponty ausführend:


Selbst wenn der Maler bereits gemalt hat und in gewisser Hinsicht Meister seiner selbst geworden ist, ist dasjenige, was ihm mit seinem Stil gegeben ist, keine Manier, nicht eine bestimmte Anzahl von Verfahrensweisen oder sonderbaren Gewohnheiten, von denen er ein Verzeichnis anlegen könnte, sondern eine Formulierungsweise, die für die anderen ebenso erkennbar, für ihn selbst aber so wenig sichtbar ist wie seine Silhouette oder seine alltäglichen Gesten. (Merleau-Ponty [1952] 2003, S. 131)


Der Stil eines Ausdrucks ist folglich erstens durch eine Unverfügbarkeit des Sich-Ausdrückenden gezeichnet. Zweitens geht ein Stil nicht in „einer bestimmten Anzahl von Verfahrensweisen oder sonderbaren Gewohnheiten“ auf, kann also nicht als Eigenschaft gelten, die sich aufzählen ließe. Drittens – und hier sollte spätestens die Nähe zu Arendt deutlich werden – ist ein Stil das, was von anderen erkannt wird, während es der sich ausdrückenden Person verborgen bleibt. Mit Rekurs auf Rebentisch lässt sich ein Stil, im Sinne Merleau-Pontys, auch als dasjenige beschreiben, was sich in allem, was eine Person sagt oder tut mitoffenbart, als dasjenige, was das Unverwechselbare und Unverfügbare einer in Erscheinung tretenden Person ausmacht. Das ‚Wer-einer-ist‘ kann folglich als der unverwechselbare und einmalige Stil einer Person beschrieben werden.

Doch wie verhält es sich mit jenem einzigartigen Stil in einer Welt, in der Menschen von einem Drang der Selbstdarstellung umhergetrieben scheinen und Stile für einen Selbstzweck nachgeahmt werden? Wie lässt sich das ‚Wer-einer-ist‘, verstanden als das, was notwendig in Erscheinung treten muss, um die Aktualität einer politischen Pluralität zu gewahren, unter Bedingungen eines Erscheinens in sozialen Medien denken? Im Folgenden werde ich verschiedene Tendenzen von sozialen Medien aufgreifen, die eine argumentative Annäherung an jenen Fragenkatalog erlauben. Ich beschränke mich dabei auf Phänomene, die in direktem Bezug zu der hier besprochenen Philosophie des Erscheinens und Pluralität im Arendt’schen Sinn stehen. Dabei wird nicht der Anspruch erhoben, die unterschiedlichen Facetten von verschiedenen sozialen Medien in ihrer Komplexität auszuloten, sondern bestimmte Tendenzen aufzuzeigen, die Medien und App übergreifend zu beobachten sind.


Selbstdarstellung in sozialen Medien – Die Welt als Bühne


Dass es in sozialen Medien wie Facebook, Tik Tok, Instagram und Twitter überwiegend darum geht sich selbst darzustellen und die eigenen Standpunkte, Meinungen, Perspektiven sowie die eigene Ästhetik mit einem Publikum zu teilen, sollte jedem, der ein solches Medium einmal benutzt hat, schnell klar geworden sein. Die Infrastruktur der Apps sind darauf ausgelegt ein eigenes Profil anzulegen, das akribisch gepflegt werden soll, ausgeschmückt mit Bildern und Informationen darüber, wer jemand ist. Doch lässt sich mit Arendt die Frage danach stellen, ob es tatsächlich darum geht zu offenbaren ‚Wer-jemand-ist‘. Betrachtet man die Vorgaben dessen, wie ein Onlineprofil in sozialen Medien aufgebaut ist genauer, so wird deutlich, dass, um mit Arendt zu sprechen, vielmehr gezeigt werden soll 'Was-jemand-ist‘. Die Beschreibungen und Zurschaustellung der eigenen Person orientieren sich entlang von Hashtags, sogenannten ‚Bios‘9, Bildern und kurzen Wortbeiträgen. Kurzum, die individuellen Onlineprofile in sozialen Medien gleichen Ansammlungen von Begriffen, Kurzbeiträgen und Bildern, die ein – meist intendiertes – Gesamtbild einer Person entstehen lassen soll, das repräsentativ für jene Person steht. Der repräsentative Aspekt einer Zurschaustellung der eigenen Person in einer virtuellen sozialen Situation ist dabei eine zentrale Funktion von sozialen Medien.

Doch sind auch ‚analoge‘ soziale Situationen davon geprägt, dass man sich seiner eigenen Visibilität durchaus bewusst ist und sich folglich zuweilen selbst darstellt. „Leben“, so schreibt Arendt, „heißt von einem Drang zur Selbstdarstellung beherrscht sein, der Reaktion auf die eigene Erscheinungshaftigkeit“ (Arendt 1998, S. 31). Die Erscheinungshaftigkeit lässt sich, mit Rekurs auf den dreifachen Weltbegriff Arendts, als die Welthaftigkeit des Erscheinungsraums beschreiben, der sich aus dem Umstand ergibt, dass Wahrnehmendes immer auch wahrgenommen wird. Arendt nimmt nun an, dass man sich dieser Visibilität, der eigenen Erscheinungshaftigkeit, bewusst ist. Die Reaktion dieses Bewusstseins der eigenen Visibilität äußert sich für Arendt dann in einem Drang zur Selbstdarstellung. „[M]an reagiert mit Zeigen auf die übermächtige Wirkung des Gezeigtwerdens […]“ (ebd.). Für Arendt jedoch ist jener Drang zur Selbstdarstellung per se nichts Schlechtes. Der Drang ist zunächst einfach, gegeben durch den Umstand, dass Sein und Erscheinen für Arendt miteinander einhergehen. Als Reaktion auf die eigene Visibilität ist der Drang zur Selbstdarstellung die spontane Aktivität, die aus der Rezeptivität unserer Sinne folgt (vgl. ebd., S. 39). So schreibt Arendt in Anlehnung an den Schweizer Zoologen und Biologen Adolf Portmann:


Was sehen kann, möchte gesehen werden; was hören kann, möchte gehört werden; was berühren kann, möchte sich berühren lassen. Es ist gerade so, als hätte alles, was lebt – neben der Tatsache, daß seine Oberfläche zum Erscheinen da ist, daß sie gesehen werden und anderen erscheinen soll –, einen Drang zu erscheinen, sich in die Welt der Erscheinungen einzufügen, in dem es […] sich als Individuum darstellt und zeigt. (Ebd.)


Arendt geht es in ihren Ausführungen über den Drang zur Selbstdarstellung um ein Dreifaches. Einerseits betont sie einen „Wert der Oberfläche“ (ebd.), der für sie darin liegt, dass eine Erscheinung keine repräsentative Aussage eines ‚inneren Zustandes‘ ist, der aus-gedrückt würde, sondern, dass in der Erscheinung selbst eine Ausdruckskraft liegt, die sich als sie selbst zeigt oder darstellt (vgl. ebd., S. 40). Ähnlich wie Merleau-Ponty denkt Arendt Ausdruck hier ausgehend von der Erscheinung des Ausdrucks, womit keine Repräsentation eines inneren Zustandes gemeint ist. Gleichzeitig betont Arendt, dass alles, was von einer Erscheinung ausgeht, von einem Es-scheint-mir, einem dokei-moi, gezeichnet ist. Die aus einer Erscheinung resultierende Ausdruckskraft wird folglich stets von der Möglichkeit des Scheins und der Täuschung begleitet. So schreibt Arendt ausführend: „[J]edes Erscheinende erhält kraft seiner Erscheinungshaftigkeit eine Art Schleier, der es durchaus verbergen oder entstellen kann, aber nicht muß. Das Scheinen gehört zu der Tatsache, daß jede Erscheinung unbeschadet ihrer Identität von vielen Schauenden wahrgenommen wird“ (ebd., S. 31). Die Täuschung, die mit einer Selbstdarstellung einhergehen kann, folgt demnach nicht nur aus einer gezielten Intention der sich darstellenden Person, sondern ist dem bloßen Umstand der Erscheinungshaftigkeit selbst inhärent. Die Möglichkeit des Scheins liegt demnach darin, dass „genau wie der Schauspieler für seinen Auftritt auf [der] Bühne“ der Mensch auf „seine Kollegen und Zuschauer angewiesen ist, […] auf andere Lebewesen als Spielgefährten und auf Zuschauer, die seine Existenz anerkennen und erkennen“ (ebd.).

Wie bereits weiter oben besprochen, ist der intersubjektive Erscheinungsraum gerade derjenige Raum, in dem die eigene Position, das eigene Erscheinen, von anderen verhandelt und auch bestritten werden kann. Daraus folgt, dass zumindest der Umstand, dass soziale Medien auf den Drang zur Selbstdarstellung des Menschen abzielen, nicht als Ausschlusskriterium für einen genuin intersubjektiven Erscheinungsraum sozialer Medien gelten kann. Es lässt sich jedoch einwenden, dass die Selbstdarstellung in sozialen Medien solchermaßen forciert und einseitig ausgesandt ist, dass die eigene Darstellung wesentlich auf einen in sich zurückweisenden Zirkel der sich darstellenden Person verweist und die ‚Bühne‘ der Öffentlichkeit nicht wirklich betreten wird, wenn die Kommunikationsleistung maximal einseitig stattfindet. Eine solche, letztlich in sich geschlossene, Form der Kommunikation würde sich einem tatsächlichen Erscheinen vor und dadurch mit anderen grundlegend verwehren. Für Arendt ist es nicht unwesentlich sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob Personen in sozialen Medien miteinander oder für- bzw. gegeneinander kommunizieren. Denn, so Arendt, das „Wer-einer-ist“, als die „Aufschluß-gebende Qualität des Sprechens und Handelns“, über die wir nicht verfügen und „durch die, über das Besprochene und Gehandelte hinaus, ein Sprecher und Täter in Erscheinung tritt“ (Arendt 2020, S. 246), kommt eben nur da ins Spiel, wo Menschen auch tatsächlich mit-einander handeln und sprechen.

Die Art und Weise wie Personen in virtuellen Räumen von sozialen Medien vor anderen Personen in Erscheinung treten können, kann schwerlich ohne eine Betrachtung des Mediums sozialer Medien ausgehandelt werden. Folglich muss die Infrastruktur und ‚Architektur‘ sozialer Medien daraufhin befragt werden, ob sie die nötigen Voraussetzungen für einen genuin öffentlichen Erscheinungsraum haben. In ihrem Artikel @hannah_arendt: An Arendtian Critique of Online Social Networks schreibt Elke Schwarz:


Just like the architectural aspects of a city within which men and women can gather, and through speech and action engage politically, Twitter and Facebook provide the virtual architectural structure within which unique persons can come together and reveal their ‘who’, rather than their what. It serves as the inter-esse, the in-between and action upon which the web of human relationships is built. (Schwarz 2014, S. 181)


Schwarz malt hier ein utopisch anmutendes Bild von sozialen Medien, welches sie im Verlauf ihres Artikels mit Hinblick sowohl auf die Dauer des Erscheinungsraums ‚virtuelle Welt‘ sowie mit Hinblick auf ein ‚entkörpertes‘, virtuelles Miteinandersein relativiert. Hier lässt sich ein Bezug zu dem zeitlichen Anspruch des Überdauerns einer öffentlichen Welt aufmachen, der bereits weiter oben (S. 5) angesprochen wurde. Der Punkt galt Arendts Überlegung, dass das ‚erste Zwischen‘ diejenige Welt, die ein einzelnes Leben und auch verschiedene Generationen durch physische und kulturelle Artefakte überdauert, allererst den Rahmen dafür schafft, dass zwischenmenschliche Angelegenheiten in einem öffentlichen Bezugssystem und Kontinuum stattfinden. Andererseits gleicht ein Erscheinungsraum einem kurzlebigen und fragilen Ereignis, das nur in der Aktualität einer verwirklichten Pluralität stattfindet (vgl. Arendt 2020, S.252). Schwarz hingegen argumentiert in ihrem Artikel dafür, dass soziale Medien wie Twitter und Facebook keine überdauernde ‚Bühne‘ menschlicher Angelegenheiten sind und somit keinen Boden für eine zwischenmenschliche Öffentlichkeit bieten. Sie schreibt:


Arendt has something much more tangible and durable in mind when she considers this public sphere of human exchange and inter-action and she would likely be critical of the temporary nature of this realm – it is erected for the here and now, the speed with which this realm develops, enters and leaves the realities of men makes it nontranscendent in terms of history, it is planned for the living only. (Ebd., S.182)


Doch ist es nicht so, dass das ‚erste Zwischen‘ der sozialen Medien, das von Datenspeicherung und langlebiger Informationsweitergabe geprägt ist sowie die Möglichkeit hergibt, durch neue Technologien wie etwa Blockchains überdauernde Informationen auf Grundlage von multipersonaler Sicherungssysteme zu speichern, durchaus den Rahmen für eine überdauernde Öffentlichkeit bereitstellt?10 Darüber hinaus scheint Arendt für das Erscheinen einer Person in ihrem ‚Wer-sie-ist‘ keine zeitliche Dauer als notwendiges Konditional anzusetzen, was wiederum dafür spricht, dass auch ein solcher Raum, der nur für den gelebten Moment konzipiert ist, die Möglichkeit für ein politisches Miteinandersein in einem geteilten, öffentlichen Raum hergibt.

Für die in diesem Text aufgestellte Fragestellung nach einem möglichen politischen Miteinandersein in einem digitalen Erscheinungsraum sozialer Medien, werde ich im Folgenden das Miteinandersein in einem virtuellen Zwischen näher betrachten und auf die Möglichkeit des Erscheinens ‚Wer-jemand-ist‘ befragen.


Das Miteinandersein in sozialen Medien – Das (virtuelle) ‚Zwischen‘


Aus dem Vorangegangen geht hervor, dass die Forcierung des menschlichen Drangs zur Selbstdarstellung im virtuellen Raum von sozialen Medien zunächst kein Ausschlusskriterium für einen pluralen, öffentlichen Erscheinungsraum im Arendt’schen Sinn ist. Andererseits scheint die sorgsame Pflege der Onlineprofile durch die Selektion von Bildern, Beschreibungen und letztlich einer gezielt platzierten Geschichte über die eigene Person darin zu münden, dass eine Pluralität im Sinne Arendts in sozialen Medien nicht erreicht werden kann.

Die Frage stellt sich, ob ein zur Schau gestelltes und forciertes Narrativ der eigenen Person einer gelebten Pluralität hinderlich ist. Pluralität, so wurde weiter oben ausgeführt, kann nur da entstehen, wo die Einzigartigkeit eines Individuums in Erscheinung treten kann. Verdeckt also ein sorgfältig herausgearbeitetes Narrativ der eigenen Person die Einzigartigkeit eines Individuums, die als Stil des ‚Wer-einer-ist‘ gerade für das Unverfügbare der eigenen Selbstdarstellung steht? Rebentisch führt in Rekurs auf Arendt aus:


Wenn es nach Arendt eine greifbare Manifestation personaler Einzigartigkeit gibt, so in der Nachträglichkeit, in der sie sich in einer erzählbaren Geschichte auskristallisiert – einer Geschichte, die sich aus dem »Bezugsgewebe« zwischen den Menschen generiert, also gerade nicht in der Verfügungsgewalt des Einzelnen steht, die sprechend und handelnd ihre »Fäden« in dieses Gewebe »schlagen«. (Rebentisch 2022, S. 35)


Im Sinne Rebentischs lässt sich also dafür argumentieren, dass in der nachträglichen Erzählbarkeit die einzig greifbare Manifestation personaler Einzigartigkeit liegt. Doch wie unterscheidet sich eine solche erzählbare Geschichte von der Aufzählung personaler Eigenschaften, die gerade nicht das Wer-einer-ist einfangen kann, sondern nur das Was-einer-ist? Rebentisch schreibt dazu weiterführend:


Gleichwohl sind die von den Handelnden unter Umständen gar nicht intendierten Geschichten für Arendt »das ursprünglichste Produkt« des (Sprech-)Handelns im Miteinander, weil sich dieses »Produkt« nicht auf die »Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke« zurückrechnen lässt, sondern der Unvorhersehbarkeit des Miteinander entstammt. (Ebd.)


Rebentisch betont hier, dass eine gezielte, intendierte Narration der eigenen Person keine Manifestation der personalen Einzigartigkeit ist, sondern, dass lediglich eine solche Geschichte, die gerade nicht vorgefasst wurde und sich erst aus einem intersubjektiven Miteinander entwickelt hat und durch eine gewisse Unvorhersehbarkeit gezeichnet ist, zu der Manifestation einer personalen Einzigartigkeit in Worten führen kann.

Die Annahme, dass die mit Bedacht ausgewählten Profilbilder und Selbstzuschreibungen, im Rahmen von Onlineprofilen in sozialen Medien, dem Pluralitätsgedanken Arendts zunächst entgegenstehen, scheint folglich zunächst zuzutreffen. Soziale Medien gleichen in diesem Sinn grundlegend einem gesellschaftlichen Miteinander, in dem das ‚Was-jemand-ist‘ im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Jedoch ist dadurch noch nicht gesagt, dass ein virtuelles Erscheinen durch Avatare, Bilder und Sprache in einem vermeintlich entkörperten sozialen Raum überhaupt die Möglichkeit unterbindet, miteinander in ein unvorhersehbares Zwischen zu treten, aus dem heraus sich die Erkennung und Anerkennung einer Person in ihrer Einzigartigkeit ergeben kann.

In dem Wissen, dass die Thematik einer digital-virtuellen Intersubjektivität in der Kürze dieses Texts kaum abschließend eingeholt werden kann, möchte ich im Folgenden auf den vielversprechenden Ansatz von Lucy Osler und Joel Krueger (2022) eingehen, der das ‚Zwischen‘ sowie die Dynamiken von Subjektivität und Sozialität in Onlineräumen, in Anlehnung an den Phänomenologen Tetsurō Watsuji (1889-1960) betrachtet, und dafür argumentiert, dass das Internet sowie soziale Medien nicht nur in Kommunikationstechnologien bestehen, sondern, dass sie genuin neue Formen von intersubjektiven Räumlichkeiten und Bezügen darstellen.

Osler und Krueger beziehen sich in ihrer Argumentation auf Watsujis Konzept aidagara (das Zwischen), welches als gewöhnliches japanisches Wort die Beziehung zwischen Personen ausdrückt: eine Schwester zu sein, ein romantischer Partner, ein Elternteil. Watsuji konzeptualisiert den Begriff als eine ontologische Kategorie des menschlichen Daseins, die nicht auf die ontischen Beziehungen des alltäglichen Lebens zurückzuführen sind (vgl. Johnson 2019, S. 84; zitiert nach Osler/Krueger 2022, S. 80). Osler und Krueger betonen: „[T]he term is also meant to capture a more fundamental sense in which the very being of the subject is bound up with the rich interconnections it shares with others” (Osler/Krueger 2022, S. 80). Aidagara, oder das Zwischen, ist folglich eine Bezeichnung für die ontologische Dimension der intersubjektiven Bezüge, die verschiedene Individuen miteinander in Verbindung setzt. Watsuji, der ähnlich wie Arendt sowohl von Husserl als auch von Heidegger stark beeinflusst wurde und doch kritisch über beide hinausdachte, betont in seiner eigenständigen Intersubjektivitätstheorie zentral die räumlichen und nicht nur die zeitlichen Modalitäten des Miteinanderseins. Der intersubjektive Raum ist nach Watsuji ein gelebter Raum, der sich nicht auf den physischen Raum beschränkt, sondern sich als genuiner Zwischenraum durch die Art und Weise eröffnet, wie Subjekte sich zueinander verhalten, kommunizieren und praktisch miteinander umgehen. Als solcher ist der intersubjektive Raum von affektiven Tönungen geprägt, die sich distinktiv in zwischenmenschliche Beziehungen einschreiben. Die Räumlichkeit des Zwischen kann weder auf den euklidischen Raum noch auf konstitutive Bewusstseinsfunktionen zurückgeführt werden und meint vielmehr die Art und Weise, wie verschiedene Subjekte zueinander in Beziehung treten. Als solches kann Watsujis Konzept von aidagara in Anlehnung an Arendt als ein zwischenmenschliches Bezugsgewebe beschrieben werden, das ein Modus des „Zueinander-in-Beziehung-Seins“ (being-in-relation-to-others) (vgl. ebd., S. 5) ist. Ein Modus, der aktiv erarbeitet und aufrechterhalten werden muss. Arendts Vorstellung von Pluralität als politischer Intersubjektivität, die in einem zwischenmenschlichen Erscheinungsraum stattfindet, kann problemlos als ein solch fragiles „Zueinander-in-Beziehung-Sein“ gedacht werden, das ebenfalls auf ein gewisses Grundmaß an menschlicher Aktivität angewiesen ist, um jenes Bezugsgewebe aufrecht zu erhalten.

Bevor ich zu der Erläuterung von sozialen Medien, im Lichte eines potentiell intersubjektiven Zwischens (aidagara) übergehe, möchte ich Watsujis Konzept entlang seiner Begriffe der subjektiven Ausdehnung (shutaiteki na hirogari) und der subjektiven Räumlichkeit (shutaiteki kūkan) vertiefen. Als subjektive Räumlichkeit versteht Watsuji den gelebten Raum (lived space), der sich durch gefühlte Möglichkeiten des In-Aktion-Tretens und Verhaltens auszeichnet. Als Beispiel nennen Osler und Krueger die subjektive Räumlichkeit einer postnatalen Depression. Sie schreiben ausführend:


Individuals with severe depression often exhibit disturbances of subjective spatiality. Among other things, they may report feeling a sluggishness or lack of embodied vitality; diminished affect and affective displays (e.g., facial expression, etc.); and, a general loss of felt connection to the people, things, and spaces in their environment. Predictably, these disturbances impact how depressed individuals enact face-to-face betweenness. (Ebd., S. 83)


Was Osler und Krueger entlang eines gestörten „Zueinander-in-Beziehung-Seins“ von Mutter und Kind betonen, ist einerseits eine veränderte Wahrnehmung, die aus einem gefühlten, affektiven Zustand resultiert und sich formend auf die Kommunikation und Möglichkeit von Verhaltensweisen auswirkt, und andererseits eine gewisse Dialektik, die aus dieser gelebten Räumlichkeit entsteht, da das Kind responsiv auf die Verhaltensweisen und Expressivität der Mutter reagieren wird, woraus ein gewisser Rhythmus zwischen Mutter und Kind entsteht, der für Watsuji elementarer Teil der subjektiven Räumlichkeit ist, die sich folglich als eine genuin intersubjektive Räumlichkeit auszeichnet. In den Worten von Osler und Krueger:


The point of these examples […] is to highlight how betweenness consists of more than mere physical proximity. […] It is something we actively create and sustain – a way of connecting directly with others that involves, among other things, a synchronization of the movements and bodily expressions that are part of our subjective spatiality. […] To connect with others is thus not primarily a meeting of the minds […], but rather a more fundamental sharing of embodied (inter-)subjective spatiality and lived space. (Ebd., S. 84)


Die Konzeptualisierung von subjektiver Räumlichkeit nach Watsuji konzentriert sich primär auf die leiblichen Begegnungen von Personen, die durch ihre Bezugnahmen aufeinander in einen geteilten Rhythmus verfallen, der wiederum einen intersubjektiven Zwischenraum entstehen lässt. Watsuji spricht mit seiner Theorie des Zwischens (adaigara) jedoch nicht nur zwischenmenschliche Begegnungen an, sondern impliziert auch die materielle Welt sowie kulturelle Praktiken. Für jene Dimensionen verwendet er den Begriff der subjektiven Ausdehnung (subjective extendedness), die sich in der Art und Weise wiederfindet, wie und mit welchen Hilfsmitteln Menschen sich ausdrücken. Kommunikation wird hier als ein Prozess verstanden, der den Sinn von subjektiver Räumlichkeit erweitert, indem neue Formen des Zwischens eröffnet werden – als neue, geteilte und gefühlte Möglichkeiten des sozialen Miteinanderseins. Osler und Krueger betonen im Sinne Watsujis, dass insbesondere kulturelle Artefakte und Praktiken unsere subjektive Räumlichkeit erweitern, in dem sie jene Räumlichkeit grundlegend mitprägen und sich somit in ‚das Zwischen‘ einschreiben. Sie schreiben ausführend: „If ‘subjective spatiality‘ picks out a phenomenological feature of the embodied subject, then ‘subjective extendedness’ refers to the artifacts, practices, and spaces we use to dynamically extend, enrich, and express this feature” (ebd., S. 82). Watsuji erweitert durch seinen Begriff der subjektiven Ausdehnung sein generelles Verständnis von Subjektivität, indem er materielle Gegenstände, wie beispielsweise Kommunikationstechnologien und kulturelle Praktiken, wie etwa Mode, in seine Theorie einbindet. Expressivität denkt er dabei weitläufig, als etwas, das jede Form des menschlichen Handelns und Sprechens umfasst und auch die vom Menschen hergestellten Gegenstände miteinschließt. Er schreibt: „[T]here are thus no goods in which nongen sonzai [human existence] is not expressed” (Watsuji zitiert in Johnson 2019, S. 135; zitiert nach Osler/Krueger 2022, S. 84).

In Anlehnung an Osler und Kruegers Ausführungen über Watsujis Konzept von subjektiver Ausdehnung, argumentiere ich dafür, dass soziale Medien solche Technologien sind, die subjektive Räumlichkeiten auf kontingente Art und Weise erweitern und somit unvorhersehbare, intersubjektive Bezugsmöglichkeiten eröffnen. In den Worten von Osler und Krueger:


Interacting with these resources [of online communication] is, thus, a way to enact forms of ‘subjective extendedness’ bringing individuals into lived contact with one another even when they do not share the same physical space. […] we do not only use the Internet as a sophisticated tool for effacing space by communicating with those who are physically distant from us. We also experience it as a resource for creating space; online spaces that we experientially share with others. (Osler/Krueger 2022, S. 89)


Entgegen der Annahme, dass die Onlinepräsenz in sozialen Medien einem introspektiven und hedonistischen Unterfangen gleicht, das nichts mit einer gemeinsamen und geteilten Welt zu tun hat, argumentiere ich im Sinne Osler und Kruegers dafür, dass soziale Medien einer neuartigen Erweiterung unseres intersubjektiven Zwischenraums gleichen, die gerade durch die Komponente der Mediatisierung zu einem andersartigen, zwischenmenschlichen Bezugsgewebe führt. Der Erscheinungsraum von sozialen Medien mag virtuell und indirekter, weniger leiblich sein als der ‚analoge‘ Erscheinungsraum unserer zwischenleiblichen Wahrnehmungswelt. Doch liegt grade in der Art und Weise wie Menschen sich online (re)präsentieren und ausdrücken ein eigentümlicher Stil und eine Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren.

Ich möchte dies an zwei Beispielen ausführen. Watsuji beschreibt verschiedene Kleidungsstile als subjektive Ausdehnung und Ausdrucksform einer subjektiven Räumlichkeit, insofern sie Spuren von unterschiedlichen Aktivitäten, Praktiken und Lebensformen in sich tragen, die jenen Kleidungsstilen eine distinktive Bedeutung einprägen. Der Stil einer Person, verstanden als die Art und Weise, wie eine gelebte Realität sich in eine Expressivität einschreibt und mitträgt, ist nach Watsujis Konzept der subjektiven Ausdehnung auch noch da mitgegeben, wo eine Person nicht zwingend leiblich anwesend ist, sondern sich in Form eines Bildes, Schriftstücks oder durch andere materielle oder kulturelle Hilfsmittel ausdrückt. Der Stil einer Person, verstanden als eine Emmanation ihrer Einzigartigkeit, verweist somit auf die kulturellen Praktiken und sozialen Kontexte, in denen eine Person steht und die sich auch in die materialisierten ‚Ausdehnungen‘ dieser Einzigartigkeit expressiv einschreiben. Auf diese Weise prägt sich die Einzigartigkeit einer Person ihrer Ausdrucksform ein, beispielsweise in jenem Moment, in dem ein bestimmtes Kleidungsstück, ein spezifisches Bild oder ein bestimmtes Wort gewählt wird, um sich auszudrücken. So verstanden, lässt sich das Arendt’sche ‚Wer-einer-ist‘ durchaus auch in der Expressivität eines virtuellen Erscheinungsraums von sozialen Medien ausmachen. Das Onlineprofil einer Person ist dann gerade kein isoliertes und einseitiges ‚Aussenden‘, sondern eine, von Beginn an in einem sozialen Raum stattfindende expressive Ausdehnung eines Individuums, die stets auch uneinholbare Elemente in sich trägt. Osler und Krueger betonen in diesem Sinn:


[T]hese artifacts and spaces enlarge and enrich our subjective spatiality by bringing new forms of subjective spatiality and betweenness into being. We use them to construct distinctive relationships of betweenness with one another – each with a unique intensity and character – and to animate new forms of shared feelings that sustain these relationships across distances large and small. (Ebd., S. 85)


Ein weiteres Phänomen, das sich durch die Kommunikation in sozialen Medien ergeben hat und eine neue Möglichkeit der zwischenmenschlichen Bezugnahme darstellt sowie neue affektive Register eröffnet, sind sogenannte ‚Memes‘. Memes sind zumeist Bilder, die mit wenigen Worten bestückt werden und humoristisch, gesellschaftskritisch oder zynisch anmuten und sich repetitiv im Internet verbreiten. Als ‚globales‘ Phänomen sind Memes eine neuartige Bildsprache der digitalen Kommunikation, die sich erst durch das Miteinander in sozialen Medien ergeben hat und eine neuartige Dimension eines zwischenmenschlichen Bezugsgewebes darstellt. So ermöglicht die Kommunikation in Form von Memes, dass Personen, die sich nur flüchtig kennen und weder Interesse daran haben sich leiblich zu treffen, noch in ein ausgeprägtes Gespräch miteinander treten möchten, gleichzeitig aber nicht auf eine lockere, humorvolle Art der Kommunikation verzichten wollen, in einen Austausch treten können, in dem sie mindestens durch ihren Humor in Erscheinung treten.

Memes dienen somit als Beispiel für einen neuartigen Kommunikationsstil, der durch soziale Medien hervorgebracht wurde und auf dessen Grundlage Menschen miteinander in einer Art und Weise in Verbindung treten können, in der sie zwar nicht leiblich anwesend sind, gleichzeitig jedoch auch nicht nur offenbaren ‚Was‘ sie sind. Die Einzigartigkeit einer Person, die sich in der Art und Weise ihrer Expressivität mitträgt und welche die Grundlage für ein Miteinandersein in Pluralität ist, trägt sich durch neuartige Kommunikationsstile auch in das Bezugsgewebe sozialer Medien ein. Folglich birgt der virtuelle Erscheinungsraum von sozialen Medien zumindest die Möglichkeit eines pluralen Miteinanderseins, das in eine Form des politischen Miteinanderseins übergehen könnte. Doch wie Arendts intersubjektive Pluralität der ‚analogen‘ Welt, ist auch eine Pluralität der virtuellen Welt fragil und muss aktiv erarbeitet werden. Die Möglichkeit, in einer neuen Art und Weise online in Erscheinung zu treten, besagt eben noch nicht, dass auch die politische Dimension des ‚Weltlichen‘, wie Arendt sie im Sinn hatte, bereits erreicht ist. Im Gegenteil, damit aus einem gesellschaftlichen ein politisches Miteinandersein wird, bedarf es der Erkennung und Anerkennung des Anderen in seiner Einzigartigkeit sowie des miteinander Handeln und Sprechens. Doch wie spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika deutlich wurde, sind soziale Medien hochgradig anfällig für das für- und gegeneinander Sprechen und Handeln von Personen sowie für die Verbreitung von Desinformationen und die Beeinflussung von Meinungen und ‚Erscheinungen‘ durch den gezielten Einsatz von sogenannten ‚Bots‘11. Die technische Infrastruktur und Algorithmen sowie die Möglichkeit die eigene Identität online vollständig zu anonymisieren, verschleiern zunehmend die Potenzialität eines politischen Miteinanderseins in einem virtuellen Erscheinungsraum von sozialen Medien.

Für Arendt ist in ihrer Philosophie des Erscheinens und der Pluralität die Möglichkeit der Selbstbefragung und Selbstdifferenzierung entscheidend, um eine tatsächlich geteilte Wirklichkeit, im Sinne einer, durch plurale Weltzugänge eröffnete, Objektivität zu erreichen. Die Realität von sozialen Medien verweist uns jedoch oftmals auf ein Verharren in den eigenen Meinungen, Wahrnehmungspraktiken und Interessensgebieten. Dies wird durch die technische Infrastruktur und die Algorithmen der sozialen Netzwerke stark unterstützt. Sogenannte ‚Echokammern‘ sind ein zunehmendes Phänomen in sozialen Medien, die dazu führen, dass die hypothetische, globale ‚Freiheit‘ und unendliche Fülle an Personen und Perspektiven, denen man online begegnen kann, praktisch nicht erreicht wird. Alexey Salikov schreibt ausführend:


Social network sites maintain the shaping of different communities based on the interests, views and values of those members who prefer to remain within their group, and do not seek to influence the general agenda or to be part of universal public sphere. As some empirical studies show […], social media tends to contribute to the fragmentation of public discourse in many ways, which in turn leads to […] the development of parallel communities whose members can sometimes cultivate extreme views and do not seek to interact representative of groups […]. These groups tend to be marginalized by the mainstream public sphere, which leads to their further isolation. (Salikov 2018, S. 90)


Die Medialität des Internets und die algorithmische Infrastruktur von sozialen Medien wird folglich zu einem zunehmenden Hindernis eines digitalen Mit-einanderseins, das sich gerade von einem Für- oder Gegeneinandersein unterscheidet. Die größten Schwierigkeiten für eine virtuelle Intersubjektivität, die ein politisches Miteinandersein im Arendt’schen Sinn verwirklichen könnte, sind dabei die bereits erwähnten Echokammern, der Einsatz von Bots, der zu einer ‚computational propaganda12 führen kann sowie die stetige Möglichkeit, dass Regierungen die Nutzung des Internets und sozialer Netzwerke verbieten.13 Der ‚Kosmos‘ von sozialen Medien, die virtuelle ‚Welt‘, die sich aus dem Medium des Internets ergibt, ist keine neutrale, jedem Menschen gleichzugängliche Welt. Wie Seeliger und Villa Braslavsky anmerken, variiert der Zugang zu Kommunikationstechnologien maßgeblich in Bezug auf den relativen Wohlstand einer Nation sowie der Möglichkeit jene Technologien auch tatsächlich zu benutzen (vgl. Seeliger/Villa Braslavsky 2022, S. 3). Auf diese Weise verstanden, überbrücken soziale Medien eben nur bedingt nationale Grenzen.


Fazit


Die Fragestellung, ob soziale Medien einen Erscheinungsraum im Arendt’schen Sinn ermöglichen und was für eine Form der Welthaftigkeit ihnen eignet, wurde in diesem Essay entlang Arendts Theorie einer pluralen, politischen Intersubjektivität erörtert. Ein digitaler Kosmo-politismus wurde folglich daran gemessen, inwiefern und auf welche Art und Weise Personen in virtuellen, kommunikativen Räumen von sozialen Medien vor einander in Erscheinung treten und welche Form des Miteinanderseins in jenen virtuellen, sozialen Räumen vorherrscht.

Die Welt‘ wurde dabei in Anlehnung an Arendt als ein genuin geteilter Raum von pluralen Perspektiven gedacht, der einen realitätsstiftenden Charakter hat. Als solcher ist jener Raum ein Erscheinungsraum, der sich durch das In-Erscheinung-Treten einzigartiger Perspektiven auszeichnet. Von einer Pluralität ist dann zu sprechen, wenn das einzigartige ‚Wer-einer-ist‘ im Zwischen des Erscheinungsraums von anderen Personen erkannt und anerkannt wird. Damit eine Gemeinschaft eine politische werden kann, muss die Pluralität des Erscheinungsraums aktualisiert sein. Ein solcher, von Pluralität gezeichneter Erscheinungsraum, stellt sich durch das Handeln und Sprechen, die Kommunikation sowie die gemeinsame Praxis und Performativität verschiedener Individuen her, die durch ihr Miteinandersein ein ‚Zwischen‘ personaler Beziehungen konstituieren.

Mit Rekurs auf Osler und Kruegers Anwendung von Watsujis Konzept aidagara auf digitale Kommunikationstechnologien konnte gezeigt werden, dass soziale Medien eine neuartige Form der zwischenmenschlichen Bezüglichkeit eröffnen. Gerade in der Mediatisierung der Kommunikation liegt dann die Bedingung für neuartige Kommunikationsstile (bspw. Memes), die wiederrum zu neuartigen und unvorhergesehenen Modi führen können, wie ‚subjektive Räumlichkeit‘ sich ausdehnen kann. Indem Subjektivität durch einen erweiterten Begriff von Expressivität gedacht wurde, der sich auch auf kulturelle und materielle Hilfsmittel der Ausdruckshaftigkeit bezieht, konnte die Einzigartigkeit, das ‚Wer-einer-ist‘ sowie der unverfügbare Stil einer Person, der sich in performative und expressive Akte einschreibt, auch in der Selbstdarstellung und Kommunikation in virtuellen, sozialen Räumen festgestellt werden. Gleichzeitig wurde ebenfalls deutlich, dass virtuelle, soziale Erscheinungsräume zwar die Möglichkeit für ein plurales, politisches Miteinandersein eröffnen, jedoch ähnlich kontingent und fragil sind wie das ‚analoge‘ Zwischen menschlicher Bezüge. Zwar ist die Möglichkeit gegeben, online in Erscheinung zu treten, jedoch forcieren die Infrastrukturen sozialer Medien vielmehr ein gesellschaftliches Miteinandersein, da das ‚Was-einer-ist‘ bevorzugt in Erscheinung tritt und die Möglichkeit der vollständigen Anonymisierung, das Einsetzen von Bots und das zunehmende Phänomen von Echokammern eine tatsächliche plurale, weltbürgerliche Gemeinschaft in sozialen Medien unterbindet.

Wenn, wie Arendt schreibt, die Welthaftigkeit gerade in der stetigen Möglichkeit besteht, dass ein Wahrnehmendes zu einem Wahrgenommenen wird, dann geht sozialen Medien gerade da die Welthaftigkeit abhanden, wo diese Möglichkeit verhindert wird. Wenn Erscheinen immer heißt vor anderen zu erscheinen, dann stellt sich im Erscheinungsraum sozialer Medien die Frage, wie gewusst werden kann, dass diejenige Person, die mir durch Texte, Bilder und Avatare erscheint, auch tatsächlich jene Person ist, als die sie sich ausgibt bzw. ob sie überhaupt eine Person ist. Die Anonymität des Internets wird gerade dann zum Problem, wenn das „Handeln, das in der Anonymität verbleibt, eine Tat [ist], für die kein Täter namenhaft gemacht werden kann“, denn in diesem Fall ist das Handeln „sinnlos und verfällt der Vergessenheit; es ist niemand da, von dem man die Geschichte erzählen könnte“ (Arendt 2020, S. 49). In Anbetracht der Fragilität und Abhängigkeit sozialer Medien in Hinblick auf die Entscheidungsgewalt einzelner Akteure sowie ihrer technischen Infrastruktur, kann ein potentiell kosmo-politischer Erscheinungsraum von sozialen Medien als stark heteronom beschrieben werden.

Gerade dann, wenn das Erscheinen des ‚Wer-einer-ist‘ verhindert oder verschleiert wird, ist die leibhaftige Zusammenkunft von Individuen, wie sie etwa in Form von Demonstrationen gegeben ist, eine unverzichtbare Dimension von einem politischen und pluralen Miteinandersein. Wie Juliane Rebentisch betont, erlangt gerade dann die öffentliche Demonstration der Vielen als potenzielle Macht des Miteinanderseins eine entscheidende Bedeutung, wenn das In-Erscheinung-Treten in die Anonymität zu verfallen droht (vgl. Rebentisch 2022, S. 257).

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1 https://www.zeit.de/news/2022-02/02/facebook-konzern-meta-enttaeuscht-anleger-mit-quartalszahlen

2 https://www.instagram.com/tv/BkQjCfsBIzi/

3https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/tiktok-meldet-eine-milliarde-aktive-nutzer-a-6b61b799-5155-4708-acda-1022d73449b3

4 Im Folgenden verwende ich vorwiegend das generische Femininum und beziehe darunter auch nonbinäre Personen.

5 Hier sei ebenfalls auf die jüngste Arendt Rezeption im Bereich der Phänomenologie hingewiesen, wie sie etwa bei Aoife McInerney (2022), Marieke Borren (2022a, 2022b) und Maria Robaszkiewicz (2022) auszumachen sind.

6 Der Begriff des Miteinanderseins meint: „The factual modes of the concrete relation and interaction with others“ (Loidolt 2018, S. 169; bezugsnehmend auf Thonhauser 2014, S. 362-370).

7 Arendt schreibt ausführend über den ‚sechsten Sinn‘: „Seit Thomas von Aquin spricht man vom »Gemeinsinn«, dem sensus communis, einer Art sechsten Sinn, der notwendig ist um meine fünf Sinne zusammenzuhalten und zu gewährleisten, daß es derselbe Gegenstand ist, den ich sehe, taste, schmecke, rieche, höre […]. Ebendieser Sinn, ein geheimnisvoller »sechster Sinn« […] fügt die Wahrnehmung meiner privaten fünf Sinne […] in eine gemeinsame Welt ein, an der auch die anderen teilhaben.“ (Arendt 1998, S. 59).

8 Die Ausarbeitung des ereignishaften und fragilen Charakters von Pluralität kann an dieser Stelle leider nicht weiterverfolgt werden. Die interessierte Leserin möchte ich an dieser Stelle auf die Ausführungen von Sophie Loidolt (2018b, S. 17ff.) und Juliane Rebentisch (2021, S. 33ff.) verweisen.

9 Eine ‚Bio‘ ist eine kurze Beschreibung dessen, wie man sich selbst identifiziert oder mit welchen Links und Webseiten man als erstes in Zusammenhang gebracht werden möchte. Meistens finden sich jene ‚Kurzbiographien‘ unter oder neben dem Profilbild. Das interessante an diesen ‚Bios‘ ist, dass Personen sich entlang weniger Begriffe entweder selbst beschreiben oder Werbung für eigene Produkte oder die Produkte anderer Personen machen. Da es in diesen Kurzbiographien gezielt darum geht sich selbst in Eigenschaften und Bezügen zu beschreiben, geht es eindeutig darum Was-einer-ist und nicht darum Wer-einer-ist.

10 Für eine erschöpfende Antwort auf diese Frage müsste zusätzlich in Betracht gezogen werden, welche Personen überhaupt Zugang zu einer überdauernden Welt der digitalen Medien haben. Wahrscheinlich lässt sich hier nur von einer potentiellen Öffentlichkeit sprechen, die in ihrer Aktualität jedoch durch technisches Know-How und limitierte Zugänge beschränkt ist.

11 Social Media Bots sind Computerprogramme oder Algorithmen, die Accounts in sozialen Medien kontrollieren und auf diese Weise menschliches Sprechen und Handeln imitieren. In den Worten Samuel Woolleys und Philip Howards: „These bots are built to behave like real people (for example, automatically generating and responding to conversations online) and then let loose over social media sites in order to amplify or suppress particular political messages.” (Woolley/Howard 2019, S. 4)

12 Woolley und Howard definieren ‘computational propaganda’ in ihrem gleichnamigen Sammelband folgend: “As a communicative practice, computational propaganda describes the use of algorithms, automation, and human curation to purposefully manage and distribute misleading information over social media networks.” (Ebd.)

13 Aktuell limitieren beispielsweise die Regierungen der Länder China, Indien, Iran, Nord-Korea, Turkmenistan und Russland die Nutzung verschiedener sozialer Medien (vgl. https://time.com/6139988/countries-where-twitter-facebook-tiktok-banned/, [13.03.22]).