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Ausgabe 1, Band 12 – Dezember 2022

Das Kosmopolitische als „erscheinende Welt“ – über Pluralität und Weltbürgerlichkeit als Parameter der Weltoffenheit bei Hannah Arendt

Frauke A. Kurbacher

Was das Weltbürgerrecht betrifft, so übergebe ich es hier mit Stillschweigen; weil […] die Maximen desselben leicht anzugeben und zu würdigen sind.“

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden



Wenn man urteilt und wenn man in politischen Angelegenheiten handelt, so soll man sich an der Idee, nicht der Tatsächlichkeit des Weltbürger-Seins und damit auch des Weltbetrachter-Seins orientieren.“

Hannah Arendt, Das Urteilen

Freiheit und Verantwortung – Weltbürgertum und Migration: Eine Hypothese zum Auftakt

So wie Verantwortung und Freiheit je die Kehrseite einer janusköpfigen Medaille für die Moderne sind, scheint gleichfalls das Migrantische die andere Seite des Weltbürgerlichen zu sein. Denn beide Verhältnisse sind nicht ohne einander zu haben und nicht ohne einander gültig. Es handelt sich um keine fakultative Relation, die ein ‚oder‘ einschlösse, sondern um ein Bedingungsverhältnis, in dem Verantwortung wie Freiheit impliziert sind.

Welthaftigkeit im Dispositiv des Weltbürgerlichen respektive Kosmopolitischen – eine einleitende Vorbemerkung

In den Spätwerken Kants und Hannah Arendts entfaltet sich ein Panorama des Weltbürgerlichen, an das anzuschließen auch für gegenwärtige Diskurse – allzumal den der Migration – fruchtbar und vielversprechend sein könnte. Selbst Arendts allseits hervorgehobene „Welthaftigkeit“ erhellt sich von diesem Standpunkt aus noch einmal eigens. Inwiefern die Welthaftigkeit als die politische Apostrophierung des Weltbezugs erschlossen werden kann, zeigt sich in ihrem Rückgriff auf Kants Vorstellung von Weltbürgerlichkeit.

Entscheidend sind hierfür Kants Gedanken aus seiner späten Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf und natürlich seine in der Kritik der Urteilskraft dargelegte Ästhetik sowie Arendts eigene späte Schriften zu Kant und dem Denken, Wollen und Urteilen.1 Im Spätwerk ist Kant Arendt ein wichtiger und entscheidender Impulsgeber für die Gedanken zum Weltbürgerlichen und sie dem Weltphilosophen eine spannende Interpretin, die Eigenes am Weltverständnis aufschließt. Sie wird den kantischen Entwurf in ihren Vorlesungen zu seiner Ästhetik als einer politischen Theorie in ihren Überlegungen zum Kosmopolitismus aufgreifen.2 Und im Zusammenhang der von ihr – wenn auch sehr flüchtig – skizzierten ‚Phänomenologie des Erscheinens‘ sowie ihrer Explikation der geistigen Tätigkeiten in der Spätschrift Vom Leben des Geistes erhält das Weltbürgerliche noch einmal einen ganz eigenen ‚Dreh‘. Darauf sei im Folgenden geschaut.

Weltbürgerliches und Migrantisches als Existenzial und als ‚conditio humana‘ – eine grundlegende These

Das Weltbürgerliche aber ist hierbei nicht nur eine klassisch-humanistische bildungsphilosophische Idee, sondern wird – insbesondere von Kant – in einer Weise aufgezeigt, die, wenn wir uns alle unter dem gleichfalls von ihm für die Neuzeit und Moderne entwickelten Diktum der Menschenwürde begreifen wollen,3 als menschliche Bedingtheit, als conditio humana gegriffen werden muß. Wenn das so ist, gilt gleiches für das Migrantische. Doch es eröffnet voraussichtlich andere Perspektiven. Ganz so, wie unter dem Blick auf Verantwortung anderes zu Tage tritt, als von der Warte der Freiheit aus geschaut.

So reklamiert Kant das Weltbürgergesetz als universelles und seine Basis dafür ist die Kontingenz menschlicher Existenz – ganz konkret rekurriert er auf die Zufälligkeit des Geburts- und damit teilweise auch des Aufenthaltsortes sowie die Konstatierung eines nicht-possessiven Weltverhältnisses als unumgehbar für die – zumindest angestrebte – Garantie eines Weltfriedens.4 Das von ihm entworfene Weltbürger- als Besuchsrechts, das an die grundgegebene menschliche Mobilität anknüpft, war seit der Antike immer der Ausweis von Freiheit, die eben einen freien Bürger etwa von einem Sklaven unterschied. Im aufklärerischen Denken gilt diese Freiheit aber nunmehr – mindestens theoretisch – auf Grundlage der angenommenen Gleichheit aller Menschen nun grundsätzlich für alle, und an der Bewegungsfreiheit kann mithin stärker das interpersonale Moment und es selbst als Möglichkeit der Migration wahrgenommen werden. Kant reflektiert ausdrücklich darauf, sich durch das Weltbürgergesetz, das „Gesetz der Hospitalität“ anderen „zur Gesellschaft anzubieten“, denn dieses Gesetz für Kosmopoliten ist:

kein Gastrecht, worauf dieser [der Weltbürger] Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“.5

Dies ist nicht nur dem Philosophen aus dem 18. Jahrhundert ein zentrales Anliegen der Geselligkeit, des kritisch-vernünftigen Bedürfnisses und dem der geschätzten Mitteilbarkeit, sondern auch Arendt findet Gefallen an diesem Aspekt einer kommunikativen Öffentlichkeit und vor allem hat sie Interesse an diesem von grundauf interpersonalen Zuschnitt. Der zeigt sich gerade in prekärer Situation, die Kant im „Gesetz der Hospitalität“ als Aufnahmebedingungen festhält, die besagen, daß der oder die Andere nicht abgewiesen werden darf, wenn Schaden an Leib und Leben drohen, – die Friedfertigkeit aller Beteiligten vorausgesetzt.

Kant bezieht bis heute harsche Kritik wegen dieses weltbürgerlichen ‚bloßen‘ Besuchsrechts, das eben kein ‚Gastrecht‘ ist. Arendt schätzt es jedoch durchaus und wertet es anders, denn: „Wenn solch ein ursprünglicher Vertrag der Menschheit existiert, dann ist das ‚Besuchsrecht‘ eines der unveräußerlichen menschlichen Rechte“.6

Weltbetrachter und ‚Weltverwickelungen‘ – oder, was es bedeuten kann, die Welt zu teilen

Der Gedanke des Weltbürgerlichen und die mit ihm verbundenen aufklärerischen Ansprüche, die sich auch und gerade auf das eigene Selbst beziehen, sind so mitnichten nur ein wohlfeiler Zusatz aus Kants Alterswerk, sondern betreffen Menschen grundlegend in ihrer Existenz. Das ‚Bewohner dieser Welt sein‘ trifft auf alle ebenso zu, wie die qua Menschsein zugesprochene Menschenwürde. Doch ist Letztere durch unterschiedliche Aufnahmen der verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs bis in das Grundgesetz hinein derart kommun geworden, daß die Anstrengung und das Bemühen um eine – sozialphilosophisch gesprochen – ‚interpersonal‘ tragfähige Relation, die darin begründet liegt, kaum mehr bemerkt wird. Schon bei Kant appelliert der vernünftige Selbstanspruch daran, nicht nur an die eigene Person zu denken, sondern in der eigenen Person gleichsam alle, – kurzum: Menschheit auf der Welt – überall zu entdecken.7 Arendt sieht hierin wie im Ansatz des Kosmopolitischen bei Kant einigen Anhalt für ihren Gedanken der „Pluralität“, der mit dem Königsberger Philosophen weitergedacht die Annahme inhäriert, daß wir uns als Menschen auf der Welt auch als solche bewußt sind – als Weltbewohner, als Menschen, die die Welt konkret miteinander teilen – auch weil sie nicht unendlich ist und wir nicht von ihr fliehen können. Weltflucht, die Arendt ihr Werk hindurch als Problem – insbesondere als ein gravierendes der Verantwortung – beschäftigt, wird hier durch Kant ganz faktisch-praktisch in ihrer Unmöglichkeit aufgezeigt und entsprechend vernünftige Schlüsse daraus gezogen. Hinzu kommt, daß diese mit der Menschenwürde und dem kategorischen Imperativ bereits in Kants praktischer Philosophie vorfindliche Ausrichtung der eigenen Person auf potentiell alle Anderen,8 ein wichtiges Moment der Selbstrelativierung und Selbstbescheidung in einem Ansatz ist, der zugleich aufklärerisch die Position und Perspektive der je eigenen und einzelnen Person stärkt und auf ihr aufbaut. So findet Arendt – im Anschluß an Kant und zusätzlich angeregt durch Merleau-Ponty – im Inneren kein mit sich selbst beschäftigtes Selbst, sondern eine auf Interpersonalität angelegte Pluralität vor, für die bereits Kant in vielfältiger Weise mit dem Kosmopolitischen und der „erweiterten Denkungsart“9 Grundlagen geliefert hat. Im Denken selbst spiegeln sich die Strukturen dieser Weltoffenheit für Kant wie Arendt und letztere setzt noch hinzu, daß mit dem Fortfall von Maßstäben, der Erschütterung und den Abgründen dieser Strukturen die Tätigkeit der Urteilskraft allererst beginnt.

In der kantischen Skizze zum Weltbürgertum wird so Welt einmal als Begrenztes reflektiert, worunter der Philosoph, neben der rein räumlichen Begrenzung, die durch die „unwirtlichen“ Gegenden wie Meere und Wüsten noch verstärkt wird, auch ausdrücklich die Ressourcen faßt, und des Weiteren versteht er gleichzeitig den „gemeinschaftliche[n] Besitz[.] der Oberfläche der Erde“ darunter,10 womit er dezidiert alle Grenzen überschreitend über die Gesamtfläche ohne die willkürlich von Menschen gezogenen Limitierungen spricht.11

Das ‚Welt miteinander teilen‘ bezieht sich allerdings auf die guten wie schlechten Seiten dieses Weltendasein und insbesondere auch auf die Bedingungen und Umstände, in die wir uns durch unser eigenes Handeln setzen. Und genau dann, wenn hier etwas problematisch verläuft, wird letztlich verbindende Gemeinschaft in ihrer Verbindlichkeit benötigt. Insofern ließe sich das kosmopolitische Denken immer auch als Appell und Erinnerung an die gegebene Interpersonalität und Pluralität verstehen.12

Gerade im Spätwerk Arendts wird so durch den Blick auf das Weltbürgerliche der Weltbegriff als ein zunächst vornehmlich, aber letztlich nicht nur zwischenmenschlich verstandener, mit einem kosmopolitischen Potenzial angereichert. Inwiefern wird hier noch weiter zu untersuchen sein. Nicht terminologisch, aber von der Sache her wird die Mitwelt in ihrer Verzahnung mit der Umwelt deutlich und mündet in einen Gedanken von Mitsein,13 der nun aber vielmehr beides umfaßt, das Zwischenmenschliche, wie auch alle Beziehungen und Verhältnisse, die sich nicht allein auf Menschen beziehen und gerade darum den Gedanken des Involviertseins so apostrophiert, weil wir eben immer auch Teil all dieser Weltverhältnisse sind und keine Unbeteiligten am Rande oder gar bloß passierende Touristen auf diesem Planeten.14

Der Weltbegriff der Vita activa zeigt sich als ein interpersonal geprägter, der Arendts zentralem Gedanken der Pluralität unterliegt und sich damit auch einer besonderen Prominenz in der Rezeption erfreut.15 Welt wird also weniger vorfindlich verstanden als vielmehr sich je und je neu im Interagieren zwischen Personen generierend. Damit ist sie von grundauf interpersonal angelegt, wofür vor allem das Sprechen, Handeln, Urteilen mitsamt den Perspektiven des Versprechens und Verzeihens einen weiten anthropologisch gegründeten Horizont des Politischen eröffnen. Während hier also Welt vor allem als interpersonales Konzept vorgestellt wird, gewinnt im Spätwerk der Weltbegriff vor der Folie von Arendts eigener „Phänomenologie des Erscheinens“ andere Konturen.

War mit dem Weltbegriff zuvor vor allem die ‚Mitwelt‘ im Verständnis eines von Menschen gewirkten Beziehungsfeldes fokussiert, das das Interpersonale und das „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“ betont,16 tritt nun mit dem Akzent auf das ‚Erscheinen‘ ausdrücklich die Umwelt und damit auch das nicht von Menschen Gewirkte für einen Weltbegriff hinzu. Denn das Erscheinen umgreift alles.

In dieser Welt, in die wir aus dem Nirgends eintreten und aus der wieder ins Nirgends verschwinden, ist Sein und Erscheinen dasselbe.“ Dies mutet im hier gegebenen Zusammenhang wie eine Epiphanie des Kosmopolitischen an. Denn daraus erhellt sich für Arendt wiederum Folgendes:

Die tote Materie, sei sie natürlich oder künstlich, veränderlich oder unveränderlich, ist zu ihrem Sein, also ihrer Erscheinungshaftigkeit, auf die Existenz lebender Wesen angewiesen. Es gibt in dieser Welt nichts und niemanden, dessen bloßes Sein nicht einen Zuschauer voraussetzte. Mit anderen Worten, kein Seiendes, sofern es erscheint, existiert für sich allein; jedes Seiende soll von jemandem wahrgenommen werden. Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“17

Das, was von Arendt hier eher axiomatisch – und philosophisch durchaus kritisch hinterfragbar – gesetzt wird, mündet nun in einen Schluß, der die „Mehrzahl“ hervorhebt und der bekannter ist als die Überlegungen zur „Erscheinungshaftigkeit“ alles Seienden. Dieses Erscheinen näher betrachtet, mit dem nach Arendt gleichfalls gesetzt ist, daß es ein Sehen und Gesehen-Werden impliziert,18 scheint erst einmal ganz parmenideisch umfassend, auf alles, was ist, ausgerichtet – auf ein Sein und ein Wahrnehmen dieses Seins, was immer es auch ist oder bezeichnet. Aber anders als die pure Existenzbekundung in ihrer Mannigfaltigkeit des berühmten ‚parmenideischen Stammelns‘: ‚Es ist, es ist, es ist …‘ , wird an Arendts Erscheinen ein aktives und passives Moment deutlich: Mit dem ‚Sehen und Gesehen-Werden‘, – womit nicht nur das Interpersonale strukturell verbürgt wird – , ist allem auf der Welt Befindlichem nicht nur ein passives, sondern auch ein aktives Moment zugesprochen. Mit dieser Auffassung bewegt sich Arendt in der Nähe des phänomenologischen Weltbegriffs eines Merleau-Ponty,19 der gerade auch ihr spätes Schaffen in ihrem konstruktiven Versuch eines philosophischen Neuansatzes befruchtet. Darin ist Welt einmal als grundlegende Matrix angelegt und gleichsam im Weltgeschehen als wechselseitiges Verhältnis gedacht. Im Zusammenhang Vom Leben des Geistes wehrt Arendt auf diese Weise zunächst eine „Zwei-Welten-Theorie“ ab.20 Es gibt für sie keine Welt hinter der Welt.21 Neben der Breitseite, die sie damit erneut gegen die philosophische Tradition – oder zumindest eine ihrer prägenden Linien landet,22 läßt sich dieser Ansatz – aus ethischem Blickwinkel betrachtet – auch in dem Bestreben verstehen, schon im Vorfeld eine Anlage abzuwehren, die Möglichkeiten bietet, sich von der Welt abzukehren, statt dieselbe als notwendige inter- und transpersonale Grundlage anzukennen. Die ethischen Perspektiven, die sich daraus entwickeln lassen, sind jedenfalls entscheidende, die je geeignet sind, Verantwortung von grundauf zu perspektivieren, – nämlich im Hier und Jetzt greifend – und ohne Vertröstung auf eine spätere, jenseitige Welt.23

Auch Kant reklamiert auf überraschende Weise Gegebenheiten, Realitäten, Wirklichkeiten in seinen einschlägigen Passagen zum Weltbürgergesetz – wie die „unbewohnbaren“ Teile der Erde, die Kontingenz des Aufenthaltsortes oder die unerträglichen Verfehlungen des Kolonialismus – ,24 die ebenso überraschend gerade mit seinem dort offerierten Blick auf die Welt in ihrer Grundsätzlichkeit wie Existentialität, ungeheure Modernität und Aktualität aufweisen.

Im Denken eines Kosmopolitismus‘ im Kontext der Notwendigkeit eines Weltfriedens und für denselben, reflektiert Kant einerseits auf die Faktizität einer kontingenten menschlichen Existenz in einer gleichfalls faktisch endlichen und begrenzten Welt und andererseits auf den dafür erforderlichen pfleglichen Umgang: freundlich und gerecht im Miteinander sowie schonend und gerade nicht ausbeutend gegenüber dem, was Welt an Schätzen und Ressourcen zu bieten hat.

Kants Überlegungen zum gemeinschaftlichen Besitz der Erde, die der „Menschengattung gemeinschaftlich zukommt“,25 wobei er auf ein ausdrücklich nicht possessives Verhältnis abhebt, wenn er die soziale Dimension – wie oben benannt – anspricht, veranlassen Arendt zu einer ihrer bekanntesten Überlegungen. In Zitation der genannten Textstelle von Kant kommt sie zu dem Schluß: „Man urteilt immer als Mitglied einer Gemeinschaft“, und zwar – wie sie weiter ausführt: „geleitet von seinem gemeinschaftlichen Sinn, seinem sensus communis. Doch letztendlich ist man Mitglied einer Weltgemeinschaft durch die einfache Tatsache, ein Mensch zu sein“ – und sie folgert: „das ist unsere ‚weltbürgerliche Existenz‘. Und hier erfährt dann dieser Umstand die Erweiterung und Präzisierung, die diesem Text das zweite Motto liefert:

Wenn man urteilt und wenn man in politischen Angelegenheiten handelt, so soll man sich an der Idee, nicht der Tatsächlichkeit des Weltbürger-Seins und damit auch des Weltbetrachter-Seins orientieren“.26

So läßt sich nicht nur in der eigenen Person die Menschheit entdecken, sondern letztlich muß sich auch jeder und jede Gemeinschaft ihrer Weltbürgerlichkeit und der damit einhergehenden Freiheit wie Verantwortung bewußt sein und werden. Von möglichen faktischen Widrigkeiten läßt sich dabei schon Kant nicht irritieren, wenn er zu bedenken gibt, daß ein möglicher

Mißbrauch […] aber das Recht des Erdbürgers nicht aufheben [kann], die Gemeinschaft mit allen zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks […] ist, als zu welchem ein besonderer Vertrag erfordert wird.“27

Arendts nun geweiteter Blick auf Welt im Spätwerk läßt gleichfalls weitere – gerade auch ethische Dimensionen aufscheinen, wenn Welt über den Menschen hinausgehend als passiv und aktiv erscheinend wahrgenommen wird.

An das aktive Moment siedeln sich dann zudem Gedanken der Inszenierung, des Zuschauers respektive „Weltbetrachters“28 an – lauter Momente, die sich im auch von Arendt bedienten Topos des theatrum mundi, der Weltbühne, wiederfinden lassen. Diese Welt durch den im Spätwerk geworfenen Blick nicht nur als von Menschen gemachte und gewirkte zu verstehen, sondern auch in ihrer Eigenständigkeit und der Eigenständigkeit all dessen, was erscheint, wahrnimmt und wahrgenommen wird, – damit auch in seinem je eigenen Recht zu begreifen, darin liegt vielleicht ein besonderes Verdienst, vor allem aber ein wichtiges Potenzial eines wirklich umfassenden Weltbegriffs.29 Es ist vermutlich genau so ein holistischer Weltbegriff, den wir gegenwärtig für diverse Problemlagen benötigen – auch für unsere Verantwortlichkeiten und politischen Entscheidungen.

Und es ist ein Gedanke und ein ganzer Ansatz, der uns dezidiert in die Verantwortung nimmt. Er lenkt den Blick ausdrücklich auf alles in seiner Latenz und Potenz des Erscheinens. – Die betrifft uns, aber nicht nur, denn in der Wechselseitigkeit, dem Gedanken des Austausches, der diesem Weltbegriff zugrunde liegt, gehört diese Welt eben auch zum „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“ und der pflegliche, auskömmliche und friedfertige Umgang mit ihr in unsere Verantwortung.30

Als Weltbürger gewinnen wir einen anderen Radius von Verantwortung, dessen Generalanfrage lauten mag: Was macht mein Umgang mit etwas und jemandem auf der Welt mit der Welt? So wie in Kants kategorischem Imperativ eine Person in Gewahrwerdung ihrer Person, auf die gesamte Menschheit reflektieren kann,31 so gilt mit Arendt gedacht ein möglicher Imperativ Weltbürgern in ihrer eigenen Haltung zur Welt als kritische Anfrage hinsichtlich ihrer Welthaftigkeit. – Taugt das eigene Verhalten in der Welt und für dieselbe?

Erscheinende“ Welt – Arendts ‚Phänomenologie des Erscheinens‘: Vielfalt und Offenheit als Konstitutiva der Pluralität

Arendt, die die philosophische Tradition so kritisch wie produktiv auf ihre Aus- und auch Unterlassungen hin untersucht, fällt selbst mit einer Aussparung merklich auf: In ihrem Werk legt sie keine Philosophie des Subjekts vor. Stattdessen aber findet sich bei ihr eine ‚Phänomenologie des Erscheinens‘,32 die noch weitgehend im Dunkeln liegt – und auch im hier gegebenen Rahmen nur ansatzweise untersucht und dargelegt werden kann, sowie der mittlerweile weithin geläufigere Gedanke einer Pluralität,33 den sie einführt und prägt. Während sich letzterer bereits im mittleren und letztlich auch schon im frühen Werk gestaltend zeigt, wartet die politisch-philosophische Denkerin mit ersterem erst im Spätwerk auf. Beide Gedanken weisen eher auf ein Verständnis von Person und darüber hinaus, es ist also vielmehr das Personale und Interpersonale, das in Arendts Ausführungen ansichtig wird und immer Momente der Wortherkunft, eines personare, eines ‚Durchtönens‘ mit sich führt – und ebenso Anklänge von ‚Inszenierung‘ und Inszeniertheit als einer Spielart des Erscheinens – , die allesamt auf Andere, Gemeinschaft, als auch auf Differenz hinweisen. Fast noch prominenter mutet jedoch noch der Weltbegriff selbst in ihrem Werk an.

Auf die Frage, welcher Weltbegriff dabei dem Gedanken des Weltbürgertums eigentlich unterliegt, läßt sich konstatieren, daß es eine unterschiedliche Gewichtung, vielleicht sogar Auffassung des Weltbegriffs im mittleren und späteren Werk bei Arendt gibt, die für eine vertiefende Reflexion über das Weltbürgerliche überhaupt spannend, aussagekräftig und weiterführend sein kann.

Da die Frage, warum Arendt keine Theorie des Subjekts liefert, einer eigenen Untersuchung bedürfte, sei hier nur auf zwei wichtige philosophische Aspekte verwiesen, denen sie durch diese Entscheidung offenbar nicht folgt und die zugleich ein Licht auf die weltbürgerliche, kosmopolitische Grundierung des Interpersonalen bei ihr werfen. Da sind zum einen die auf den lateinischen Wortstamm von ‚Subjekt‘ zurückführenden Elemente eines ‚Unterliegens‘, die z.B. für Michel Foucaults Überlegungen (insbesondere zur Macht) maßgeblich werden, die Arendt aber offenkundig nicht bedienen möchte und zum anderen betrifft es selbst noch Voraussetzungen einer Philosophie der Intersubjektivität, für die in ihren Anfangsgründen Jean-Paul Sartre durchaus als Meilenstein gelten kann und deren Problematiken gleichsam exemplarisch für eine Intersubjektivtätstheorie genommen werden können. Sie beruhen letztlich auf einer Subjekt-Objekt-Spaltung: – der berühmten „Nichtung“ des Anderen als Subjekt und seiner Degradierung zum Objekt (im eigenen Auge) in seiner nicht minder berühmten ‚Philosophie des Blicks‘.34 Diese Spaltung greift bis in die subjektive Binnenrelation und beherrscht das Innersubjektive. Bei Arendt finden sich hingegen statt eines solchen (ver-)nichtenden Kampfes im eigenen Innern verschiedene Formen der Selbstauseinandersetzung, die an Formen des konkreten Miteinanders orientiert sind – wie: Freundschaft, Zwist, Gespräch u.a. – und die die geistigen Tätigkeiten im Spätwerk auf ihre besondere Beziehungsqualität hin befragen, in welcher Differenz und Erfahrungsqualität sie für das Selbstverhältnis vorliegen und welchen konkreten Bezug zu Anderen sie postulieren oder überhaupt denkbar werden lassen.35 Die Grundlage sowohl für diesen Gedanken als auch den ganzen Ansatz als solchen bildet demnach weder Subjektivität noch Intersubjektivität, sondern vielmehr Interpersonalität, die am faktischen Erleben und Erfahren orientiert ist und sich dort auch immer wieder realisiert.36

Noch davor jedoch greift eine andere Setzung Arendts als grundlegend: „In dieser Welt, in die wir aus dem Nirgends eintreten und aus der wieder ins Nirgends verschwinden, ist Sein und Erscheinen dasselbe“.37 Aus diesem ontisch-ontologischen Axiom folgt für sie Weiteres, was hoffen läßt und zugleich einen Anspruch impliziert:

Von der Welt her gesehen, ist jedes Wesen, das in sie hineingeboren wird, von Anfang an wohlgerüstet für eine Welt, in der Sein und Erscheinen dasselbe ist; es ist für eine welthafte Existenz gerüstet.“38

Wenn der Gedanke der Entsprechung von Sein und Erscheinen hier auch im Zuge der Erläuterungen zur „Welt als Erscheinung“ exponiert wird, nimmt er doch starke Anleihen von der Selbstverständlichkeit eines aristotelischen Gestus, der in der Nikomachischen Ethik durchgehend unproblematisch ‚auf etwas oder wie es erscheint‘ verweist.39

Im Rahmen einer arendtschen ‚Phänomenologie des Erscheinens‘ wird hier in Bezug auf das Weltbürgerliche als Welthaftes die „erscheinende Welt“ als sinnlich wahrnehmbare Welt konstitutiv, in der Menschen selbst als Sehende und Gesehene erscheinen. Damit wird sie, die „erscheinende Welt“, zugleich phänomenologische Voraussetzung des Politischen, das sich ebenso in einer geteilten, partizipativen Welt entäußert. Diese erscheinende Welt ist als Größe jener Raum – und diese Perspektive eröffnet insbesondere der kosmopolitische Blickwinkel – , der mit allem auf der Welt geteilt wird, in dem wir auf einander Bezug nehmen können und in dem je ein spezifisches ‚Selbstverhältnis und Weltbezug‘ impliziert sind. Seine Offenheit ist ebenso konstitutiv gegeben wie seine Vielfalt. Die Kurzformel dafür würde dann entsprechend wie folgt lauten:

Die „erscheinende Welt“40 ist die phänomenologische Voraussetzung des Politischen und entäußert sich in einer partizipativen Welt, der Vielfalt und Offenheit konstitutiv sind.

Das Kosmopolitische als Raum des gemeinsamen Erscheinens setzt nun den Akzent auf die positive Auszeichnung der Welthaftigkeit und deutet zugleich auf die jeweilige konkrete Bedingtheit, in der sich alles Menschliche nur zu realisieren vermag. Doch gleichzeitig steht es schon bei Kant in einer Problematik, die Arendt besonders bearbeitet und als antinomische Struktur entdeckt. Doch zunächst sei auf den Fall des ‚Vor sich selbst Erscheinens‘ geschaut, weil er in besonderer Weise Verantwortung verbürgt.

Einübungen in Verantwortlichkeit: Vor sich selbst erscheinen

Das Erscheinen auf der Welt, vor Anderen und sich selbst geschieht auf vielfältige Weise. Arendt arbeitet dabei eine je spezifische Differenz der Selbst- und Weltbezüge in den geistigen Tätigkeiten heraus, die die Person in Pluralität beleuchtet und sie vermittelt und gleichsam ihren Ansatz zur Interpersonalität untermauert. Deutlich wird dies wiederum im Erscheinen und es ist das ‚Vor sich selbst erscheinen‘, das insbesondere den Gedanken von Verantwortung erhellt.

Auch vor uns selbst müssen wir also nach Hannah Arendt erscheinen. Dies spielt zugleich auf die öffentliche und plurale Seite im Selbst selbst an, ihre strikt interpersonal gedachte und gleichfalls interpersonal abgesicherte Struktur. Aber für das Erscheinen bedarf es auch je des Muts – und dieser Umstand verknüpft den Gedanken sowohl mit dem Willen – oder besser mit dem eigenen Wollen – und mit einem Grundgedanken der Aufklärung, der hier in Abwandlung der einschlägigen Passage, die für Kant wie Arendt konstitutiv ist, vielleicht wie folgt gefaßt werden kann: ‚Habe den Mut, Dich deines eigenen – weltbürgerlichen und urteilsfähigen – Potentials zu bedienen‘ und in und vor der Welt und dir selbst zu erscheinen‘. Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, daß die ästhetische Gegründetheit des Urteilens – bei Kant wie Arendt – gerade jenen Freiraum freischlägt, der den politischen Diskurs, die Auseinandersetzung mit dem und den Anderen je fordert, weil er bei allen gegebenen Abhängigkeiten, aller Bedingtheit und Normierung eben letztlich nicht völlig vorherbestimmt, festgelegt oder normiert ist,41 wiewohl natürlich die Bedingungen, unter die wir uns selbst setzen, als auch die, die unsere Kultur, historische Gewordenheit, Bedingtheit und menschliche Gegebenheit mitbringen, je und je mit hineinwirken. Der Ausgang des Gedankens des Weltbürgerlichen ist Freiheit, gerade darum reklamiert Arendt auch so vehement den ideellen Aspekt vor den Faktizitäten – wie im zweiten Motto dieses Textes sichtbar – ein. Das Weltbürgerliche baut konstitutiv und ganz aufklärerisch auf Möglichkeiten der Emanzipation auf.

Vom Erscheinen, das uns mit allem, was ist, verbindet – Lebendiges bis hin zu Anorganischem – , wird gleichsam der Blick auf einen vielfältigeren Zusammenhang und ein mögliches Bezugssystem – oder wie Arendt es mit Simone Weil sagt: „Bezugsgewebe“ frei: die Weltbühne ist eröffnet. Und für das Lebendige – Arendt nennt „tote Materie“ und „lebendige Wesen“ und für derzeitige Anliegen könnten akut Menschen, Tiere und Pflanzen benannt werden – kommt ein ihr wesentlicher Aspekt hinzu, der sich für Menschen letztlich aus der menschlichen Reflexivität begründet, nämlich der der Inszenierung.42 Diese ‚Selbstdarstellung‘ gründet in der Doppelheit von ‚Wahrnehmen‘ und ‚Wahrgenommen werden‘, ‚sehen‘ und ‚gesehen werden‘ und der anhängenden Sozialität, die Arendt sogleich – ähnlich Paul Ricœur – als Anerkennen und Wiedererkennen mitdenkt.43 Damit ist zugleich auch das Rund, die Tribüne der Zuschauer eröffnet. Es ist eine bei Arendt vieldeutige Vorstellung, die einerseits auf den konstitutiven Zusammenhang zum Ästhetischen, insbesondere dem ästhetisch-reflexiv gegründeten Urteilen verweist,44 andererseits hier aber auch auf den Aspekt grundlegenden Involviertseins. Es ist ein ‚Mitmach-Theater‘ sozusagen, das im Rahmen der ‚Phänomenologie des Erscheinens‘ aus allen Protagonisten des Lebendigen zugleich auch potentielle Zuschauer werden läßt, die mitnichten passiv, sondern als Sehende und Urteilende konstitutiv für das Geschehen sind. Das „Weltspektakel“ gäbe es nicht ohne sie.45 Der Doppelcharakter des ‚Sehens und Gesehen-Werdens‘ verbürgt Wirklichkeit und Pluralität auf basale Weise in der aisthetischen, sinnlichen Gegebenheit von Welt und wird von Arendt im Spätwerk eigens ausgeführt, weil zu klären ist, inwiefern die geistigen Tätigkeiten als zentraler Dreh- und Angelpunkt desselben, die für sich erst einmal unsichtbar sind, ihren Anteil daran haben, bzw. wie sie in dieser Vorstellung verortet sind.46 Daß Arendt damit zunächst einmal die ‚Zwei-Welten-Theorie‘ hinfällig sein läßt, sie auf den Kopf und sich selbst auf eine dezidiert andere Position als weite Teile der Tradition stellt, für die ihr ausdrücklich Maurice Merleau-Ponty – und nicht benannt, aber mutmaßlich Martin Buber, Paten sind, sei in diesem Kontext nur am Rande bemerkt.

Damit wird aber das ‚Sich auch selbst erscheinen müssen‘, das ‚Vor sich selbst erscheinen‘, Indiz für eine Reflexivität, die gerade keine unmittelbare Identität verheißt und für Arendt vielmehr Indiz für die interpersonale Anlage von Menschen vor dem Hintergrund bedeutet, daß die „Mehrzahl das Gesetz der Erde“ ist.47

Diese auf die Pluralität bezogene „Mehrzahl“ muß nun vor dem Hintergrund der erscheinenden Welt eben nicht nur interpersonal ausgerichtet gedacht werden, sondern gewinnt kosmopolitische Dimensionen, weil mit dem Phänomen des Erscheinens auch die Mannigfaltigkeit der erscheinenden, erleb- und erfahrbaren Welt als Radius mit einbezogen wird. Als politische Dimension ist und bleibt dies natürlich auf Menschen bezogen, d.h. der Verantwortungsbereich wird hier dezidiert auf Welt in ihren vielfältigen Zusammenhängen erweitert. Und Verantwortung selbst zeigt sich bereits im Selbstumgang, für den die geistigen Tätigkeiten differenzierte Möglichkeiten bereit halten.

Die geistigen Tätigkeiten bieten als geistige Erfahrungen je unterschiedlich Gelegenheit zu solch einem ‚Vor sich selbst erscheinen‘, bzw. bezeichnen ein Selbst-Verhältnis, in dem wir je anders erscheinen: im Denken ist es das ‚Zwei-in-einem‘, das ideale freundschaftliche Verhältnis, das die Möglichkeit zum kritischen, angeregten Austausch gibt; im Wollen ist es der Zwist mit sich selbst, die Uneinigkeit mit sich selbst, die dennoch beredtes Zeugnis von der eigenen Individualität in Form des eigenen Wollens gibt und im Urteilen – so die Mutmaßung – könnte es der plurale dauerhafte Disput sein. – Alle drei geistigen Tätigkeiten zeigen uns gerade in ihrer inneren Differenz gut ausgerüstet für eine Welt, der wir „zugeeignet“ sind. Arendt knüpft hier in bemerkenswerter Weise, wenn auch ohne den Begriff des Subjekts, an Merleau-Ponty an, der bereits auf den ersten Seiten seines chef d’œuvre kundtut:

[...] vielmehr es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt (est au monde), er kennt sich allein in der Welt. Gehe ich alle Dogmen des gemeinen Verstandes wie auch der Wissenschaft hinter mir lassend, zurück auf mich selbst, so ist, was ich finde, nicht eine Heimstätte innerer Wahrheit, sondern ein Subjekt, zugeeignet der Welt.“48

Arendt greift diesen Gedanken als Bestätigung für ihren Ansatz als einer in „Pluralität“ gegründeten Interpersonalität auf – eingedenk ihrer „Phänomenologie des Erscheinens“ und gegen eine cartesianisch geprägte philosophische Tradition, die gerade auf die sinnliche Erscheinung verzichtet:

Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unserer selbst; und wenn auch die vollentwickelte Intimität des privaten Innenlebens, die wir der Neuzeit und dem Niedergang des Öffentlichen zu danken haben, die Skala subjektiven Fühlens und privaten Empfindens aufs höchste gesteigert und bereichert hat, so konnte doch diese Intensivierung naturgemäß nur auf Kosten des Vertrauens in die Wirklichkeit der Welt und der in ihr erscheinenden Menschen zustande kommen.“49

Was bedeutet dies aber im übergreifenden kosmopolitischen Diskurs? Arendt zeigt das Selbst vielfältig aufgefächert in unterschiedlichen Modi und Haltungen, und nimmt damit doch etwas ins Innere, – die von ihr durchaus häufig kritisch bis skeptisch betrachtete Innerlichkeit – , um offenbar auszuweisen, daß darin, im eigenen Innern, im eigenen Selbst, jedoch auch alles auf die weltlichen Belange abgestimmt, eingestellt und dafür ausgestattet ist. Der Weg, den die aristotelische Freundschaftslehre vorzeichnet, in der der Freund wie ein Anderer meines Selbst ist und in der eine Selbstreflexivität als Kenntnis (und nicht Erkenntnis!) von sich über den Weg des Gegenübers gesucht und vorstellt wird, gibt auch Arendt ein anschlußfähiges Modell. Sie nimmt es durchaus wie Vertreter der Selbstreflexions- und auch Existenzphilosophie ins subjektive Innere, um es von dort aber als immer schon mindestens Gedoppeltes und latent Plurales aufzuzeigen. Wir sind uns selbst nicht unmittelbar, sondern treten uns selbst in Weisen entgegen, die wiederum durch Welt und unsere Erfahrungen in ihr geprägt und vermittelt sind: Gespräch, Dialog, Widerstreit, Zwist, Konflikt, Disput, Diskurs, Zwiesprache, Debatte … . – Jede geistige Tätigkeit, kann angenommen werden, hat ihre je eigene Hermeneutik. Es sind Spiegelungen des Pluralen sozusagen, des Interpersonalen wie Intermundanen.

Für Arendt gehört es offenbar – wie es an der Explikation der im wahrsten Sinne des Wortes „Gedankenlosigkeit“ als „Banalität des Bösen“ greifbar wird – zur Humanität unseres Menschseins in selbstverantwortlicher Weise diese Verbindung, diese Beziehungen und (Selbst-) Auseinandersetzungen einzugehen, in dieser Weise Erfahrungen mit sich selbst zu machen, zu sammeln, sich selbst vertraut zu werden. Ansonsten scheinen wir einen verantwortlichen eigenen Anteil an der eigenen Entmenschlichung mindestens mitzutragen. Auch wenn hier an einigen Stellen Vorläufer hervor- oder hindurchschimmern wie die schon benannte aristotelische Freundschaftslehre, das bedeutungsvolle „Gespräch“ bei Heidegger oder auch der „Dialog“ oder die „Zwiesprache“, wie sie zuvor von Buber angesetzt wurde, der gleichfalls einen Entwurf vorstellt, der das Selbst in u.U. noch elementarer, vielleicht sogar radikalerer Weise auf das Andere seiner selbst verwiesen zeigt,50 stellt Arendts Ansatz gleichwohl einen ganz eigenen und auch eigenwilligen dar. Die Bühne der Welt ist mit dem Erscheinen vor sich selbst als einer Grundbedingung allen Existierens als einem Erscheinen vor der Welt, vor Menschen, auch vor sich selbst, bereits im Innern eines jeden selbst angelegt und in den dort beschriebenen Bahnen und Radien sogleich der Horizont eines je und je weltbürgerlichen Selbst gezogen und eröffnet – und damit die Linie skizziert, in der wir uns möglichst entwickeln könnten und in einem weltbürgerlichen Sinne wohl auch entwickeln sollten. Aufreißen müssen wir diesen Horizont freilich schon selbst. – Aber mit Arendt kann beruhigend darauf verwiesen werden, daß wir darauf ausgerichtet und mit jeder Selbstauseinandersetzung auch gut vorbereitet sind. Ein Zuckerschlecken ist es dennoch nicht.

Nach Kant sind jegliches menschliches Fortkommen und Entwicklungen in Zivilisierung, Humanität und Bildung ohne Frieden schlichtweg nicht möglich und die erforderliche Befriedung der Welt soll mit dem Gedanken des Kosmopolitischen näher rücken, womit er sich ausdrücklich gegen eine Kultur des Krieges und des Mißtrauens positioniert.

Gehört auch der Gedanke des Weltbürgerlichen – zusammen mit dem „Gesetz der Hospitalität“, das Kant eigens dafür entwirft, mit der Zielgrade einer weltweit greifenden, gemeinsamen Anstrengung zur Sicherung und Bewahrung eines Weltfriedens, zu einer Kultur des Vertrauens, so wird die Dringlichkeit der Beherzigung und steten Umsetzung einer solchen friedfertigen weltbürgerlichen Kultur doch immer gerade an ihrer fehlenden Verwirklichung und ihrem Scheitern spürbar. So ist die ihr unterliegende Aussage einer ‚geteilten Welt‘ Faktum wie Anspruch, doch dieses Faktum wird uns zumeist erst anhand der global ausgreifenden Probleme und Problematiken deutlich. Wenn Kant erhofft, mit seinem Entwurf dazu beizutragen, daß eine Rechtsverletzung auf der Welt, gleichsam potentiell überall auf der Welt empathisch mitgefühlt wird,51 hat dies noch immer einen ausbaufähigen und latent utopischen Charakter, obwohl ein Mißstand in der vielfältig vernetzten Welt für uns merklich mehr oder minder unmittelbare Auswirkungen an anderen Stellen hat – wie es der gegenwärtige Krieg in Europa, der Angriffskrieg Rußlands gegen die Ukraine, leidvoll bestätigt. Doch gerade der Negativbefund ändert letztlich nichts an der Gültigkeit des vernünftigen weltbürgerlichen Selbstanspruchs, den Kant unter Weltbürgerlichkeit reflektiert. Das gegenseitige Einvernehmen in einer geteilten Welt muß Menschenwürde und Menschenrechtsvorstellungen entsprechen, sonst läßt sich kein Weltfrieden finden, und wie dabei all das, was nicht-menschlich ist, zu seinem Recht und Schutz kommt, ist noch ein weiteres unserer gegenwärtig drängenden Probleme.52 Der weltbürgerliche Auftrag geht eindeutig über das Menschliche hinaus – und bleibt doch immer menschliche Verantwortung.

Sind die philosophischen Vorläufer die eine Spur, vor deren Folie diese Eigenheit von Arendts Ansatz ebenso eigen noch einmal hervortritt, so ist die andere philosophisch-politische Spur nicht minder aufschlußreich, weittragend und vielversprechend. – Wenn das Unterlassen, das ‚Nicht-leben‘ dieser menschlichen geistigen Möglichkeiten und Vermögen, die für Arendt ja nicht ohne Grund „Tätigkeiten“ sind, einer verantwortungslosen Unterlassung gleichkommt, dann ist damit vermutlich auch etwas, mutmaßlich sogar sehr viel, nicht nur über persönliche Verantwortung im arendtschen Sinne ausgesagt, sondern auch ein Wink darauf gegeben, wie Verbrechen und Schäden vorzustellen sind, die totalitäre Regime an ihren Bürgern und Bürgerinnen begehen und bei ihnen hinterlassen. Sich z.B. ohne Reisefreiheit faktisch als Weltbürger und Weltbürgerinnen gar nicht erfahren zu können, Fremdheitserfahrungen in bestimmten Weisen gar nicht erleben zu können, wäre in diesem Kontext z.B. eine nicht unerhebliche Folge.53

Das heißt, hier wäre dringend – auch aus aktuellen, gegebenen Anlässen – , mit und gegebenenfalls auch über Arendt hinaus weiterzuforschen, worin genau diese Verbrechen totalitärer Herrschaft an ihren ‚Untertanen‘ bestehen. Offenkundig kann als zentrales Problem die Insinuierung in Verantwortungslosigkeit und damit auch in Unmenschlichkeit benannt werden, denn nicht zuletzt gibt Hans Jonas, der Studienfreund Arendts, zurecht zu bedenken, daß Verantwortung den Menschen möglich ist und indem jeder Einzelne sie hat, ist er es auch: verantwortlich.54 Der fehlenden äußeren Freiheit – sei es als Bewegungs- oder Meinungsfreiheit – korrespondiert im totalitären Staat so eben scheinbar auch ein Moment innerer ‚Unfreiheit‘, dessen Folgen nicht minder verheerend sein dürften. – So wie der fehlenden Meinungs- und Äußerungsfreiheit dann letztlich auch ein Denkverbot entspricht, das durch fehlende Freiräume, Sanktionen, Restriktionen, überbordende Arbeit – oder Ausschluß von derselben, Unter- oder Überlastungen u.v.m. erwirkt wird, um Möglichkeiten der kritischen Reflexion, kreativer Gestaltungen des sozialen und kulturellen Lebens zu unterbinden. Letztlich sind zwar bekanntlich die „Gedanken frei“ und lassen sich nicht einzurren, doch die Wege ihrer Beförderung lassen sich gleichwohl merklich und problematisch eindämmen.55

Das Weltbürgerangebot ist eben gerade kein Weltherrschaftsdenken, sondern ein Modell, eine Verheißung friedlicher Koexistenz im Gewahrsein der durchgängigen Freiheit und Fragilität, menschlicher Verletzlichkeit wie der der Welt überhaupt in all ihren Beziehungen.56

Antinomie des Weltbürgerlichen‘ – oder die Verletzlichkeit all dessen, was ist: ein Ausblick

In der Rückführung von allem, was ist, auf das Erscheinen, ist ebenso der Weltbegriff grundlegend auf das Mannigfaltige der Erfahrung bezogen und ihm sind Pluralität wie Vielfalt konstitutiv. Dies gilt auch für das Weltbürgerliche. In derselben Pluralität und Vielfalt liegt jedoch auch die besondere Verletzlichkeit des Kosmopolitischen begründet,57 zu der sich noch eine weitere, ganz praktische Fragilität gesellt.

Wie die Menschenrechte scheint auch das Weltbürgerliche durch eine Antinomie gekennzeichnet.58 Fehlt den Menschenrechten letztlich der Bezugsrahmen, um ihre Einlösung im Zweifelsfall zu garantieren, fehlt auch der fragilen weltbürgerlichen Existenz eine unumstößliche Instanz zur konkreten Einforderung des Weltbürgergesetzes. In dieser Fragilität sind die Weltbürger auf sich zurückgeworfen und doch steckt in der ‚Antinomie der Weltbürgerlichkeit‘ eine emanzipatorische Chance. Es ist das Moment der Anerkenntnis dieser Fragilität, in dem sich das Weltbürgerliche als Menschliches zur Menschlichkeit zu befreien vermag. In Gewahrwerdung der allen gegebenen Verletzlichkeit kann ein existentieller, gegebener Zusammenhang, den wir allesamt miteinander teilen, die wir auf und in der Welt erscheinen, sichtbar und bewußt werden und könnte als mögliche Grundlage unseres Zusammenseins auf der Welt andere Perspektiven auf die gemeinsam geteilte Welt werfen.59

Im Grunde sind es drei Zerbrechlichkeiten, die hier bezeichnet sind, die eine ist für Menschen existentiell verbürgt und liegt in der Verletzlichkeit menschlichen Daseins überhaupt, eine weitere ist durch die Pluralität und Vielfalt des Seienden gegeben, die zugleich als Fragilität der vielfältigen pluralen Möglichkeiten und Verhältnisse lesbar wird und eine dritte ist mit der ‚Antinomie des Weltbürgerlichen‘ bezeichnet, weltbürgerliche Erfordernisse letztlich an keiner konkreten übergeordneten Institution reklamieren zu können, weil das Kosmopolitische nach Kant auch eine Generalabsage an einen Weltstaat bedeutet, der, selbst bei besten Absichten, zwangsläufig totalitäre Tendenzen hätte. So ist das Weltbürgerliche immer wieder auf Relationen und Austausch untereinander, zwischen Bevölkerungen, ihren Vertretern und einzelnen Personen angewiesen.

Kant wie Arendt sind sich der im Gedanken des Weltbürgerlichen enthaltenen Antinomie sehr bewußt, daß ein Weltbürgerrecht oder „Gesetz der Hospitalität“ letztlich nirgendwo konkret und faktisch eingefordert werden kann – und zwar konstitutiv nicht, weil dies den einen Weltstaat voraussetzen würde, der aus Gefährdungen der Totalität gerade abgewehrt werden muß. Daher verleiht das Sprechen von einem weltbürgerlichen „Gesetz“ oder „Besuchsrecht“ eher dem hohen humanitären Anspruch und seiner weltweiten Relevanz Ausdruck.60 Mit dem Weltbürgerlichen sind wir auf Gegenseitigkeit, auf Vernunft und Urteilskraft, den sensus communis, Menschenwürde, auf ein Miteinander, auf Sittlichkeit, auf das Ideelle angewiesen, weil das Faktische, die tatsächliche Grundlage zur Einhaltung eines solchen Gesetzes gar nicht unverbrüchlich geschaffen werden kann und dennoch oder gerade darum ist es so wichtig, diesen Selbst- und gegenseitigen Anspruch mit aller Vehemenz aufrecht zu erhalten. Auch wenn auf Basis von Kants Ewigem Frieden mittlerweile Völkerbünde, auch solche, die sich um das gemeinsame Anliegen einer Befriedung der Welt bemühen, seit dem 20. Jahrhundert Wirklichkeit geworden sind und zurecht auch als Fortschritt in Zivilisierung und Humanisierung angesehen werden können, darf dies nicht über die grundsätzliche Problematik bzw. das Zutreffende dieser kantisch-arendtschen Überlegungen hinwegtäuschen. Der Streit um Migration, Verteilung von Flüchtlingen, die andauernden Kontroversen um die Seenotrettung im Mittelmeer sind sprechende, traurige Beispiele dafür, daß wir hier dauerhaft auf gemeinsamen Austausch angewiesen sind.61

Welthaftigkeit erschließt sich so in der Untersuchung als Zusammenspiel aus Pluralität und Weltbürgerlichkeit, die auf eine je durch Urteilen als „erweiterter Denkungsart“,62 Handeln und Sprechen erwirkte Weltoffenheit deutet,63 derer wir in all ihrer jeweils mitgegebenen Problematik genau durch diese Offenheit und Vielheit aber auch gewachsen sind. Das arendtsche ‚Standpunktbeziehen‘ und diese potentielle Offenheit schließen dabei einander nicht aus, sondern bedingen sich. Sie bilden beide das mögliche Sprungbrett zum Neuanfang.

Die weltbürgerliche Antinomie weist auf die Verletzlichkeit der Person, aber auch auf die der Welt überhaupt.

Dabei scheint das kosmopolitische Denken an vielen Stellen vornehmlich ein Anspruchsdenken zu sein. Davon ist durchaus auch die Gegenwart über Genügen erfüllt. Nur handelt es sich beim weltbürgerlichen Gedanken um Ansprüche, die als Appell und Anforderung zunächst ganz aufklärerisch an die eigene Person ergehen. Die eigenen Vorurteile sollen mit ihnen überwunden werden, um sich wirklich als Mensch von Welt zu zeigen, der nicht in seiner eigenen Beschränktheit wie eingesperrt und idiotisch bleibt.64 Es ist eine Anforderung des Selbst an sich selbst, sich qua der eigenen vielfältig mitgegebenen Fähigkeiten an die Interpersonalität zu erinnern, wie wir uns auch darauf besinnen können, ein Exemplar, ein Vertreter, ein Teil der gesamten Menschheit und gleichfalls ein Teil der ganzen großen Welt in ihren lebendigen Zusammenhängen zu sein. Dieser weltbürgerliche Aufruf ist offenbar vonnöten. Denn dieser kosmopolitische Appell scheint dann doch um einiges von dem allein selbstbezogenen Anspruchsdenken entfernt, daß sich in so vielen gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart wiederfindet.

Mit dem Kosmopolitischen als Direktive ist nicht nur der Radius des Politischen für Menschen erweitert und gültig angezeigt, sondern auch die Konstitutivität des Weltverständnisses und vor allem des Weltbegriffs für jegliches So-Sein eigens hervorgehoben.65

So deutlich aus den Anliegen Kants und Arendts hervortritt, daß sich das Kosmopolitische nicht allein als Rechtsfigur lösen läßt, so scheint es doch auch noch als kritisches Regulativ unterbestimmt. Mit ihnen weitergedacht weist die mit den Antinomien beschriebene Problematik auf eine grundgegebene Verletzlichkeit, sie deutet auf eine Fragilität, in der das Menschliche als irreduzibel fragil erschlossen wird, aber durch alle wechselwirkenden Beziehungen letztlich alle Weltverhältnisse überhaupt. Im Gedanken des Weltbürgerlichen sind wir als Anspruch interpersonal auf einander verwiesen und – würde Arendt wohl hinzusetzen – auch angewiesen. Genau darum können uns die Anderen, das Fremde und die Welt nicht gleichgültig sein oder bleiben. Im Kosmopolitischen geht uns die Welt etwas an, immerzu.

1 Siehe Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Werkausgabe Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977. S. 191-251. BA 3,4 – B 112. [Künftig zitiert: Kant: Frieden.] Und ders.: Kritik der Urteilskraft. In: Werkausgabe Bd. X. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974; siehe insbesondere den Paragraphen 40. [Künftig zitiert: Kant: KdU.] Sowie Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken und Bd. 2: Das Wollen. Hrsg. v. Mary McCarthy. München 1998. Und ebenfalls Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. u. mit einem Essay v. Ronald Beiner. Aus dem Amerik. v. Ursula Ludz. München 1998. [Künftig zitiert: Arendt: Urteilen.] Siehe besonders die zwölfte und dreizehnte Stunde.

2 Gleich zu Beginn möchte ich hier insbesondere Wolfgang Heuer und Vanessa Ossino für den philosophischen Austausch zur Thematik, das gemeinsame Gespräch, Anregungen und Kritik zu meinen Ausführungen herzlich danken und auch dem IiAphR, dem internationalen interdisziplinären Arbeitskreis für philosophische Reflexion, in dem wir uns seit 2012 mit den Thematiken des Weltbürgertums, des Kosmopolitismus und der Migration auseinandersetzen.

3 Siehe hierzu vor allem Kants Überlegungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werkausgabe Bd. VII. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974. [Künftig zitiert: Kant: Grundlegung. S. 58-61. BA 64-67.

4 Vgl. hierfür den „Dritte[n] Definitivartikel zum ewigen Frieden“. Siehe Kant: Frieden. S. 213-217. BA 40-46.

5 Siehe Kant: Frieden. S. 213f. BA40ff. Hervorhebung von der Autorin. Die von Kant betonten Aspekte der Kontingenz, des nicht-possessiven Verhältnisses sowie Reflexionen auf die Begrenztheit der Erde, die wir miteinander teilen und die wir nicht fliehen können, finden sich in folgendem Aufsatz eingehend reflektiert: Frauke A. Kurbacher: „Zwischen Bedingung und Ermöglichungsgrund: Die Grenze? Philosophisch-kritische Überlegungen zu einem grenzwertigen Phänomen“. In: Grenzen. Annäherungen an einen transdisziplinären Gegenstand. Hrsg. v. Barbara Kuhn u. Ursula Winter. Würzburg 2019. S. 53-80.

6 Vgl. Arendt: Urteilen. S. 100.

7 Diese Lesart würde anbieten, schon in den verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs in Kants praktischer Philosophie bei der Reflexion von der einzelnen Person auf die gesamte Menschheit ein weltbürgerliches Moment als konstitutiv anzunehmen.

8 Als terminus technicus der Alteritätsphilosophie erfolgt die Großschreibung.

9 Siehe Kant: KdU. S. 226. B 158/A 156.

10 Vgl. Kant: Frieden. S. 214. BA 41f.

11 Auch darin, in diesem Grenzen überschreitenden Gedanken des Kosmopolitischen kann ein Anknüpfungspunkt zwischen Kant und Arendt gesehen werden. Stefania Maffeis nimmt Arendts Gedanken jedenfalls hochgradig plausibel als Auftakt für eine Transnationale Philosophie. Hannah Arendt und die Zirkulation des Politischen. Frankfurt a. M. 2019.

12 Das heißt, weder von Kant noch von Arendt wird eine solche Gemeinschaft vorausgesetzt, ganz im Gegenteil verfahren hier beide sehr nüchtern, sondern an eine solche wird eben aus weltbürgerlichem Impetus mit Blick auf einen zur Sicherung aller notwendigen Weltfrieden appelliert. Siehe auch Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. In: Werkausgabe Bd. VIII. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. 18. Aufl. Frankfurt a. M. 2017. S. 476. A 230f / B 260f. [Künftig zitiert: Kant: Metaphysik der Sitten.]

13 In diesem Punkt könnte auch eine Auseinandersetzung mit dem Einfluß von Martin Heidegger auf Arendts Denken spannend und weiterführend sein, was den Rahmen hier jedoch sprengen würde. Auch wenn er hier – wie im Grunde für alle weitere Reflexion, und zwar nicht nur die philosophische, sondern bis in das Alltagsverständnis hinein – seine Vorstellungen von Mit- und Umwelt sowie des Mitseins diskursprägend sind, unterscheidet Heidegger und Arendt doch grundlegend jene Differenz, die weit bis auf eine augustinische Spur zurückführt, die Arendt hier als „Zwei-Welten-Theorie“ moniert und vehement verwirft. Spannend könnte auch eine Reflexion auf Karl Jaspers sein, der ihr ein „Bürger der Welt“ ist.

14 Schon Arendts Überlegungen zum Biologen und kritischem Anthropologen Portmann offenbaren einen Spielraum über die eigene Spezies hinaus. Und die Betonung des Involviertseins bei Arendt ist nicht nur für den Gedanken der Verantwortung entscheidend, sondern berührt durchaus auch ein Anliegen wie es James Lovelock mit seiner Gaia-Theorie ausdrücken und stark machen will, denn wir sind immer Teil dieser Welt und ihr nicht enthoben. Dies ist ein sehr elementares Verständnis von Welthaftigkeit und gehört aber durchaus in den Radius dessen, was Arendt verficht und weswegen sie eine ‚Phänomenologie des Erscheinens‘ gegen eine ‚Zwei-Welten-Theorie‘ ins Feld führt.

15 Siehe hierzu insbesondere und exemplarisch die trefflichen Arbeiten von Rahel Jaeggi. Vgl. auch Fußnote 19.

16 Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. 4. Aufl. Zürich/München 2006. Siehe das Kapitel 25: „Das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten“. S. 213-222.

17 Siehe Arendt: Denken. S. 29.

18 Armin Wildermuth verweist treffend darauf, daß das Erscheinen bei Arendt dann noch vom ‚Sich zeigen‘ unterschieden wird. Vgl. ders.: „Freiheit und die Welt der Erscheinung bei Hannah Arendt, Adolf Portmann und Heinrich Barth“. In: Freiheit und Existenz. Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth zur Freiheitslehre Augustins. Hrsg. v. Nils Baratella, Johanna Hueck u. Kirsten Zeyer. Basel 2022. S. 133-154. Hier S. 141.

19 Zum Weltbegriff bei Merleau-Ponty siehe: Christian Bermes: Maurice Merleau-Ponty zur Einführung. 4. Aufl. Hamburg 2020. Arendts Weltbegriff – in der vornehmlichen interpersonalen Interpretation – reflektiert Rahel Jaeggi in ihrem einschlägigen Werk: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts. Berlin 1997. Und fein differenzierte Überlegungen zum Weltbegriff Arendts finden sich überdies in ihrem Artikel: „Welt/Weltentfremdung“. In: Arendt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Wolfgang Heuer, Bernd Heiter u. Stefanie Rosenmüller. Stuttgart/Weimar 2011. S. 333-335. Hier bedenkt sie neben den verschiedenen Kategorien der Künstlichkeit, Beständigkeit, aber auch der Vergänglichkeit und Widerständigkeit von Welt ebenso „Welt als öffentliche[n] Erscheinungsraum“ wiederum insbesondere interpersonal. Ebd. S. 333.

20 Vgl. Arendt: Denken. S. 33f.

21 Daher nimmt sie auch – zusätzlich inspiriert durch Portmann, ein Lob der Oberfläche vor. Vgl. das Kapitel: „Die Umkehrung der metaphysischen Hierarchie: der Wert der Oberfläche“ in: Dies.: Vom Leben des Geistes. Hrsg. v. Mary McCarthy. München 1998. Bd. 1: Das Denken. S. 36-40. [Künftig zitiert: Arendt: Denken.]

22 Damit ist sie freilich nicht allein. Auch auf die Frankfurter Schule in ihrer harschen Kritik am „Jargon der Eigentlichkeit“ Heideggers wäre hier zu verweisen. Siehe Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a. M. 1964. Arendt bezieht sich jedoch in ihrer Kritik mitnichten nur auf Heidegger. Die ‚Zwei-Welten-Theorie‘ zeigt sie als bedenkliche Linie von der Antike über das christliche Abendland bis in die Gegenwart auf. Siehe Hannah Arendt: Denken. Siehe bes. das Kapitel: „(Wahres) Sein und (bloße) Erscheinung: die Zwei-Welten-Theorie“. S. 33-36.

23 Also wie schon in der Vita activa, wo sich das Politische ebenfalls in einem weiten, anthropologischen Sinn auf das Handeln, Sprechen und Urteilen bezieht, bei dem gerade auch das Sprechen in antiker Philosophie als besondere Auszeichnung des Menschen hervorgehoben wird, um aber von Arendt vor allem als genuin politisches Moment in Anschlag gebracht zu werden, gewinnt auch die klassische philosophische Denkfigur des Erscheinens solch einen politischen ‚Twist‘, denn während zwar auch alles andere zumindest in der Latenz bis Potenz des Erscheinens steht, fällt doch nur uns Menschen daraufhin Verantwortung zu.

24 Vgl. Kant: Frieden. S. 214f. BA 41-43; A 41-44.

25 Siehe Kant: Frieden. BA 41f; A 41f.

26 Siehe Arendt: Urteilen. S. 100.

27 Siehe Kant: Metaphysik der Sitten. S. 476. A 230f / B 260f.

28 Vgl. Arendt: Urteilen. S. 100.

29 Aus umweltphilosophischer Perspektive geschaut, gibt es so hier u.U. auch die Möglichkeit, eben nicht nur anthropozentrisch auf den Weltbegriff zurückzugreifen, sondern ihn auch biozentrisch in Anschlag zu bringen. Der auf das Erscheinen zurückreflektierte Weltbegriff reklamiert mindestens implizit Nachhaltigkeit.

30 In diesem Kontext scheint dann auch das „Bezugsgewebe“ über die „menschlichen Angelegenheiten“ hinaus, auf Umwelt, Mitwelt, das Kosmopolitische auszugreifen, bzw. es wird deutlich, daß auch das ‚Nicht-Menschliche‘ zu unseren menschlichen Belangen und Verantwortungen gehört. Diesbezüglich ist dann auch noch einmal Arendts Antinomie des Handels, daß wir als Menschen die Konsequenzen unseres Handelns nie ganz absehen können, eigens zu berücksichtigen. Die Trefflichkeit dieser Aussage zeigt sich z.B. besonders eindrücklich und problematisch an menschlichen Eingriffen in Ökosysteme. Da wir jedoch bereits in gravierendem Maße Weltmeere und Luft verschmutzen, sowie Wetter und Klima weltweit beeinflussen, ist letztlich vermutlich kein ökologisches System mehr gänzlich vom menschlichen Eingriff ausgenommen.

31 Vgl.: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Siehe Kant: Grundlegung. S. 61. BA 67.

32 Auch wenn Arendt in den Überschriften zumeist von „Erscheinung“ spricht, sei hier durchaus in ihrem Sinne der verbalisierten Form, dem „Erscheinen“, der Vorzug gegeben.

33 Zur phänomenologischen Dimension der „Pluralität“ bei Arendt siehe auch den trefflichen Artikel von Sophie Loidolt: „Hannah Arendts Phänomenologie der Pluralität: Sozialontologische, politische und ethische Aspekte“. In: HannahArendt.net. Hrsg. v. Wolfgang Heuer u.a., Ausg. 1, Bd. 9, Nov. 2018.

34 Siehe Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hrsg. v. Traugott König. Übersetzt v. Hans Schöneberg u. Traugott König. 20. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2017. (Frz. Ausgabe: „L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique“. Paris 1943). Siehe das Kapitel: „Der Blick“. S. 457-538.

35 Im Sinne des Sprechens, Handelns und Urteilens lassen sich auch diese spezifischen Selbstumgänge als politisches Moment begreifen, wie Arendts eigene Befragung ihres Diktums von der „Banalität des Bösen“ und deren nähere Bestimmung als „Gedankenlosigkeit“ es im Spätwerk bezeugen. Vgl. Arendt: Denken. S. 13ff.

36 Auch wenn Sartre zwar die Dimension des „Für-andere-seins“ seinem Konzept implementiert, so scheint es doch immer eher eine nachträgliche Hinzufügung zu sein und den grundlegenden und grundgegebenen Konflikt und die mit ihm gegebene Dynamik des Bewußtseins, dem Hegels ‚Herr und Knecht‘-Verhältnis Pate stand – eines unaufhebbaren Zwists zwischen „An-sich“ und „Für-sich“ – einer Subjekt-Objekt-Spaltung nicht zu überwinden. Arendt nimmt den Subjekt-Objekt-Gedanken hingegen konstruktiv auf: „Die Welthaftigkeit der Lebewesen bedeutet, daß kein Subjekt nicht auch Objekt ist und als solches einem anderen erscheint, das seine ‚objektive‘ Wirklichkeit gewährleistet“. Siehe Arendt: Denken. S. 29f.

37 Siehe Arendt: Denken. S. 29. Hervorhebungen von Hannah Arendt.

38 Siehe Arendt: Denken. S. 30.

39 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hrsg. u. übers. v. Olof Gigon. 4. Aufl. München 2000 (1991). Passim. Was sich im obigen Kontext auch als ‚oder wie es mir erscheint‘ transponieren läßt.

40 Arendt spricht gleich zu Beginn ihrer diesbezüglichen Ausführungen von einer „erscheinende[n] Welt“ mit unbestimmtem Artikel. Siehe Arendt: Denken. S. 30. Ergänzend sei hier darauf hingewiesen, und dies mag die phänomenologische Grundierung dieses Gedankens unterstreichen, daß eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Phänomenologen Klaus Held ebenfalls diesen Titel, allerdings mit bestimmtem Artikel trägt. Vgl.: Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held. Hrsg. v. Peter Trawny u. Heinrich Hüni. Philosophische Schriften. Bd. 49. Berlin 2002.

41 Siehe hierzu Frauke A. Kurbacher: „Urteilskraft als Prototyp – Überlegungen zur ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft im Anschluß an Kant“. In: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Hrsg. v. Frithjof Rodi. Weilerswist 2003. S. 185-195. Aktuell knüpfen Nils Baratella und Christian Dries an diese Interpretation an. Siehe Nils Baratella: „Das Politische nach dem Vorbild des Ästhetischen. Ein Beitrag Hannah Arendts zur Frage der politischen Subjektivierung.“ In: Zeitschrift für Kulturphilosophie. Hrsg. v. Ralf Konersmann u.a. Hamburg 2019. ZKph, Jg. 12, Heft 2018/2: Schwerpunkt: Subjektivierung. S. 229-244. Und Christian Dries: „Die Erfindung der Urteilskraft. Eine genealogische Skizze“. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie. Berlin 2022 (Springer online).

42 Auch wenn Arendt den Aspekt der Inszenierung und Selbstdarstellung „Lebewesen“ in Differenz zur „unbelebten Materie“ sinn- und nachvollziehbarer Weise vorbehält, ist dennoch die durch die zugrundegelegte „Erscheinungshaftigkeit“ gegebene wie mögliche Verbindung zwischen allem, was da ist, in den Blick genommen. Vgl. Arendt: Denken. S. 29-31.

43 Vgl. Paul Ricœur: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Übers. v. Ulrike Bokelmann u. Barbara Heber-Schärer. Frankfurt a. M. 2006. (Frz.: ders.: Parcours de la Reconnaissance – trois études. Paris 2005.)

44 Siehe hierzu auch Frauke A. Kurbacher: „Urteilskraft als Prototyp. Überlegungen zur ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft im Anschluß an Kant.“ In: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Hrsg. v. Frithjof Rodi. Weilerswist 2003. S. 185-195.

45 Vgl. Arendt: Urteilen. S. 99.

46 Arendt versucht, im Kontext Vom Leben des Geistes an dieser Stelle etwas anderes zu klären, nämlich wie sich die Unsichtbarkeit der geistigen Tätigkeiten in der Phänomenologie der Erscheinungen ausnimmt, was hier aber nicht weiter Gegenstand der Betrachtung sein soll.

47 Siehe Arendt: Denken. S. 29.

48 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. 6. Aufl. Berlin 1974 (1966). S. 7. Ders.: Phénoménologie de la perception. Paris 1945. P. 11: „La vérité ‚n’habite‘ pas seulement l‘’homme intérieur‘, ou plutôt il n’a pas d’homme intérieur, l’homme est au monde, c’est dans le monde qu’il se connaît. Quand je reviens à moi à partir du dogmatisme de sens commun ou du dogmatisme de la science, je trouve non pas un foyer de vérité intrinsèque, mais un sujet voué au monde“. Diese Stoßrichtung der Kritik findet sich neben Merleau-Ponty und Arendt ebenfalls bei anderen Denkern, sei es die Akzentuierung von Welt bei Alfred Schütz im Anschluß an Heidegger oder auch bei Michel Henry, der als Vertreter einer „Weltphänomenologie“ in Kritik an Husserls Intentionalität gilt; z.T. werden selbst – worüber zu streiten wäre – Sartre und Simone de Beauvoir mit hinzugezählt.

49 Siehe Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich 2006. S. 63. Im Spätwerk erfährt die Innerlichkeit bei aller Kritik – allein aufgrund ihrer konstitutiven Rolle für die Entwicklung des Wollens, aber auch schon in der Wertschätzung der für Arendt rückgezogenen Tätigkeit des Denkens – gleichwohl eine Aufwertung.

50 Und zwar in den Formen der Grundworte „Ich-Es“ und „Ich-Du“, die immer nur zusammen, aber nicht einzeln gesprochen werden können. Siehe Martin Buber: Ich und Du. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. 11. Aufl. Gütersloh 2009. S. 9ff.

51 Vgl. Kant: Frieden. S. 216. BA 45f.

52 Die Ambivalenz einer geteilten Welt wird vielleicht auch besonders gut an Arendts Gedanken des Exemplum deutlich. An alles, was sich einmal realisiert hat, was erfahren werden kann, kann auch wieder angeknüpft werden. Dies gilt im Guten wie im Schlechten. Auch darum ist es so fatal, daß das in seiner menschenverachtenden Grausamkeit alle menschliche Vorstellung übersteigende NS-Regime Wirklichkeit wurde. Seither ist klar, daß sich die NS-Ideologie nicht einfach abschütteln läßt. Wir werden uns weltweit dauerhaft mit ihr auseinandersetzen müssen.

53 Mit dem Gendern gibt es hier ein Problem; wiewohl mit der Umstellung auf …*innen sympathisierend, geht es mir hier doch nicht von der Hand, weil es drohen könnte, politisch-faktische Gegebenheiten zu verschleiern. Es ist nach wie vor politisch ein gewaltiger Unterschied, als Weltbürger oder Weltbürgerin zur Welt zu kommen, von divers einmal ganz zu schweigen. Politisch spielt also die geschlechtliche Zuordnung eine große Rolle und zeitigt einen eklatanten Unterschied, insbesondere, was den Zugang zu Bildung, aber auch materiellen, wirtschaftlichen Mitteln, Mitsprache etc. betrifft, während das generische Maskulinum ‚Weltbürger‘ eine Idee bezeichnet, die gerade über alle Unterschiede hinweg auf etwas reflektiert, was von unserer Pluralität, ganz gleich worin sie in ihrer Vielfalt besteht, lebt. Am liebsten hätte ich einen dritten Begriff oder eine gänzlich unverfängliche Endung. In Ermangelung derselben bleibe ich an vielen Stellen – aus philosophischen Gründen bei den tradierten Endungen und differenziere dort, wo es auch philosophisch explizit um die Differenz geht, um auf den politischen Unterschied aufmerksam zu machen, – in der Hoffnung, irgendwann doch einmal in einer Welt zu landen, wo diese leidige politische Ungleichheit eingeebnet ist.

54 Siehe zum thematischen Zusammenhang auch Hannah Arendts Schrift: Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? Hrsg. u. mit einem Essay von Marie Luise Knott. Übersetzt von Eike Geisel. München 2018.

55 Dies läßt verständlich werden, daß auch mit den Systemumbrüchen nach 1989 nicht ohne Grund die Frage aufkam, ob Freiheit ‚gelernt werden‘ müsse. Tatsächlich befinden wir uns derzeit in Situationen – nach vielfältigen Umbauten von Demokratien in Autokratien in Europa und weltweit, wenn nicht gar Rückbau in Totalitarismen, die ihrerseits fragen lassen, ob an den vielfältigen Rufen nach ‚starker Hand‘, neu erstarkenden Nationalismen und rechten Gesinnungen etc., nicht ein Teil der gegenwärtigen, angegriffenen und irritierten Demokratien auch auf die fehlende begleitende Reflexion und Nachsorge sowie eine flächendeckend vernachlässigte Bildung zurückzuführen sind, was die ‚Öffnung des Ostens‘ nach 1989 in vielfacher und vielfältiger Weise bedeutete. Anders als nach dem 2. Weltkrieg, wo eine Hauptsorge der Alliierten gerade dem ideologischen Umpolen, der auch ideellen Installierung von Demokratie galt (Stichwort: ‚Entnazifizierung‘), war das Verhältnis zwischen den Staaten im Zuge der zum Glück friedlich verlaufenen, sogenannten ‚samtenen Revolutionen‘ um das Jahr 1989 ein gänzlich anderes. Und doch – oder vielleicht sogar gerade darum – blieb das Ideelle, das Ein- und Umgewöhnen ins Demokratische als weitgehend unbewältigte Aufgabe bestehen. (Das Operieren mit Schematismen in totalitären Regimen, wie etwa ‚Freund-Feind-Stereotypen, statt kritischer Differenzierungen und Vielfalt, könnte vielleicht hier exemplarisch für die Art der Denk- und Haltungsschäden, die verbrecherische Staaten u.a. hervorrufen, benannt werden.) Vieles davon scheint uns jetzt – unbewältigt (erneut) – auf die Füße zu fallen. (Sei es eine von überregionalen Zeitungen ausgerufene Problematik einer ‚Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde‘ oder die dreiste Umwertung aller Begriffe des Kritischen und Demokratischen durch die mittlerweile unter Verfassungsschutz-Beobachtung stehende AfD – oder überhaupt die seit der Wende auftauchenden neuen Generationen von Rechtsextremen und Verbreitung von rechtsradikalem Gedankengut im bürgerlichen Milieu.)

56 Fragilität als menschliche Verletzlichkeit wird derzeit insbesondere auch – allerdings ausgehend vom foucaultschen Subjektbegriff – von Judith Butler in subjekttheoretischer, existentieller und politischer Perspektive bedacht. Frauke A. Kurbacher schreibt die Fragilität mit aufklärerischem Impetus dem Denken selbst zu. Hier, im vorliegenden Text liegt der Fokus auf einer Zerbrechlichkeit, die wir mit allem, was auf der Welt ist, teilen und die insofern auch verbindenden Charakter hat. Siehe exemplarisch: Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Aus dem Engl. v. Karin Wördemann. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2017 (2005). Und Frauke A. Kurbacher: „Zwischen ‚Verwurzelung‘ und ‚Bodenlosigkeit‘. Gedanken zu einer ‚Philosophie der Migration‘“: In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift. KWZ, 2. Jg., Heft 1, S. 21-34, Berlin 2018.

57 Darin hat das Weltbürgerliche auch eine Parallele zum Demokratischen.

58 Hannah Arendt spricht in bis heute gültiger und vor allem bedenkenswerter Weise von den „Antinomien der Menschenrechte“. Frauke A. Kurbacher sieht diese Problematik bereits bei Kant vorgeprägt und spricht von einer „Antinomie des Weltbürgerrechts“. An beide Gedanken knüpft das Obige an. Siehe Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 20. Aufl. München 2017. S. 601-625. Und Frauke A. Kurbacher: „Migration und Weltbürgerlichkeit. Zum konstitutiven Reflexionsverhältnis zwischen Recht und Sittlichkeit im Anschluß an Kants ‚Gesetz der Hospitalität‘“. In: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts. Hrsg. v. Alexander Aichele u.a. RphZ, 7. Jg., Heft 3/2021; Bd. 2: „Migration“. S. 255 – 269, hier S. 257 und bes. das gleichnamige Kapitel: S. 262ff.

59 Faktisch muß jedoch entgegen der oben geäußerten Hoffnung konstatiert werden, daß das Gewahrwerden von Verletzlichkeit nicht selten als Schwäche gedeutet und gerade für gewaltsames Vorgehen mißbraucht wird.

60 Ein weiteres wichtiges in diesem Zusammenhang stehendes Beispiel und Indiz sind die ebenfalls von Arendt ausgemachten „Aporien der Menschenrechte“, die gerade da – insbesondere im Fall der Staatenlosigkeit – , wo Menschen ihrer besonders bedürften, nicht greifen. Siehe Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 17. Aufl. München/Berlin 2017 (1986). S. 601-625.

61 Und in diesem Sinn ist es mehr als bedenklich, wenn rechte Kräfte derart vehement neuerlich politischen Einfluß in Europa nehmen, sogar Regierungen bilden.

62 Siehe Kant: KdU. S. 226f. B 158ff, A156ff. Und Arendt: Urteilen. S. 97ff.

63 Für diese Gedanken erscheint es sinnvoll, noch einmal auf den weiten und grundlegenden Zuschnitt abzuheben, den Arendts Verständnis des Politischen auszeichnet. Sie zeichnet Menschen bereits mit dem Sprechen, Handeln, Urteilen als grundlegend politische und damit auch als verantwortliche aus. ‚Welthaftigkeit‘ bezeichnet für sie in diesem Zusammenhang die positive Auszeichnung im Bewußtsein dieses Umstands und eben grundsätzlich auf Welt bezogen zu sein, im Gegensatz zur Weltlosigkeit, die versucht, den gegebenen Verantwortungszusammenhang zu leugnen. Weltoffenheit ist demgegenüber eine Vorstellung, die zunächst – und anders als die Welthaftigkeit, die speziell auf Menschen bezogen ist – in verschiedenem Maße allem, was erscheint zukommt und natürlich besonders für uns Menschen ein Hinweis auf gegebene Freiheit ist, die sich gerade auch in Differenziertheit, Vielheit, Individuiertheit auszudrücken vermag, die ihrerseits gleichsam aber immer auf Umgebendes wie etwa Umwelt und Gemeinschaft bezogen bleiben.

64 Vgl. Kant: KdU. S. 227. B 160, A 158.

65 An dieser Stelle zeigt die Denkfigur des Kosmopolitischen dann auch insbesondere an die von Haltung anschlußfähig.