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Ausgabe 1, Band 11 – Dezember 2021

An den Grenzen der Politik. Hannah Arendt und die (menschliche) Natur: Eine thematisch gegliederte Zusammenstellung von Originalzitaten



Vorlage für diese Zitatensammlung ist ein Beitrag, den Helmut König für den Arendt-Workshop in Berlin (31.5./1.6.2019) ausgearbeitet hatte. Dem Manuskript war folgende Bemerkung vorangestellt: „Ich beschränke mich darauf, Elemente des Naturbegriffs von Arendt in sechs Kapiteln und einer Reihe von Unterpunkten aufzulisten. Der Text bietet also keine durchgearbeitete Argumentation, sondern ist nicht mehr als eine Zusammenstellung von Gesichtspunkten.“ Dankenswerterweise hat Helmut König dieses Manuskript der Redaktion zur Verfügung gestellt. Wir haben sein Konzept übernommen und auf dessen Grundlage weitergearbeitet. Für die neue Fassung zeichnet in der Redaktion Ursula Ludz verantwortlich.

Redaktion


Siglen

AP: „The Archimedean Point“, in: Ingenor, Spring 1969, S. 4-9, 24-26.

A/J: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926 – 1969, München 1993.

BPF: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought, 1968.

DT: Denktagebuch 1950 – 1973, München/Zürich 2002.

EiJ: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1964), Reinbek bei Hamburg 1978.

EuU: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), München 1986.

GI: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (1964), in: Hannah Arendt, Ich will verstehen, München/Berlin 1996.

HtR: „Home to Roost“ (1975), in: Sam Bass Warner, Jr. (ed.), The American Experiment: Perspectives on 200 Years, 1976.

IG: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000.

KGA 3: Kritische Gesamtausgabe, Band 3, Göttingen 2019.

MuG: Macht und Gewalt, München 1970.

MZ: Menschen in finsteren Zeiten, München 2012.

OT: The Origins of Totalitarianism, New York 1951.

Scholem-Brief: Brief von Hannah Arendt an Gerhard Scholem, 20. Juli 1963, in: Hannah Arendt, Ich will verstehen, München/Berlin 1996.

ÜR: Über die Revolution, München 1974.

ÜT: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953. Hannah Arendt-Institut Dresden. Berichte und Studien Nr. 17, Dresden 1998.

VA: Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1960), München/Zürich 1981.

WiP: Was ist Politik? (1955-1959), München 1993.

WuP: Wahrheit und Politik (1969), in: ZVZ.

ZVZ: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994.



  1. Die Grenzüberschreitungen der totalen Herrschaft

I.1 Die totale Herrschaft besteht aus permanenten Grenzüberschreitungen. Das Kennzeichen totaler Herrschaft ist nicht nur „Nichts ist wahr“, „Alles ist erlaubt“, sondern der radikale Nihilismus des „Alles ist möglich“. Die damit ausgerufene „Allmacht des Menschen“ (EuU 607, 679) hat in der „anti-utilitarian senselessness“ (OT 430; der „anti-utilitaristischen Sinnlosigkeit“ [ÜT 17]) der Vernichtungslager ihre deutlichste Manifestation erfahren. „In den totalitären Regimen erscheint deutlich, dass die Allmacht des Menschen der Überflüssigkeit der Menschen entspricht. Darum entspringt aus dem Glauben, dass alles möglich sei, unmittelbar die Praxis, die Menschen überflüssig zu machen. […] Jeder zweite Mensch ist bereits ein Gegenbeweis gegen die Allmacht des Menschen, eine lebendige Demonstration, dass nicht alles möglich ist. Es ist primär die Pluralität, welche die Macht der Menschen und des Menschen eingrenzt.“ (DT 53f)



1.2 Totale Herrschaft und Gewalt. Die totale Herrschaft überschreitet die „dem gewaltsamen Handeln inhärente Begrenzung […], derzufolge die durch Gewaltmittel erfolgende Zerstörung immer nur partiell sein, immer nur Stücke von Welt und eine wie immer geartete Zahl von Menschenleben betreffen darf, nie aber das ganze Land oder ein ganzes Volk. Aber dass die Welt eines ganzen Volkes dem Erdboden gleichgemacht, dass die Mauern der Stadt geschleift, die Männer getötet und die übrige Bevölkerung in die Sklaverei verkauft wurde, ist in der Geschichte oft genug vorgekommen, und erst die Jahrhunderte der Neuzeit haben nicht mehr glauben wollen, dass es überhaupt vorkommen kann. Dass dies eine der wenigen Todsünden des Politischen darstellt, hat man mehr oder minder ausdrücklich immer gewusst. Die Todsünde oder, unpathetisch gesprochen, die Überschreitung der dem gewaltsamen Handeln inhärenten Grenze besteht in zweierlei: Einmal betrifft hier das Morden nicht mehr größere oder kleinere Zahlen von Menschen, die ohnehin sterben müssen, sondern ein Volk und seine politische Verfassung, die der Möglichkeit und im Falle der Verfassung sogar der Intention nach unsterblich sind. Was hier getötet wird, ist nicht ein Sterbliches, sondern etwas möglicherweise Unsterbliches. Ferner und in engstem Zusammenhang hiermit erstreckt sich hier die Gewalttätigkeit nicht nur auf Hergestelltes, das seinerseits ja auch durch Gewalt entstanden und daher durch eine gewaltsame Anstrengung wieder aufgebaut werden kann, sondern auf eine in dieser hergestellten Welt behauste geschichtlich-politische Realität, die, da sie nicht hergestellt war, auch nicht wieder restauriert werden kann. […] Was hier mit zugrunde geht, ist eine nicht durch Herstellen, sondern durch Handeln und Sprechen entstandene Welt menschlicher Bezüge.“ (WiP 88f)



I.3 Die Transformation der menschlichen Natur. „Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst, die, so wie sie ist, sich dauernd dem totalitären Prozess entgegenstellt.“ (EuU 701). „Hierzu gehört auch die überall feststellbare Tatsache, dass Todesangst ein Phänomen ist, das innerhalb des politischen Raumes und in den eigentlichen Massengesellschaften kaum noch eine Rolle spielt.“ (EuU 702) Die totale Herrschaft schaltet das Interesse an Selbsterhaltung aus. Ihr Wesen ist also nicht ein ins Extrem gesteigerter Utilitarismus, wie Erich Voegelin es sah, sondern im Gegenteil ein radikaler Schwund des gesunden Menschenverstandes und ein nicht minder radikales „Versagen der elementarsten Selbsterhaltungstriebe“ (EuU 553).

In den Theorien des Behaviorismus, Utilitarismus, Pragmatismus oder Positivismus spielt immer das menschliche Interesse die zentrale Rolle, das sozusagen als Natur des Menschen unterstellt wird. Keine dieser Theorien hat je den Anspruch gehabt und behauptet, dass es möglich sei, die Natur des Menschen zu verändern. „Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftsaberglauben im Sinne des Positivismus, Pragmatismus und schließlich Sozialismus behielten immer die menschliche Wohlfahrt als Ziel aller Politik im Auge, und dies Ziel und Vorhaben ist den totalitären Bewegungen ganz und gar fremd.“ (EuU 554) Für die totale Herrschaft ist zentral „die vollkommene Verachtung alles greifbaren Nutzens in den Bewegungen und die große Gleichgültigkeit der Massen gegen ihre eigenen Interessen“ (EuU 554). Das ist eine „unheimliche[.] Welt absoluter Selbstlosigkeit“ (EuU 555).

„The concentration camps are the laboratories where changes in human nature are tested“. (OT 432) „Human nature as such is at stake.“ (OT 433) „Only the criminal attempt to change the nature of man is adequate to our trembling insight that no nature, not even the nature of man, can any longer be considered to be the nature of all things.“ (OT 434)1


I.4 Voraussage und Wahrlügen. Zum Wesen totaler Herrschaft gehört die Vorstellung, „Fälschungen und Lügen, wenn sie nur groß und kühn genug sind, als unbezweifelbare Tatsachen zu etablieren: Könnte es nicht sein, dass der Mensch die Freiheit hat, seine Vergangenheit willkürlich zu ändern? Könnte der Unterschied zwischen wahr und falsch nicht einfach eine Sache der Macht sein und der Schlauheit, jederzeit korrigierbar durch Terror und Propaganda? Die Faszination lag nicht einfach in Stalins und Hitlers Meisterschaft in der Kunst des Lügens, sondern in der Tatsache, dass sie es vermochten, die Massen so zu organisieren, dass ihre Lügen sich in Wirklichkeit umsetzten.“ (EuU 537)

Die totalitäre Propaganda konzentriert sich ganz darauf, alles richtig vorauszusagen und logisch stimmig abzuleiten. Wenn totalitäre Akteure die Macht haben, „die Wirklichkeit ihren Lügen anzugleichen“, machen sie das konsequent. Vorher zeichnet sich ihre Propaganda „durch eine bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen überhaupt aus. In dieser Verachtung drückt sich bereits die Überzeugung aus, dass Tatsachen nur von dem abhängen, der die Macht hat, sie zu etablieren. Die Behauptung, dass nur Moskau eine Untergrundbahn habe, ist nur so lange eine Lüge, als die Bolschewisten nicht die Macht haben, alle anderen Untergrundbahnen zu zerstören. Daher verrät die Propagandamethode der unfehlbaren Voraussage, verbunden mit der ihr inhärenten Verachtung aller Tatsachen, mehr als jeder andere totalitäre Propagandatrick, dass die Beherrschung des Erdballs das notwendige Endziel der totalitären Bewegungen ist, denn nur in einer vollständig kontrollierten und beherrschten Welt kann der totalitäre Diktator alle Tatsachen verachten, alle Lügen in die Wirklichkeit umsetzen und alle Prophezeiungen wahr machen.“ (EuU 557f)


I.5Dieses hätte nicht geschehen dürfen.“ „Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.“ (GI 62) Die totale Herrschaft hat unter Beweis gestellt, „dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. Als das Unmögliche möglich wurde, stellte sich heraus, dass es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen. So wie die Opfer in den Fabriken zur Herstellung von Leichen und den Höhlen des Vergessens nicht mehr ‚Menschen‘ sind in den Augen ihrer Peiniger, so sind diese neuesten Verbrecher selbst jenseits dessen, womit jeder von uns bereit sein muss, sich im Bewusstsein der Sündhaftigkeit des Menschen zu solidarisieren.“ (EuU 701)



I.6 Niemand kann sich aussuchen, mit wem zusammen er die Erde bewohnt. Im Epilog zum Eichmann-Buch sagt Arendt in ihrer Begründung des Todesurteils: „So bleibt also nur übrig, dass Sie eine Politik gefördert und mitverwirklicht haben, in der sich der Wille kundtat, die Erde nicht mit dem jüdischen Volk und einer Reihe anderer Volksgruppen zu teilen, als ob Sie und Ihre Vorgesetzten das Recht gehabt hätten, zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht. Keinem Angehörigen des Menschengeschlechts kann zugemutet werden, mit denen, die solches wollen und in die Tat umsetzen, die Erde zusammen zu bewohnen. Dies ist der Grund, der einzige Grund, dass Sie sterben müssen.“ (EiJ 329)



I.7 Das Todesurteil gegen Eichmann: nicht Strafe, sondern Vergeltung und Sühne.
Die Begründung für das Todesurteil gegen Eichmann überschreitet den Rahmen der normalen Justiz. Die Todesstrafe ist ein Akt der Gewalt, der der Vergeltung und Sühne ähnlicher ist als der Strafe, wie sie das abendländische Recht versteht. In den Worten von Yosal Rogat2 gab es Zeiten, in denen es selbstverständlich war, dass „ein großes Verbrechen der Natur Gewalt antut und die Erde selbst nach Vergeltung schreit; dass das Böse eine naturgegebene Harmonie zerstört, die nur durch Sühne wiederhergestellt werden kann; dass Unrecht der betroffenen Gruppe um der moralischen Ordnung willen die Pflicht auferlegt, den Schuldigen zu bestrafen.“ (nach EiJ 327) Eigentlich sind dies nach Arendt „antiquierte Vorstellungen, die wir als barbarisch ablehnen“ (EiJ 327). Aber zu diesen antiquierten Haltungen müssen wir greifen, wenn wir es mit derartigen Verbrechen zu tun haben: „Und dennoch, scheint mir, lässt sich kaum leugnen, dass Eichmann auf Grund solcher längst vergessenen Vorstellungen überhaupt vor Gericht kam und dass sie allein schließlich die Todesstrafe rechtfertigen.“ (EiJ 327)



II. Politisches Handeln und menschliche Natur


II.1 Politik ist nicht natürlich.
Politik hat es nicht mit Natur und natürlichen Gegebenheiten zu tun, sondern mit Meinungen und Bezügen, die verändert werden können. Sie spielt nicht in der Welt der Notwendigkeit, sondern der Freiheit. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer wieder einen neuen Anfang setzen kann. Ihr Ort ist nicht die innere Natur der Menschen, sondern der Raum, die Welt zwischen ihnen.


II.2 Die Schrankenlosigkeit des Handelns. „Handeln und Sprechen sind Vorgänge, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte hinterlassen. Aber dies Zwischen ist in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren Umgebung. Wir nennen diese Wirklichkeit das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, wobei die Metapher des Gewebes versucht, der physischen Ungreifbarkeit des Phänomens gerecht zu werden.“ (VA 173) Weil es keinen natürlichen Stoff und keine natürlichen Grenzen des Handelns gibt, weil das Wesen der Politik darin besteht, Anfänge zu setzen und Bezüge zu stiften, weil Handeln und Sprechen nicht dazu da sind, zu stabilisieren und zu begrenzen, deswegen steht das Handeln immer in der Gefahr des Maßlosen und der Allmacht. Die Schrankenlosigkeit erwächst „aus der dem Handeln eigentümlichen Fähigkeit, Beziehungen zu stiften, und damit aus der ihm inhärenten Tendenz, vorgegebene Schranken zu sprengen und Grenzen zu überschreiten.“ (VA 183) Wir brauchen jedoch immer Schranken und Grenzen, die den Rahmen herstellen, „in dem Menschen sich bewegen, ohne den ein Zusammenleben überhaupt nicht möglich wäre“ (VA 183). „Schrankenlosigkeit kann zwar durch die Grenzen und Gesetze, ohne welche politische Körper noch nicht einmal entstehen, geschweige denn überdauern würden, niemals mit unbedingter Zuverlässigkeit aus dem Bereich menschlicher Angelegenheiten ausgeschaltet werden, aber sie wird durch sie doch weitgehend eingedämmt.“ (VA 183) Der Rahmen ist jedoch nicht in Stein gemeißelt, sondern selber auch immer instabil, ein Rahmen, „in dem Menschen sich bewegen, ohne den ein Zusammenleben überhaupt nicht möglich wäre, und der doch oft noch nicht einmal stabil genug ist, um dem Ansturm zu widerstehen, mit dem jede neue Generation der Geborenen sich in ihn einschaltet.“ (VA 183) Die „Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten“ ist nicht der Sündhaftigkeit des Menschen geschuldet, sondern der Tatsache, „dass immer neue Menschen in diesen Bereich fluten und in ihm ihren Neuanfang durch Tat und Wort zur Geltung bringen müssen.“ (VA 183)


II.3 Die Unabsehbarkeit des Handelns. Initiativen können von Einzelnen ausgehen, aber Handeln ist immer angewiesen auf das Mithandeln anderer. Immer ist es eine Kettenreaktion, die jemand in Gang setzt, weil „jeder Vorgang sofort andere Vorgänge veranlasst. Da Handeln immer auf zum Handeln begabte Wesen trifft, löst es niemals nur Re-aktionen aus, sondern ruft eigenständiges Handeln hervor, das nun seinerseits andere Handelnde affiziert.“ (VA 182)

Im Unterschied zur Schrankenlosigkeit (siehe II.2) kann die Unabsehbarkeit der Folgen nicht wirklich eingedämmt werden. „Die Unabsehbarkeit der Folgen gehört vielmehr zum Gang der von einem Handeln unweigerlich erzeugten Geschichte; sie bildet die dieser Geschichte eigene Spannung, die ein Menschenleben spannt und in Atem hält, und ohne die es vor Langeweile förmlich in sich zusammenfallen müsste.“ (VA 184) Handlungsketten kann man im Grunde immer erst vom Ende her verstehen und beurteilen. Das gilt für alle Handlungsprozesse, „gleich welchen Inhalt und Charakter sie haben, ob sie im Privaten oder im Öffentlichen sich abspielen, ob viele oder wenige an ihnen beteiligt sind“ (VA 184).

II.4 Das Maßhalten als politische Tugend. „Weil Handeln von sich aus gar nicht anders als maßlos sein kann, ist Maßhalten seit eh und je eine der klassischen politischen Tugenden und die Hybris seit eh und je die spezifische Versuchung des handelnden Menschen gewesen, wie die in diesen Dingen nur zu erfahrenen Griechen nicht müde wurden, sich selbst vorzuhalten. Der Wille zur Macht hingegen ist ein spezifisch modernes Phänomen, das nicht so sehr aus dem Handeln als aus der Ohnmacht moderner Menschen im Bereich des Politischen stammt; aber Hybris und Maßlosigkeit sind die Versuchungen, die allem Handeln als solchen eigen sind.“ (VA 183)


II.5 Die Wahrheit als Grenze der Politik. Das Vermögen der Lüge zeigt, wie die Freiheit, dass wir „der Natur nicht absolut verpflichtet“ sind, sondern uns über sie erheben und von ihr befreien können. Das drückt die Größe der Politik aus und weist zugleich darauf hin, dass die politischen Gemeinschaften, wenn sie nicht dem Allmachtswahn verfallen wollen, sich selber begrenzen und zur Einhaltung der Wahrheit verpflichten müssen. „Denn worum es in diesen Betrachtungen geht, ist zu zeigen, dass dieser Raum [der Politik] trotz seiner Größe begrenzt ist, dass er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. Was ihn begrenzt, sind die Dinge, die Menschen nicht ändern können, die ihrer Macht entzogen sind und die nur durch lügenden Selbstbetrug zum zeitweiligen Verschwinden gebracht werden können. Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr inhärente Versprechen, dass Menschen die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert. Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“ (WuP 369f)


II.6 Der Raum der Politik. „Wer seine Polis verlässt oder aus ihr verbannt wird, verliert nicht nur seine Heimat oder sein Vaterland, sondern er verliert den Raum, in welchem allein er frei sein konnte; er verliert die Gesellschaft derer, die seinesgleichen sind.“ (WiP 41) Die Freiheit ist an den umgrenzten Raum der Politik gebunden, in dem sie zur Erscheinung kommen kann. „So war Freiheit für griechisches Denken selber noch einmal verwurzelt, an einen Standort gebunden und räumlich begrenzt, und die Grenzen des Raumes der Freiheit fielen mit den Mauern der Stadt, der Polis oder, genauer gesagt, der von ihr eingeschlossenen Agora, zusammen. Außerhalb dieser Grenzen lag auf [der] einen Seite das Ausland, in dem man nicht frei sein konnte, weil man in ihm nicht mehr ein Bürger oder besser ein politischer Mensch war; und auf der anderen [Seite] der private Haushalt, in dem man dies auch nicht sein konnte, weil die anderen Gleichberechtigten fehlten, die zusammen allein den Raum der Freiheit konstituierten.“ (WiP 99)

Landesgrenzen sind unverzichtbar, und ein Weltstaat kann nur in einer Tyrannei enden. „Welche Form immer eine solche Weltregierung, deren Macht sich über den ganzen Erdball erstrecken würde, annehmen würde, es liegt in der Natur der Sache, dass mit ihrer Verwirklichung die furchtbarste Tyrannis sich der Herrschaft über die Menschen bemächtigt hätte; denn die Souveränität der Staaten ist nur erträglich, weil sie durch die Souveränität ihrer Nachbarn prinzipiell begrenzt und kontrolliert ist, und das Staatsmonopol aller Gewaltmittel erdrückt den Staatsbürger nur darum nicht, weil die Grenze in den Nachbarstaat und eine andersgeartete Verfassung in Notzeiten immer offen steht. […] Politik und alle Begriffe, die aus diesem Bereich erwachsen, setzen Pluralität, Unterschiedenheit und gegenseitige Begrenzung voraus. Der Begriff Bürger bedeutet grundsätzlich: ein Bürger unter anderen Bürgern eines Landes unter anderen Ländern. Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten sind definiert und begrenzt nicht nur durch die Existenz der Mitbürger des betreffenden Landes, sondern auch von den Grenzen des Territoriums. Die Philosophie mag eine Vorstellung von der Erde überhaupt als der Heimat des Menschengeschlechts haben, für das in seiner Gesamtheit ein ewiges, überall gültiges, ungeschriebenes Gesetz existiert; die Politik hat mit Menschen im Plural und nicht mit einem Menschengeschlecht oder dem Menschen überhaupt zu tun, und diese Menschen sind Bürger vieler Nationen und Erben vieler Vergangenheiten. Sie leben innerhalb des positiven Rechts, und ihre Gesetze sind die festen Gehege, welche den Raum, in dem Freiheit kein Begriff und keine Vorstellung, sondern eine lebendige politische Realität ist, einschließen, ihn schützen und abgrenzen.“ (MZ 101f3)

Wie die Grenze der Wahrheit sind auch die räumlichen und gesetzlichen Grenzen, die das politische Handeln benötigt, um sich entfalten zu können, nicht von der Natur vorgegeben. Der schützende Zaun um Haus und Hof, die Landesgrenzen, die physische Identität, die Gesetze, die die politische Existenz der Völker bestimmen und einhegen, werden von außen an diesen Bereich herangetragen, in dessen Innerem die Tätigkeiten des Handelns und Sprechens wirken. Sie entstammen nicht dem Bereich des Handelns, sondern dem Bereich des Herstellens. Für die Griechen jedenfalls sind Gesetze und Grenzen nicht das Ergebnis von politischem Handeln, sondern in gewisser Weise präpolitisch. „Das Gesetz ist der von einem Menschen erstellte und hergestellte Grenzwall, innerhalb dessen nun der Raum des eigentlich Politischen ersteht, in dem die Vielen sich frei bewegen. […] Es geht im wesentlichen um Grenzziehung und gerade nicht um Bindung und Verbindung. Das Gesetz ist gleichsam das, wonach eine Polis ihr weiteres Leben angetreten hat, das sie nicht abschaffen kann, ohne die eigene Identität aufzugeben, und gegen das zu verstoßen dem Überschreiten einer dem Dasein gesetzten Grenze gleichkommt und daher Hybris ist.“ (WiP 111f) Der Gesetzgeber gleicht für die Griechen (und auch für Machiavelli) dem Erbauer der Stadtmauern, „dessen Werk ein für allemal getan und beendigt sein musste, bevor das eigentlich politische Leben mit den ihm eigenen Tätigkeiten beginnen konnte“ (VA 187). Bei den Römern dagegen ist „Gründung“ das politische Handeln par excellence.


II.7 Natürliche Muster und Naturgesetze können niemals das Modell politischer Ordnungen sein. Wo immer politische Ordnungen aus der natürlichen Ordnung der Dinge hergeleitet werden, haben wir es mit einer irreführenden Reaktion auf die Aporien des menschlichen Handelns zu tun. So z.B. wenn der Altersunterschied oder die Eltern-Kind-Beziehungen herangezogen werden, um die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit von Herrschaft zu erklären. Tatsächlich ist seit Aristoteles immer wieder die Beziehung zwischen Eltern und Kind und Jungen und Alten als Modell für die Demonstration einer „naturgegebenen Notwendigkeit“ herangezogen worden, „menschliches Zusammenleben so einzurichten, dass es in ihm immer Befehlende und Gehorchende, Herrscher und Beherrschte“ gibt. (ZVZ 1644)

Die Natur des Menschen ist nicht politisch. Und die natürlichen Lebensgemeinschaften der Menschen, also Familien und Verwandtschaften sind es auch nicht. Sowohl die Verschiedenheit wie die Gleichheit der Menschen, die für die Politik unverzichtbar sind, werden darin ausgelöscht. „Der Ruin der Politik nach beiden Seiten entsteht aus der Entwicklung politischer Körper aus der Familie.“ (WiP 10) Familie und Verwandtschaft sollen Unterkünfte und feste Burgen in einer unwirtlichen und fremdartigen Welt sein. “Dies Begehren führt zu der grundsätzlichen Perversion des Politischen, weil es die Grundqualität der Pluralität aufhebt oder vielmehr verwirkt durch die Einführung des Begriffes Verwandtschaft.“ (WiP 10f) Auch der Nationalismus rechtfertigt sich mit der Vorstellung einer Gleichsetzung der Nation mit den Bezügen, die zwischen den Mitgliedern einer Familie und in Verwandtschaftsverhältnissen existieren. (VA 251)


II.8 Der Naturzustand und die Menschenrechte. „Innerhalb der zivilisierten Welt […] ist der Naturzustand […] in den Staaten- und Rechtlosen verkörpert, die, indem sie aus allen menschlichen Gemeinschaften herausgeschleudert wurden, auf ihre naturhafte Gegebenheit und nur auf sie zurückgeworfen sind. Sie sind, nachdem sie aufgehört haben, als Deutsche oder Russen oder Armenier oder Griechen anerkannt zu sein, nichts als Menschen; jedoch sofern sie von aller Teilhabe an der von Menschen errichteten und von ihren Künsten ersonnenen Welt ausgeschaltet sind, besagt dies Menschsein nicht mehr, als dass sie dem Menschengeschlecht in der gleichen Weise zugehören wie Tiere der ihnen vorgezeichneten Tierart.“ (EuU 469) Im Naturzustand wie im Zustand der Staatenlosigkeit gibt es nur Menschenrechte, alle anderen Rechte sind verloren gegangen. Der Staatenlose ist zwar Mensch, aber er ist „nichts […] als ein Mensch, ist er doch dies gerade nicht durch die gegenseitig sich garantierende Gleichheit der Rechte, sondern in seiner absolut einzigartigen, unveränderlichen und stummen Individualität, der der Weg in die gemeinsame und darum verständliche Welt dadurch abgeschnitten ist, dass man ihn aller Mittel beraubt hat, seine Individualität in das Gemeinsame zu übersetzen und in ihm auszudrücken.“ (EuU 469f)

Die Kritik der Menschenrechte von Arendt klingt wie eine Weiterführung der Argumentation von Burke, der in seiner „bis auf den heutigen Tag erregend brillante[n] Argumentation“ die Auslegung des „einfachen und höchst bemerkenswerten Tatbestandes“ vornimmt, „dass das lateinische Wort für ‚Mensch‘, homo, ursprünglich jemandem galt, der ‚nur ein Mensch‘ war und kein Bürger, und dass als ‚Menschen‘ im wesentlichen die Sklaven bezeichnet wurden. Mit anderen Worten, erst wenn ein ‚Mensch‘ Mitglied eines bestimmten Gemeinwesens wurde, ein Römer oder ein Engländer, konnte er Rechte erwerben; solange er nichts war als ein Mensch, war er rechtlos.“ (ÜR 55f) „Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied.“ (EuU 453)


II.9 In der Natur gibt es keine Freiheit, sondern nur Notwendigkeit. Der natürliche Weg ist immer der Untergang und die Katastrophe. Und für deren Verhinderung nehmen wir die Freiheit in Anspruch. Da wird auch deutlich die Redeweise davon, dass in der totalen Herrschaft die Überflüssigkeit des Menschen demonstriert wird. „Überlässt man die Angelegenheiten der Menschen sich selbst und greift nicht in sie ein, so können sie nur dem Gesetz folgen, das das Leben der Sterblichen beherrscht und sie von der Stunde der Geburt unabwendbar dem Tode zueilen lässt. Es ist genau an dieser Stelle, dass das Vermögen zu handeln einsetzt; es unterbricht den automatischen Ablauf des Alltäglichen, das seinerseits bereits, wie wir sahen, in gewissem Sinne den Kreislauf des biologischen Lebens unterbrach und arbeitend in ihn eingriff. Ohne diese Fähigkeiten des Neubeginnens, des Anhaltens und des Eingreifens wäre ein Leben, das, wie das menschliche Leben, von Geburt an dem Tode ‚zueilt‘, dazu verurteilt, alles spezifisch Menschliche immer wieder in seinen Untergang zu reißen und zu verderben.“ (VA 242)




III. Die Menschen sind nicht von Natur aus politische Lebewesen


III.1 Politik ist keine natürliche Selbstverständlichkeit.
Keineswegs ist es so, dass es Politik immer und überall gibt und gegeben hat, wo Menschen zusammenleben. Das ist auch nicht die Bedeutung des zoon politikon von Aristoteles. „Aristoteles, für den das Wort ‚politikon‘ durchaus ein Adjektiv der Polis-Organisation und nicht eine beliebige Bezeichnung für menschliches Zusammenleben überhaupt war, meinte keineswegs, dass alle Menschen politisch seien oder dass es Politik, nämlich eine Polis, überall gäbe, wo Menschen lebten. Aus seiner Definition waren nicht nur die Sklaven ausgeschlossen, sondern auch die Barbaren asiatischer, despotisch regierter Reiche, an deren Menschsein er keineswegs zweifelte. Was er meinte, war lediglich, dass es eine Eigentümlichkeit des Menschen ist, dass er in einer Polis leben kann und dass diese Polis-Organisation die höchste Form menschlichen Zusammenlebens darstellt und daher in einem spezifischen Sinne menschlich ist, gleich weit entfernt von dem Göttlichen, das für sich allein in voller Freiheit und Eigenständigkeit bestehen kann, und dem Tierischen, dessen Zusammen, wo es besteht, eine Form des Lebens in seiner Notwendigkeit ist. Politik also im Sinne des Aristoteles […] ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit und findet sich keineswegs überall, wo Menschen zusammenleben. Es gab sie, nach Meinung der Griechen, nur in Griechenland und auch dort nur für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum.“ (WiP 37f)

Erst mit der aktiven Zugehörigkeit zu politischen Gemeinwesen und mit dem Interesse an der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten machen sich die Menschen zu politischen Wesen. „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“ (VA 165) Die Polis ist der Raum, in dem Menschen handelnd und sprechend in Erscheinung treten und erinnert und gerühmt werden. Keineswegs gibt es diesen Raum automatisch überall dort, wo Menschen zusammenleben, nur weil Menschen zum Handeln begabte und der Sprache mächtige Wesen sind. „Selbst wo er existiert, pflegt die Mehrzahl der gerade Lebenden sich außerhalb seiner zu bewegen – wie die Sklaven- und Fremdenbevölkerung der Polis und die Bewohner der großen ‚barbarischen‘ Reiche im Altertum, die Arbeiter und Handwerker vor dem Anbruch der Neuzeit, oder auch die nur auf ihren Lebensunterhalt bedachte, erwerbstätige Bevölkerung der modernen Welt.“ (VA 192)

Dauerhaft und ausschließlich kann man sich nicht im hellen Licht der Öffentlichkeit aufhalten. Man braucht auch die Verborgenheit, die für das Lebendigsein unverzichtbar ist. Lebendigsein und Wirklichsein sind zwei unterschiedliche Dinge. Das Wirklichsein entsteht nur dort, „wo die Wirklichkeit der Welt durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint“ (VA 192f).


III.2 Das ‚initium‘, das der Mensch ist.
Die Menschen werden als Neuankömmlinge in die Welt geboren und sind befähigt, Neues zu unternehmen, also zu handeln. Handeln ist aber keine Naturnotwendigkeit. Wir „realisieren“ und „artikulieren“ diese mit dem Faktum der Natalität gegebene Fähigkeit erst, wenn wir tatsächlich handeln und reden (VA 242). Handelnd und sprechend zeigen wir, wer wir sind. „Die Art und Weise, in der Menschen Wirkliches als wirklich erfahren, verlangt, dass sie die schiere Gegebenheit der eigenen Existenz realisieren, nicht etwa weil sie sie ändern könnten, sondern um zu artikulieren und zu aktualisieren, was sie sonst nur erleiden und erdulden würden.“ (VA 203)

Es ist diese Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen, die uns aus dem Kreis der ewigen Wiederkehr eines in sich geschlossenen Werdens herausführt. Damit greifen wir in den natürlichen Prozess ein, in dem alles von der Stunde der Geburt unabwendbar dem Tod zueilt. Das Handeln ist die Unterbrechung dieses natürlichen Gangs der Dinge. Das ist ein Wunder, das auch in der Kraft des Verzeihens zum Ausdruck kommt. Im Verzeihen brechen wir aus dem Kreislauf von Aktion und Reaktion aus und setzen an die Stelle der Re-Aktion eine Aktion, die etwas Neues ermöglicht. Die natürliche Basis für die Fähigkeit, Neues zu beginnen, also zu handeln, liegt im Faktum der „Gebürtlichkeit“, der Natalität. „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz‘ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann.“ (VA 243)

„In der Pluralität, in deren Zwischen Macht entsteht, bewältigen die Menschen die Natur und errichten die Welt, oder sie beherrschen die Natur und errichten eine sich selbst vernichtende Welt. Das ‚initium‘, das der Mensch ist, verwirklicht sich nur in dieser Sphäre des Zwischen. Mit dem Ursprung der Macht im Zwischen entspringt der Anfang. Daher heißt ˜rxë Anfang und Herrschaft […].˜rxë ist Anfang und Macht in Einem.“ (DT 161)


III.3 Physis und Nomos.
Wir werden geboren als Mann oder Frau, mit schwarzer oder weißer Haut, als Jude, Christ oder Muslim, als Angehöriger eines Volkes etc. Einen Teil dieser Attribute können wir abstreifen, andere nicht, sie gehören zu uns, die anderen gehen zurück auf menschliches Tun. Für physis gilt: Wir sind der Natur absolut verpflichtet. Für nomos gilt: Wir sind der Natur nicht verpflichtet und sich in diesem Bereich auf Natur zu berufen, wäre eine Ausflucht.

Scholem sagt in seinem Brief an Arendt: „Ich betrachte Sie durchaus als Angehörige dieses [nämlich des jüdischen] Volkes und als nichts anderes.“ Und er verbindet damit die Erwartung einer besonderen „Liebe“ zu diesem Volk. Arendt antwortet am 20. 7. 1963: „Tatsache ist, dass ich nicht nur niemals so getan habe, als sei ich etwas anderes als ich bin, ich habe niemals auch nur die Versuchung dazu verspürt. Es wäre mir vorgekommen wie zu sagen, dass ich ein Mann sei und nicht eine Frau, also verrückt. […] Jude sein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens, und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen. Eine solche Gesinnung grundsätzlicher Dankbarkeit für das, was ist, wie es ist, gegeben und nicht gemacht, ‚physei‘ und nicht ‚nomō‘, ist präpolitisch.“ (Scholem-Brief 31f)

Die Geschlechterdifferenz (und vieles andere mehr) gehört für Arendt zu den natürlichen Gegebenheiten, die zu leugnen nur in Fiktionen und Weltlosigkeit münden kann. Wie andererseits alles Weltliche zum Bereich der Physis zu zählen, das Handeln in Herstellen verwandelt und damit Freiheit abschafft.


III.4 Kultur. Die Menschen sind auch kulturelle Wesen. Im brieflichen Austausch mit der Freundin Mary McCarthy heißt es: „Culture is always cultivated nature—nature being tended and being taken care of by one of nature’s products called man. If nature is dead culture will die too, together with all the artifacts of our civilization.“5 Kultur als „Weltphänomen“ ist gefährdet von Vergnügen, dem „Lebensphänomen“. „Kultur ist ein Weltphänomen, und Vergnügen ist ein Lebensphänomen. Wenn das Leben nicht mehr zufrieden ist mit dem Vergnügen, das in dem verzehrenden Stoffwechsel des Menschen mit der Natur neben der Mühe und Arbeit immer auch enthalten ist, weil seine Lebensenergie sich in diesem Kreislauf nicht mehr erschöpfen kann, dann kann es zu den Dingen der Welt greifen, sich an ihnen vergreifen und sie verzehren. Es wird dann die Welt- oder Kulturdinge so zubereiten, daß sie konsumierfähig werden, das heißt, es wird sie so behandeln, als seien sie Naturdinge, die ja auch zubereitet werden müssen, ehe sie in den Stoffwechsel des Menschen eingehen können. Den Naturdingen kann dies Verzehrtwerden nichts anhaben […]. Aber die Dinge der Welt, welche der Mensch hergestellt hat […] erneuern sich nicht von selbst. Sie verschwinden einfach, wenn das Leben sich ihrer bemächtigt und sie zu seinem Vergnügen verzehrt.“ (ZVZ 2806)


III.5 Rasse und Rassismus. Auch die Unterschiede der „Rasse“ sind durch die Natur gegeben und unverfügbar. Daraus politische oder normative Folgerungen abzuleiten, ist Rassismus, der stets gewaltträchtig ist. „Jeder Rassismus, der weiße wie der schwarze, ist von Haus aus gewaltträchtig, weil er gegen natürliche, organische Gegebenheiten protestiert, eine schwarze oder eine weiße Haut, die nicht von Meinungen abhängen, und an denen keine Macht etwas ändern könnte; kommt es hart auf hart, so bleibt nichts als die Ausrottung der Träger. Rassismus ist, im Unterschied zur Rasse selbst, keine tatsächliche Gegebenheit, sondern eine zur Ideologie entartete Meinung, und die Taten, zu denen er führt, sind keine bloßen Reflexe, sondern Willensakte, die sich logisch aus gewissen pseudowissenschaftlichen Theorien ergeben.“ (MuG 75)



III.6 ‚als Jude‘.
Der Hinweis auf die Natur ist kein politisches Argument. Die Natur ist auch kein Grund für Schwärmerei. Aus dem, was jemand von Natur aus ist, ein politisches Argument zu machen, ist unpolitisch. Das gilt zum Beispiel für die Frage der durch Geburt gegebenen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Politisch besagt das noch gar nichts. Es ist kein Vorzug, aber auch nichts, dessen man sich schämen oder das man verleugnen müsste. Es gehört einfach zu den Tatsachen, zu denen man sich verhalten muss. Auf den Vorwurf von Scholem, dass es ihr an Ahabath Israel fehle, also an Liebe zum jüdischen Volk, antwortet sie in ihrem Brief: „Sie haben vollkommen recht, dass ich eine solche ‚Liebe‘ nicht habe, und dies aus zwei Gründen: Erstens habe ich nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv ‚geliebt‘, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder was es sonst so noch gibt. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Zweitens aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt. Ich liebe nicht mich selbst und nicht dasjenige, wovon ich weiß, dass es irgendwie zu meiner Substanz gehört. […] Also, in diesem Sinne ‚liebe‘ ich die Juden nicht und ‚glaube‘ nicht an sie, sondern gehöre nur natürlicher- oder faktischerweise zu diesem Volk.“ (Scholem-Brief 32f)

Und im Gaus-Interview sagt sie: „Zu einer Gruppe zu gehören, ist erst einmal eine natürliche Gegebenheit. Sie gehören zu irgendeiner Gruppe durch Geburt, immer. Aber zu einer Gruppe zu gehören, wie Sie es im zweiten Sinne meinen, nämlich sich zu organisieren, das ist etwas ganz anderes. Diese Organisation erfolgt immer unter Weltbezug. Das heißt, dass, was diejenigen miteinander gemeinsam haben, die sich so organisieren, ist, was man gewöhnlich Interesse nennt.“ (GI 65)

Allerdings betont sie auch: „‚Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.‘ Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder Menschenrechte oder so. Sondern: Was kann ich ganz konkret als Jude machen?“ (GI 59) Diese Überlegung spielt in mehreren Briefen an Jaspers eine Rolle: „Eines aber erscheint auch mir klar: wenn Juden in Europa bleiben sollen können, dann nicht als Deutsche oder Franzosen etc., als ob nichts geschehen sei. Mir scheint, keiner von uns kann zurückkommen (und Schreiben ist doch eine Form des Zurückkommens), nur weil man nun wieder bereit scheint, Juden als Deutsche oder sonst was anzuerkennen; sondern nur, wenn wir als Juden willkommen sind.“ (A/J 68, Brief vom 29. Jan. 1946)

„Eben sehe ich noch Ihre Frage, ob ich Deutsche oder Jüdin sei. Ehrlich gesagt, es ist mir persönlich und individuell gesehen ganz egal. Die Heinesche Lösung geht leider nicht mehr. Es war doch die Lösung des Traumweltherrschers. Dafür ist es aber auch, trotz allem äußeren Anschein, nicht mehr so wichtig. Ich möchte so sagen: Politisch werde ich immer nur im Namen der Juden sprechen, sofern ich durch die Umstände gezwungen bin, meine Nationalität anzugeben.“ (A/J 106, Brief vom 17. Dez. 1946) „Unter freien Zuständen sollte eigentlich jeder einzelne entscheiden dürfen, was er nun gerne sein möchte, Deutscher oder Jude oder was immer. In einer a-nationalen Republik wie den Vereinigten Staaten, in denen Nationalität und Staat nicht identisch sind, wird das dann mehr oder minder zu einer Frage, die nur noch soziale und kulturelle Bedeutung hat, aber politisch bedeutungslos ist. […] In dem Nationalstaat-System Europas ist das alles schwieriger; aber, mein Gott, wenn ein Deutscher sagt, er möchte lieber Italiener sein oder vice versa und danach handelt, warum denn nicht? […] Woran mir liegen würde und was man heute nicht erreichen kann, wäre eigentlich nur eine solche Änderung der Zustände, dass jeder frei wählen kann, wo er seine politischen Verantwortlichkeiten auszuüben gedenkt und in welcher kulturellen Tradition er sich am wohlsten fühlt. Damit endlich die Ahnenforschung hüben und drüben ein Ende hat. Momentan scheint mir am wichtigsten, all diese Fragen nicht zu überschätzen, weil man sonst immer wieder vergisst, dass dies doch vermutlich die Sintflut ist, in der man am besten tut, sich nirgends ganz häuslich einzurichten, sich auf kein Volk wirklich zu verlassen, denn es kann sich im Nu in Masse verwandeln und in ein blindes Werkzeug des Verderbens.“ (A/J 127f, Brief vom 4. Sept. 1947) „Die Republik hier, die den Nationalitäten Freiheit lässt und doch jeden als Bürger einbezieht, ja selbst den Immigranten bereits als zukünftigen Bürger behandelt.“ (A/J 135, Brief vom 30. Juni 1947)

Es geht hier um die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit. „Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung.“ (VA 164) – Es geht aber auch um die Frage, ob es Fälle gibt, in denen einem der Gegner gleichsam das Gesetz des Handelns vorgibt und diktiert: Wenn man „als Jude“ angegriffen wird, […]

Arendt greift die Frage wieder auf in ihrer „Zueignung an Karl Jaspers“, die sie den Sechs Essays (1948) voranstellt, ihrer ersten Buchpublikation nach dem Ende des Krieges. Dort findet sie zu der Lösung eines ‚gleichsam leeren Raums‘, „in welchem es nicht mehr Nationen und Völker gibt, sondern nur noch Einzelne, für die es nicht mehr sehr erheblich ist, was die Mehrzahl der Menschen jeweils gerade denkt, und sei es die Mehrzahl des eigenen Volkes. Für die notwendige Verständigung zwischen diesen Einzelnen, die es heute in allen Völkern und allen Nationen der Erde gibt, ist es wichtig, dass sie lernen, sich nicht krampfhaft an ihren eigenen nationalen Vergangenheiten festzuhalten – Vergangenheiten, die doch nichts erklären.“ (KGA 3: 14)


III.7 Die Rebellion des Menschen gegen sein Dasein.
Unübersehbar ist nach Arendt die Tendenz, dass die neuzeitlichen Menschen die Nabelschnur, die sie an die Erde als Mutter alles Lebendigen bindet, zerschneiden. Unbedingt wollen sie die Bedingungen hinter sich lassen, „unter denen die Menschen das Leben empfangen haben“. Das steht hinter den Versuchen, „Leben in der Retorte zu erzeugen oder durch künstliche Befruchtung Übermenschen zu züchten oder Mutationen zustande zu bringen, in denen menschliche Gestalt und Funktionen radikal ‚verbessert‘ werden würden, wie es sich vermutlich auch in den Versuchen äußert, die Lebensspanne weit über die Jahrhundertgrenze auszudehnen.“ (VA 9)

Diese Rebellion des Menschen gegen die natürliche Bedingtheit seines Daseins auf der Erde ist für Arendt zutiefst kritikwürdig und ein Ausdruck der Erdentfremdung, die mit Weltentfremdung einhergeht. Es ist die „Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein […], nämlich gegen das, was ihm bei der Geburt als freie Gabe geschenkt war, und was er nun gleichsam umzutauschen wünscht gegen Bedingungen, die er selbst schafft“ (VA 9). Die Entwicklungen in diesem Bereich laufen hinaus „auf eine Rebellion gegen eines der Grundfakten menschlicher Existenz […] schließlich ist nichts offenkundiger, als dass der Mensch, als Gattungswesen wie als Individuum, seine Existenz nicht sich selbst verdankt“ (MuG 16f). Offenbar ist genau dieses Unverfügbare, die Tatsache der Natalität, die Tatsache, dass wir endliche, begehrende und bedürftige Wesen sind (Klaus Heinrich), für den neuzeitlichen Menschen eine unerträgliche Einschränkung seines Wunsches nach Autonomie und Souveränität. In Wirklichkeit ist sie aber die Bedingung freien politischen Handelns.


III.8 Pluralität, Gleichsein und Verschiedensein.
Wie „Mann und Frau nur gleich sein können, menschlich nämlich, indem sie voneinander absolut verschieden sind, so kann der Angehörige jeglichen Landes in die Weltgeschichte der Menschheit nur eintreten, indem er bleibt, was er ist, und daran festhält. […] Die Einheit der Menschheit und ihre Solidarität kann nicht bestehen in einem universalen Weltabkommen über eine Religion, eine Philosophie oder eine Regierungsform, sondern nur in dem Vertrauen, dass das Vielfältige hindeutet auf ein Eins-Sein, das durch Verschiedenheiten gleichzeitig verhüllt und enthüllt wird.“ (MZ 1117) Man muss darauf bestehen, „dass nicht der Mensch, im einsamen Dialog zu sich selbst redend, die Erde bevölkert, sondern die Menschen, die miteinander reden und sich verständigen“ (MZ 1128).


III.9 Arbeiten und Herstellen sind auf Natur angewiesen, Handeln nicht. Das Ziel des animal laborans besteht darin, das Leben zu erleichtern und zu verlängern, das Ziel des homo faber ist, die Welt schöner oder nutzbringender zu gestalten. (VA 203) Arbeit ist der ewige Stoffwechsel des Menschen mit der Natur (Marx). Herstellen ist auf die ständige Zufuhr natürlicher Rohstoffe angewiesen: „Das Element der Zerstörung in allem Herstellen.“ (DT 61) „Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo Faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört.“ (VA 127) Handeln dagegen hat mit der Natur nichts zu tun, sondern beruht auf dem Herstellen von Bezügen zwischen den Handelnden. Deswegen gibt es im Handeln die große Versuchung der Grenzenlosigkeit.



III.10 Freiheit und Souveränität.
Die „Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit […], die in der Tat mehr oder weniger ausdrücklich von nahezu dem gesamten politischen und philosophischen Denken der Überlieferung vorausgesetzt wird“, ist „ein grundsätzlicher Irrtum“. „Wären Souveränität und Freiheit wirklich dasselbe, so könnten Menschen tatsächlich nicht frei sein, weil Souveränität, nämlich unbedingte Autonomie und Herrschaft über sich selbst, der menschlichen Bedingtheit der Pluralität widerspricht. Kein Mensch ist souverän, weil Menschen, und nicht der Mensch, die Erde bewohnen, und dieses Faktum der Pluralität hat nichts damit zu tun, dass der Einzelne, auf Grund seiner nur begrenzten Kraft, abhängig ist von Anderen, die ihm gewissermaßen helfen müssen, überhaupt am Leben zu bleiben. Alle Ratschläge, welche die Tradition uns anzubieten hat, uns in souveräner Freiheit von anderen zu halten, laufen darauf hinaus, eine ‚Schwäche‘ der menschlichen Natur zu überwinden und zu kompensieren, und diese Schwäche ist im Grunde nichts anderes als die Pluralität selbst.“ (VA 229f)

Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Souveränität gilt auch für die Beziehungen zwischen den Staaten. „Solange nationale Unabhängigkeit, die Freiheit von Fremdherrschaft, auf die jedes Volk ein Recht hat, und Staatssouveränität, unkontrollierte und unbegrenzte Macht in außenpolitischen Angelegenheiten, gleichgesetzt werden, ist ein gesicherter Friede so utopisch wie die Quadratur des Kreises.“ (MuG 9f)



IV. Die außermenschliche Natur I: Die Erde

IV.1 Die Erde passt gut zum Menschen. Wir können auf der Erde atmen und uns ernähren ohne allzu viele künstliche Hilfsmittel. Die Sinne helfen uns dabei. Und die Erde räumt uns zugleich die Möglichkeit ein, ungesehene und unerhörte Taten zu tun und das Glück politischen Handelns zu erfahren. Kurz: Die Erde ist einzigartig im Weltall, weil sie solchen Wesen, wie Menschen es sind, die Bedingungen bereitstellt, „unter denen sie ohne Umstände und ohne auf von ihnen selbst ersonnene Mittel angewiesen zu sein, leben und sich bewegen und atmen können“ (VA 8). Die Welt ist ein Gebilde von Menschenhand und der Natur nicht absolut verpflichtet. Das „Leben als solches geht in diese künstliche Welt nie ganz und gar ein, wie es auch nie ganz und gar in ihr aufgehen kann; als ein lebendes Wesen bleibt der Mensch dem Reich des Lebendigen verhaftet, von dem er sich doch dauernd auf eine künstliche, von ihm selbst errichtete Welt hin entfernt.“ (VA 8f) Die Menschen sind animalia und gehören dem Reich des Lebendigen im biologischen Sinne an. Sie sind und bleiben „durch die sinnlich-leibhaftig gegebenen irdischen Verhältnisse“ bedingt (VA 277), immer „abhängig von dem Stoffwechsel mit irdischer Materie“ (VA 262) und stets begrenzt durch Geburt und Tod (MuG 30).


IV.2 Die Erde als Gefängnis. Nach dem Abschuss der ersten Satelliten im Jahre 1957 beobachtet Arendt als Reaktion „ein kurioses Gefühl der Erleichterung‚ ein ‚dass der erste Schritt getan sei, um dem Gefängnis der Erde zu entrinnen‘. Und so phantastisch uns die Vorstellung anmuten mag, dass die Menschen, der Erde müde, sich auf die Suche nach neuen Wohnplätzen im Universum begeben, so ist sie doch keineswegs die zufällige Entgleisung eines amerikanischen Journalisten, der sich etwas Sensationelles für eine Schlagzeile ausdenken wollte; sie sagt nur, und sicher ohne es zu wissen, was vor mehr als zwanzig Jahren als Inschrift auf dem Grabstein eines großen Wissenschaftlers in Russland erschien: ‚Nicht für immer wird die Menschheit an die Erde gefesselt bleiben.‘“ (VA 7f) „Die radikalste Veränderung in der menschlichen Bedingtheit, die wir uns vorstellen können, wäre eine Abwanderung auf einen anderen Planeten, und diese Vorstellung ist ja heute keineswegs mehr eine müßige Phantasie.“ (VA 17) Dann wären die Menschen immer noch bedingte Wesen, aber sie hätten die Bedingungen alle selber gemacht, sie wären dann nicht mehr die erdgebundenen Wesen, die sie heute sind und bisher immer waren. Vor dem 20. Jh. sei es niemand in den Sinn gekommen, die Erde als Gefängnis des menschlichen Körpers zu begreifen und allen Ernstes den Wunsch zu verfolgen, zu einem Ausflug auf den Mond anzusetzen. Dass das technisch möglich ist, daran gebe es keinen Zweifel. „Die Frage kann nur sein, ob wir unsere neue wissenschaftliche Erkenntnis und unsere ungeheuren technischen Fähigkeiten in dieser Richtung zu betätigen wünschen“ (VA 9). Das wiederum ist eine Frage, die nur politisch zu behandeln ist – eine politische Frage ersten Ranges, die „schon aus diesem Grund nicht gut der Entscheidung von Fachleuten, weder den Berufswissenschaftlern noch den Berufspolitikern, überlassen bleiben“ kann (VA 9).



IV.3 Natur, Naturprozesse, Naturdinge.
„Wir verstehen unter Naturprozessen Vorgänge, die ohne menschliche Hilfe entstehen, und wir verstehen unter Naturdingen all das, was nicht ‚gemacht‘ ist, sondern aus sich heraus wächst und eine Gestalt annimmt. (Dem entspricht auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ‚Natur‘, ob wir es nun aus dem lateinischen nasci, geborenwerden, herleiten oder es weiter in seine griechische Wurzel verfolgen und von der ‚Physis‘ sprechen, wörtlich dem Gewachsenen.) Im Unterschied zu dem, was die menschliche Hand mit oder ohne Zuhilfenahme eines Werkzeugs her- und aufstellt, was nur Schritt um Schritt bewerkstelligt werden kann, und wobei schließlich das Dasein des Produkts so weit von dem Vorgang seiner Herstellung geschieden ist, daß es überhaupt erst zu existieren anfängt, wenn dieser Vorgang zum Abschluß gekommen ist, ist die Existenz der Naturdinge von dem Wachstumsprozeß, in dem sie entstehen, nicht nur nicht zu trennen, sie ist mit ihm sogar auf eine geheimnisvolle Weise identisch: Das Samenkorn enthält nicht nur, sondern ist in gewissem Sinne bereits der Baum, und der Baum hört auf zu ‚sein‘, er stirbt, sobald der Wachstumsprozess, durch den er entstand, zum Stillstand kommt.“ (VA 136f)



IV.4 Entwicklung und Dynamisierung der Technik.
In einer ausführlichen Eintragung des Denktagebuchs vom März 1954 wird „schematisch“ die Entwicklung und Dynamisierung der Technik festgehalten:


„1. Herstellen von Gegenständen aus dem zugrundeliegenden und von der Natur gegebenen Material. Werkzeuge werden wie Gegenstände hergestellt und dienen nur zur Herstellung. Das menschliche Leben umgibt sich mit seinen eigenen Produkten, bleibt aber innerhalb seines Vollzugs als Lebendigsein völlig unbeeinflusst.

2. So wie man hergestellte Werkzeuge zum Herstellen benutzte, beginnt man Naturkräfte, und nicht natürlich geliefertes Material, zu gebrauchen. Wasser und Wind ersetzen menschliche Anstrengung. Damit geschieht ein erstes Eindringen der Natur in den Bereich menschlichen Lebens.

3. Dampfmaschinen und Explosionsmotor, die das industrielle Zeitalter einleiten, stellen durch Imitation die Naturkräfte selbst her, so dass nun der menschliche Bereich des Herstellens und Hergestellten beherrscht wird von hergestellten Naturkräften.
4. Mit der Atomzertrümmerung kommt das letzte Stadium auf seinen Höhepunkt, das mit der Elektrisierung der technischen Welt begann: Naturkräfte werden losgelassen, weder hergestellt noch eigentlich benutzt. Die Elemente selbst dringen in die menschliche Lebenswelt ein. Damit hat sich der Prozess des Sich-auf-der-Erde-Heimischmachens und -Einrichtens in sein Gegenteil verkehrt, und die ursprüngliche Antinomie zwischen menschlichem Leben, das nicht in der naturhaft gegebenen Welt einfach existieren kann, und den Erd-elementen kommt wieder, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, zum Vorschein.“ (DT 479f9)


IV.5 Umweltzerstörung.
In der Rede zur Feier des 200. Jahrestages der Amerikanischen Revolution aus dem Jahre 1975 unter dem Titel „Home to Roost“ heißt es eher beiläufig und nebenher: Die „producer society“ hat sich in eine „consumer society“ verwandelt, „that could keep going only by changing into a huge economy of waste. […] This progress, accompanied by the incessant noise of the advertisement agencies, went on at the expense of the world we live in, and of the objects with their built-in obsolescence, which we no longer use but abuse, misuse, and throw away. The recent sudden awakening to the threats to our environment is the first ray of hope in this development, although nobody, as far as I can see, has yet found a means to stop this runaway economy without causing a really major breakdown.“ (HtR 6710)

Es könnte sein, dass das die einzige Stelle ist, an der Arendt auf das Thema der Umweltzerstörung zu sprechen kommt.



V. Die außermenschliche Natur II: Die Eroberung des Weltraums


V.1 Die Eroberung des Weltraums.
Das Zentrum von Arendts Auseinandersetzung mit neuzeitlicher Wissenschaft und Technik bildet die Eroberung des Weltraums durch den Menschen. Hinzu kommt das Thema der möglichen Zerstörung der Welt durch die Atombombe. Damit steht Arendt im Kontext der Debatten der 1950er und 1960er Jahre über die technische Zivilisation. Auf der ersten Seite von Vita Activa bezieht sie sich auf das „Ereignis des Jahres 1957“, als „das erste von Menschen verfertigte Ding in das Weltall flog“ (VA 7) – das ist der erfolgreiche Abschuss eines Satelliten (Sputnik 1) in den Weltraum.

Die Voraussetzung für die Eroberung des Weltraums ist die Einnahme des archimedischen Punktes außerhalb, von dem aus die Naturwissenschaftler auf die Erde blicken. Insofern haben wir es nicht mit Natur-Wissenschaft, auch nicht mit Physik zu tun, sondern mit „astrophysics which looked upon the earth from a point in the universe“ (BPF 27811). „[…] the human brain […] is as terrestrial, earthbound, as any other part of the human body. It was precisely by abstracting from these terrestrial conditions, by appealing to a power of imagination and abstraction that would, as it were, lift the human mind out of the gravitational field of the earth and look down upon it from some point in the universe, that modern science reached its most glorious and, at the same time, most baffling achievements.“ (BPF 27112) Die neuzeitliche Wissenschaft und Technik führt uns weg von dieser Erde und verspricht uns einen archimedischen Punkt außerhalb, von dem aus wir die Welt betrachten und beherrschen können.


V.2 Zweifel und Misstrauen.
Ausschlaggebend für die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik ist die Erfindung des Teleskops durch Galilei. Seitdem ist die Wissenschaft nicht mehr darauf beschränkt, zu beobachten, zu registrieren und wahrzunehmen, sondern Naturerkenntnis wird zu einem Prozess, in dem die Wissenschaftler mit ausgeklügelten Experimenten aktiv in die Natur eingreifen. Das führt zu einem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, „der seit Jahrhunderten unbegrenzt und unbegrenzbar erscheint“ (ZVZ 6513). Mit dieser Entwicklung ist ein dramatischer Verlust des Vertrauens in die menschlichen Sinne verbunden. An seine Stelle tritt nicht nur der Zweifel, sondern vor allem das Misstrauen gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen und Phänomenen. Zweifel und Misstrauen gegen die Welt der Erscheinungen haben sich erst Jahrhunderte später als vorherrschendes allgemeines Lebensgefühl durchgesetzt und in der Weltentfremdung der modernen Menschen ihren Niederschlag gefunden. Die Menschen sind aber eigentlich „erdgebundene Wesen“ (VA 10), und bislang sind sie überhaupt nicht in der Lage, wirklich zu verstehen oder mindestens in Worte zu fassen, was sie machen, wenn sie diese ihre Erdgebundenheit abstreifen.

V.3 Das Paradox der modernen Wissenschaft. Eigentlich könnten und müssten uns die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik mit großem Stolz erfüllen. Eine Art von prometheischem Stolz auf den Fortschritt der Geschichte und der Naturbeherrschung finden wir im 19. Jahrhundert bei Hegel und Marx. Ihre Vorstellung, dass der Mensch sich selbst erschafft, ist die theoretische Basis jedes linken Humanismus, der auch für den westlichen Marxismus und für die Kritische Theorie bis zum Erscheinen der Dialektik der Aufklärung (1944/1947) maßgeblich war. Nach Hegel produziert sich der Mensch durch das Denken, nach Marx durch die Arbeit, nach Sartre durch die Gewalt. Für alle gilt: Am Ende macht die Beherrschung von Natur und Gesellschaft das politische Handeln überflüssig und ersetzt es durch eine Logik, die sich an der Tätigkeit des Ingenieurs orientiert.

„The paradox of the development of modern science seems to be that while it enhanced enormously the power of man, it resulted at the same time in a no less diminishment of man’s self-respect.“ (AP 814) Der Jubel über die Eroberung des Weltraums blieb aus, stattdessen breitete sich das Gefühl des „Unheimlichen“ aus, „dass von dem bestirnten Himmel über uns nun unsere eigenen Apparate und Geräte uns entgegenleuchten sollen“ (VA 7). Die Errungenschaften von Technik und Wissenschaft machen den Menschen in seinem Selbstgefühl nicht größer, sondern kleiner. Die Fortschritte der Naturwissenschaften und der Technik sind nicht mehr mit dem Fortschritt der Menschheit identisch, sondern könnten das Ende der Natur und der Menschengattung bedeuten (MuG 34). Mit Nietzsche: „Alle Wissenschaft, die natürliche sowohl wie die unnatürliche – so heiße ich die Erkenntnis-Selbstkritik – ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei.“ (AP 715)

Freud (von dem Arendt bekanntlich nichts hält) spricht von den drei narzisstischen Kränkungen, durch Kopernikus, durch Darwin und durch die Psychoanalyse. Günther Anders spricht von der Antiquiertheit des Menschen und von der prometheischen Scham. Einsteins „imagined ‚observer poised in free space‘“ (BPF 27416) und die Quantenphysik liefern dem Gefühl der Kränkungen und der Scham weitere Gründe.


V.4 Weltentfremdung und Verlust der Sprache.
Seit Galilei und mit den Errungenschaften von Technik und Wissenschaft entfernen sich die Menschen von der Erde. Erdentfremdung und Weltentfremdung sind parallele Phänomene. Für die Weltentfremdung ist die abnehmende Bedeutung der Sprache zentral. Wissenschaft und Technik tendieren zur Abschaffung der Sprache und ersetzen sie durch Informationssymbole. Die Wissenschaften bewegen sich nicht mehr in der Alltagssprache, sondern in Formeln, „die sich auf keine Weise zurück in Gesprochenes verwandeln lassen“ (VA 10).

Politisches Handeln ist aber an Sprache gebunden, denn „Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind. […] Was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann“ (VA 10). „Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.“ (VA 11) Der entscheidende Sachverhalt ist, „that man can do, and successfully do, what he cannot comprehend and cannot express in everyday human language“ (BPF 27017).


V.5 Wissenschaft und Technik tragen das Handeln in die Natur.
Die Entwicklungen in Wissenschaft und Technik führen zum Einreißen, Verschieben und Auflösen der Grenzen zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Neuzeitliche Wissenschaft und Technik verhalten sich „zur Natur als Handelnde“ (VA 226). Die handelnde Fähigkeit, spontane Prozesse loszulassen, die ohne den handelnden Menschen niemals entstanden wären, wird nunmehr auf die Natur gerichtet, der gegenüber die Menschen sich bisher im Wesentlichen als ein herstellendes und erkennendes Wesen verhalten haben. Das hat mit dem Experiment angefangen, in dem die Forscher immer Elementarprozesse in Gang setzen und sich nicht mehr darauf beschränken, das natürliche Geschehen zu beobachten, zu registrieren und zu systematisieren. Das Experiment ist zur Signatur der neuzeitlichen Naturwissenschaft geworden. „Nur das Handeln hat die Fähigkeit, das zu tun, was die naturwissenschaftliche ‚Forschung‘ heute täglich tut, nämlich Vorgänge zu veranlassen, deren Ende ungewiss und unabsehbar ist, Prozesse einzuleiten, die man nicht rückgängig machen kann, Kräfte zu erzeugen, die im Haushalt der Natur nicht vorgesehen sind. Dabei hat sich herausgestellt, dass das Handeln, das ursprünglich auf den Bereich menschlicher Angelegenheiten zugeschnitten ist, seine Eigentümlichkeiten auch dann beibehält, wenn es aus diesem Bereich des Zwischenmenschlichen gleichsam in den Bereich der Natur überspringt.“ (VA 226f)

Wir greifen in den Bereich der Natur so ein, „wie wir bisher dachten, er [der Mensch] könne nur in den Bereich der Geschichte, in das nämlich, was zwischen Menschen sich ereignet, eingreifen.“ (ZVZ 7718) „Es ist, als hätten wir unsere eigene Unvorhersehbarkeit, die Tatsache, dass kein Mensch je die Folgen seines Handelns voll übersehen kann, in die Natur selbst getragen und damit das alte Naturgesetz, auf dessen unbedingte Gültigkeit wir uns gerade darum so ausschließlich verlassen wollten, weil wir selbst die Unvorhersehbaren und niemals absolut Zuverlässigen par excellence sind, in den Bereich der ganz anders gearteten Gesetze menschlichen Handelns getragen, die ihrerseits niemals universal gelten und niemals unbedingt zuverlässig sein können.“ (ZVZ 7819)

In der Gegenwart des 20. Jahrhunderts konzentrieren wir alle Kapazitäten auf das Handeln in der Natur, so wie die Griechen das Wesen des Menschlichen in der Sprache und im Politischen sahen, die Römer den Menschen als animal rationale bestimmten, die Neuzeit ihn als homo faber, also als den Hersteller der Menschenwelt, und das 19. Jh. ihn als animal laborans verstanden. (ZVZ 7920). Heute sind wir in der Lage, „Prozesse kosmischen Ursprungs und vielleicht kosmischen Ausmaßes zu veranlassen und zu handhaben“. Damit ist für die Menschen das Risiko verbunden, „ihren Haushalt und damit das Menschengeschlecht selbst, das in diesen Haushalt gebannt ist, zu vernichten“ (VA 262).


V.6 Handeln ohne Heilmittel.
Im politischen Handeln gilt, „dass kein Mensch, wenn er handelt, wirklich weiß, was er tut; dass der Handelnde immer schuldig wird; dass er eine Schuld an Folgen auf sich nimmt, die er niemals beabsichtigte oder auch nur absehen konnte; dass, wie verhängnisvoll und unerwartet sich das, was er tat, auch auswirken mag, er niemals imstande sein wird, es wieder rückgängig zu machen.“ (VA 228f) Aber im genuinen Bereich des politischen Handelns gibt es „Heilmittel“, mit denen wir den Aporien und der Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten begegnen können: Verzeihen und Versprechen. Für das Verhältnis zur Natur, für das Loslassen der natürlichen Prozesse durch Experiment, Wissenschaft und Technik besitzen wir derartige Heilmittel nicht. Die Naturwissenschaft hat „Unwiderruflichkeit und Unabsehbarkeit in einen Bereich getragen […], in dem es kein Mittel gibt, Getanes und Geschehenes rückgängig zu machen“ (VA 233) bzw. genauer: ihre übermächtige Wirkung durch Heilmittel zu begrenzen.



VI. Theorie und Kritik der Moderne oder Von welchem Ort aus beschreiben und kritisieren wir


VI.1 Die M
oderne. Für Theorie und Kritik der Moderne von Arendt ist ausschlaggebend, dass die Vermögen und Sphären von Arbeiten, Herstellen, Handeln aus dem Gleichgewicht geraten und die Grenzen zwischen ihnen aufgelöst werden. Herstellen gerät unter das Vorzeichen des Arbeitens, Handeln wird zum Herstellen, Erkennen wird zum Handeln. Arbeiten, Herstellen und Handeln überschreiten ihre Grenzen, verlassen ihre Bereiche und greifen auf das Terrain des jeweils anderen Vermögens über. So wird das Herstellen heute in Form eines Arbeitsprozesses betrieben, und die Gebrauchsgegenstände werden konsumiert, als seien sie durch Arbeit präparierte Konsumgüter. Eine ähnliche „Verlagerung der Fähigkeiten auf ihnen ursprünglich fremde Gebiete scheint erfolgt zu sein, als man im Ernst versuchte, das Handeln aus dem Gebiet der menschlichen Angelegenheiten nach Möglichkeit auszuschalten, und diese Angelegenheiten so zu behandeln, als wären sie den Gesetzen des Herstellens unterstellt und könnten mit der gleichen soliden Planmäßigkeit geregelt werden wie die Objekte der gegenständlichen Welt.“ (VA 225) „Ganz ähnlich verhält es sich mutatis mutandis, wenn man der herstellenden Fähigkeit und der ihr eigenen Zweck-Mittel-Kategorie gestattet, in den Bereich des Handelns einzudringen; auch in diesem Fall hat man sich der spezifischen, dem Handeln eigentümlichen Mittel für Wiedergutmachen beraubt und sieht sich nun gezwungen, nicht nur mit den für alles Herstellen notwendigen Gewaltmitteln zu tun, sondern auch gewalttätig ungetan zu machen, also mit den gleichen Mitteln der Zerstörung, deren man sich bedient, wenn ein herzustellender Gegenstand missraten ist. Gerade in solchen Versuchen und ihren verhängnisvollen Folgen zeigt sich, wie ungeheuer menschliche Macht ist, deren Quellen in dem Vermögen des Handelns liegt, und die ohne die dem Handeln innewohnenden Heilmittel unweigerlich anfängt, nicht einmal so sehr den Menschen zu überwältigen, wie die Bedingungen zu zerstören, unter denen diesem mächtigsten aller irdischen Wesen das Leben überhaupt gegeben ist.“ (VA 233f)

Die Wahrung von Grenzen, das Einhalten der Sphären und Bereiche ist ein zentrales Motiv bei Arendt: Das gilt auch für die Grenzen zwischen Öffentlichem und Verborgenem. Das Leben ist auf Verborgenheit angewiesen, das Handeln dagegen findet im öffentlichen Raum statt. Die „vier Wände, in denen sich das Familien- und Privatleben der Menschen abspielt, bilden einen Schutz gegen die Welt, und zwar gerade gegen die Öffentlichkeit der Welt. Sie umgrenzen einen Raum des Verborgenen, ohne den kein Lebendiges gedeihen kann. Dies gilt nicht für kindliches, sondern überhaupt für menschliches Leben. Wo immer es der Welt ohne den Schutz des Privaten und Geborgenen ständig ausgesetzt ist, geht es gerade in seiner Lebendigkeit zugrunde. In der Öffentlichkeit der Welt, die allen gemeinsam ist, zählt zwar die Person, und es zählt das Werk, das heißt das Werk unserer Hände, das ein jeder von uns der gemeinsamen Welt hinzufügt; aber auf das Leben qua Leben kommt es in ihr nicht an. Sie kann auf es keine Rücksicht nehmen, und es muss vor ihr verborgen und gegen sie geborgen werden.“ (ZVZ 26721)

Es geht mithin um Grenzziehung und damit um ein Theorieverständnis, das sich an Kant orientiert und nicht den Ausweg in die Geschichtsphilosophie sucht (der freilich auch von Kant an einigen Stellen bereits begangen wird). Die Gefahren und Probleme der Moderne gehen in Arendts Augen stets mit Grenzüberschreitungen und Expansionen einher. Die Kritik daran setzt voraus, „dass die Grundvermögen des Menschen, die den Grundbedingtheiten menschlicher Existenz auf der Erde entsprechen, sich nicht ändern; sie können solange nicht unwiderruflich verloren gehen, als diese Grundbedingtheiten nicht radikal durch andere ersetzt sind.“ (VA 13)


VI.2 Politisch, nicht wissenschaftlich. Die Frage nach der „Statur des Menschen“ angesichts der Eroberung des Weltraums ist keine wissenschaftliche Frage, keine Frage, die man wissenschaftlich beantworten kann. „The question challenges the layman and the humanist to judge what the scientist is doing because it concerns all men, and this debate must of course be joined by the scientists themselves insofar as they are fellow citizens. But all answers given in this debate, whether they come from laymen or philosophers or scientists, are nonscientific (although not antiscientific); they can never be demonstrably true or false.“ (BPF 26722) Die Antworten gehen also in den Meinungsaustausch ein und gehören in den Bereich politischen Handelns. Die Naturwissenschaftler sind nicht nur Naturwissenschaftler, sondern verbringen die Hälfte ihres Lebens in derselben Welt der Sinneswahrnehmung und der Alltagssprache wie alle anderen auch. „It is only the scientist himself and the engineer who depends upon him, by seeing the perplexities in their own work, who can apply the brakes to technical forces that are threatening to run out of control. And they can do it only because they too are are laymen and citizens—that is, because, in the final analysis, we are all in the same boat!“ (AP 2523



VI.3 Die Wissenschaften haben keine menschlichen Interessen.
Alle Versuche der Begrenzung, die nicht aus der Wissenschaft selbst kommen, sind hilflos und vergeblich. Utilitaristische Einwände, die nach dem Nutzen fragen und Investitionen in andere Bereiche für wichtiger halten, verkennen die interne Logik, auf der die Erfolge der Wissenschaften beruhen. Die gesamte Entwicklung der modernen Naturwissenschaft ist damit verbunden, dass niemand nach dem unmittelbaren Nutzen oder den Folgen für die Statur des Menschen fragt bzw. dass man diese Fragen „in abeyance“ (BPF 27524) gelassen hat. Es ist eine Tatsache, „that the scientist qua scientist does not even care about the survial of the human race on earth or, for that matter, about the survival of the planet itself“. (BPF 27625) Die Physiker spalten das Atom, sobald sie dazu in der Lage sind. „The grandeur of science has always been that it did not pay any attention to human interests. Its guideline was: Whatever we can discover we shall discover, whatever we can make, we will make. […] It would be presumptuous for the so-called humanist or any layman to cry hubris. And it would be futile to preach humility.“ (AP 2526) „Valid and plausible arguments against the ‚conquest of space‘ could be raised only if they were to show that the whole enterprise might be self-defeating in its own terms.“ (BPF 27627)



VI.4 Die „faktisch existierenden Grenzen“ .....
Ausschlaggebend ist nicht, was wir entdecken und machen sollen und wollen und was besser ungetan bliebe. Ausschlaggebend ist vielmehr die „limit of what we can discover and can make“ – und diese Grenze werde eines Tages zum Vorschein kommen. „In other words, what I am pleading for here is a new realization of the factually existing limitations of human beings. To be sure, these limitations can be transcended up to a point. Men have always transcended them in imagination, in philosophical speculation, in religious faith, and finally in scientific discoveries. Only by transcending limits, moreover, can we become aware of them.“ (AP 2528)

Es gibt Hinweise darauf, dass die Grenzen tatsächlich sichtbar werden. Die Entdeckung der Unschärferelation durch Heisenberg zeigt, „that there is a definite and final limit to the accuracy of all measurements obtainable by man-devised instruments for those ‚mysterious messengers from the real world‘“. (BPF 27629) Das führt nach Heisenbergs eigener Darstellung dazu, dass der Mensch die Objektivität der Welt verliert und sich immer nur noch selber gegenübersteht, obwohl er wünscht, „to eliminate all anthropocentric considerations from his encounter with the non-human world around him“ (BPF 27730). Ein Inbegriff dafür, dass „man has lost the very objectivity of the natural world“ und überall nur noch sich selbst antrifft, ist der Astronaut, der in den Weltraum geschossen wird, in seiner Kapsel eingeschlossen ist „where each actual physical encounter with his surroundings would spell immediate death“ (BPF 27731).

Allgemeiner gesagt: Die Entwicklungen von Wissenschaft und Technik führen nicht ins Grenzenlose, sondern immer nur auf neue Grenzen. Alles was wir planen und erreichen können, ist, „to explore our own immediate surroundings in the universe, the infinitely small place that the human race could reach“. Weiter kommen wir selbst dann nicht, wenn wir mit Lichtgeschwindigkeit reisen würden. „In view of man’s life span—the only absolute limitation left at the present moment—it is quite unlikely that he [man] will ever go much farther.“ (BPF 27432)

Die erfolgreiche Besetzung und Eroberung des archimedischen Punktes außerhalb führt also tatsächlich und in Wahrheit zur Einsicht in die Kleinheit und Abhängigkeit des Menschen und in eine neue Demut. Der Mensch, sagt Franz Kafka, „fand den archimedischen Punkt, hat ihn aber gegen sich ausgenutzt; offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen“ (nach: IG 38633). Die Menschen wollten unbedingt zum archimedischen Punkt reisen. Sie erfahren jetzt aber, dass sie, wenn sie dies tun, ihren „Vorteil verlieren“. Alles, was der Mensch finden kann, „is the Archimedean point with respect to the earth, but once arrived there and having aquired this absolute power over his earthly habitat, he would need a new Archimedean point, and so ad infinitum. In other words, man can only get lost in the immensity of the universe, for the only true Archimedean point would be the absolute void behind the universe.“ (BPF 27834)

Der Mensch erkennt nun, „that there might be absolute limits to his search for knowledge and that it might be wise to suspect such limitations“ (BPF 27835). Alles was der Mensch schafft, sind „at best […] a few discoveries in our solar system“ (Ibid.36). Das ist zwar nicht wenig und es ist nicht harmlos. „It could add to the stature of man inasmuch as man, in distinction from other living things, desires to be at home in a ‚territory‘ as large as possible.“ (Ibid.37) Aber es würde aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Weltbild führen, in dem die Erde und der Mensch erneut ins Zentrum rücken: „These new possessions, like all property, would have to be limited, and once the limit is reached and the limitation established, the new world view that may conceivably grow out of it is likely to be once more geocentric and anthropomorphic, although not in the old sense of the earth being the center of the universe and of man being the highest being there is. It would be geocentric in the sense that the earth, and not the universe, is the center and the home of mortal men, and it would be anthropomorphic in the sense that man would count his own mortality among the elementary conditions under which his scientific efforts are possible at all.“ (BPF 278f38)

Alles in allem: Die Ergebnisse der Wissenschaft, so wie wir sie heute sehen, „seem to lead irrevocably to a point where man is reminded of his limitations and, as it were, put back into his place“ (AP 2539). „What I am maintaining here, without being too sure that I am right, is that such limitations have begun to make themselves felt in our scientific enterprise as well as in our technicalization of the world.“ (AP 2540) Im Programm zur Eroberung des Weltraums gibt es mithin die „faktisch existierenden Grenzen“!


VI.5 ….. oder die Zerstörung der Statur des Menschen.
Das Argument in VI.4 trägt die Züge des Umschlagens der Weltentfremdung in eine neue Wertschätzung der Welt und des Menschen. Einschränkend und abschließend setzt Arendt im Text über „The Conquest of Space and the Stature of Man“ (1968) hinzu: „At this moment, the prospects for such an entirely beneficial development and solution of the present predicaments of modern science and technology do not look particularly good.“ (BPF 27941) Vorherrschend sei etwas anderes: Immer noch sind wir darauf aus, das menschliche Dasein auf der Erde und in der Welt dadurch zu entwerten, dass wir es von einem archimedischen Punkt außerhalb beobachten, um das menschliche Verhalten „with the same methods we use to study the behavior of rats“ studieren zu können (Ibid.42). Aus entsprechender Distanz betrachtet, wäre dann das Ganze der Technik im Grunde nichts anderes als ein biologischer Vorgang im Großen, der sich der Übersetzung in die Alltagssprache entzieht. An diesen Punkt sind wir gefährlich nahe herangekommen, und wenn wir ihn erreichen, „the stature of man would not simply be lowered by all standards we know, but have been destroyed“ (BPF 28043). Der Aufsatz „The Archimedean Point“ (1969) argumentiert insgesamt ähnlich, endet aber mit dem Hinweis auf die eingebauten Grenzen und verzichtet auf die Einschränkung, dass die Aussichten dafür nicht gut sind.



1Zitate aus den „Concluding Remarks“ zur ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism. Dt: „Die Konzentrationslager sind die Laboratorien, wo Änderungen in der menschlichen Natur getestet werden.“ (ÜT 20) „Die menschliche Natur als solche steht auf dem Spiel.“ (ÜT 21) „Nur der verbrecherische Versuch, die Natur des Menschen zu ändern, entspricht der uns schaudernden Einsicht, dass keine Natur, nicht einmal die Natur des Menschen, weiterhin als das Maß aller Dinge angesehen werden kann.“ (ÜT 23)

2Yosal Rogat, The Eichmann Trial and the Rule of Law, 1961, S. 22.

3Zitat aus „Karl Jaspers: Bürger der Welt“ (1957).

4Zitat aus „Was ist Autorität?“ (1957).

5Brief vom 28. Mai 1971, in: Between Friends: The Correspondence of Hannah Arendt and Mary McCarthy, 1949-1975 (1995), S. 293. Dt: „Kultur ist immer kultivierte Natur – Natur, die gepflegt und gehegt wird von einem der Produkte der Natur, Mensch genannt. Wenn Natur tot ist, wird Kultur auch sterben, zusammen mit all den Artefakten unserer Zivilisation.“ (Arendt/McCarthy, Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975 [1995], S. 424)

6Zitat aus „Kultur und Politik“ (1958).

7Zitat aus „Karl Jaspers: Bürger der Welt“ (1957).

8Dito.

9Siehe zu den Entwicklungsphasen 3 und 4 auch VA 134ff.

10Dt: Die „Produktionsgesellschaft“ hat sich in eine „Konsumentengesellschaft“ verwandelt, „die nur noch als gigantische Wegwerfgesellschaft weitermachen kann. […] Dieser vom unaufhörlichen Lärm der Werbeagenturen begleitete ‚Fortschritt‘ vollzog sich auf Kosten der Welt, in der wir leben, und auf Kosten der Dinge selbst, in die nun der Verschleiß eingebaut war und die wir nicht mehr gebrauchen, sondern zweckentfremden, missbrauchen und wegwerfen. Dass man sich neuerdings plötzlich für die der Umwelt drohenden Gefahren interessiert, ist der erste Hoffnungsstrahl in dieser Entwicklung, obwohl, soweit ich sehen kann, bislang niemand ein Mittel gegen diese aus den Fugen geratene Wirtschaft gefunden hat, das nicht einen wirklich größeren Zusammenbruch verursachen würde.“ (IG 358f) – Den Artikel „Home to Roost“ hat Eike Geisel ins Deutsche übertragen.

11Zitat aus „The Conquest of Space and the Stature of Man“ (1968). Dt: „Astrophysik, die von einem Punkt im Universum auf die Erde schaute“. (IG 386) – Den Artikel „The Conquest of Space …“ hat Ursula Ludz ins Deutsche übertragen.

12Zitat aus Ebda. Dt: „Das menschliche Gehirn […] ist ebenso terrestrisch, erdgebunden wie jeder andere Teil des menschlichen Körpers. Erst indem die moderne Naturwissenschaft von diesen terrestrischen Bedingungen abstrahierte, indem sie an eine Kraft der Imagination und Abstraktion appellierte, die sozusagen den menschlichen Geist aus dem Gravitationsfeld der Erde herausheben und fähig machen würde, von einem gewissen Punkt im Universum auf sie herabzusehen, genau auf diese Weise kam sie zu ihren ruhmreichsten und gleichzeitig verwirrendsten Leistungen.“ (IG 379)

13Zitat aus „Natur und Geschichte“ (1957).

14Dt: „So scheint das Paradox der Entwicklung der modernen Wissenschaft darin zu bestehen, dass mit der enormen Vergrößerung der Macht des Menschen zugleich eine nicht viel weniger entscheidende Verkleinerung seiner Selbstachtung eintrat.“ (IG 395) – Den Artikel „The Archimedean Point“ hat Ursula Ludz ins Deutsche übertragen.

15Nach Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, den Arendt hier in englischer Übersetzung wörtlich zitiert, s. IG 393.

16Dt: Einsteins „vorgestellter ,frei fallender Beobachter‘“ (IG 382).

17Zitat aus „The Conquest of Space …“ (1968). Dt: „dass der Mensch tun kann (und mit Erfolg tun kann), was er nicht begreifen und nicht in der täglichen menschlichen Sprache ausdrücken kann“ (IG 378).

18Zitat aus „Natur und Geschichte“ (1957).

19Dito.

20Dito.

21Zitat aus „Die Krise in der Erziehung“ (1958).

22Zitat aus „The Conquest of Space …“ (1968). Dt: Die Frage „fordert den Laien und den Humanisten heraus, über das zu urteilen, was der Naturwissenschaftler tut, weil es alle Menschen betrifft, und an dieser Debatte müssen sich die Naturwissenschaftler natürlich beteiligen, insofern sie Mitbürger sind. Aber alle Antworten, die in dieser Debatte gegeben werden, ob sie nun von Laien, Philosophen oder Naturwissenschaftlern kommen, sind unwissenschaftlich (allerdings nicht anti-wissenschaftlich); sie können niemals beweisbar richtig oder falsch sein.“ (IG 375)

23Dt: „Nur der Naturwissenschaftler selbst und der von ihm abhängige Ingenieur können, indem sie die Schwierigkeiten in ihren eigenen Arbeiten sehen, die technischen Kräfte, die außer Kontrolle zu geraten drohen, bremsen. Und das können sie nur deshalb, weil auch sie Laien und Bürger sind, d.h. weil wir letztendlich alle in demselben Boot sitzen.“ (IG 400)

24Zitat aus „The Conquest of Space…“ (1968). Dt: „in der Schwebe“ (IG 383).

25Zitat aus Ebda. Dt: „dass der Wissenschaftler als Wissenschaftler sich nicht einmal um das Überleben der menschlichen Gattung auf der Erde oder auch das Überleben des Planeten sorgt“ (IG 384).

26Dt: „Stets ist es die Größe der Wissenschaft gewesen, dass sie den menschlichen Interessen keine Aufmerksamkeit schenkte. Ihre Leitlinie war: Was immer wir entdecken können, das sollen wir entdecken; was immer wir machen können, das wollen wir machen. … Es wäre anmaßend, wenn der sogenannte Geisteswissenschaftler oder irgendein Laie hier ‚Hybris‘ riefe. Und es wäre vergeblich, Be­scheidenheit zu predigen.“ (IG 400)

27Zitat aus „The Conquest of Space …“ (1968). Dt: „Triftig und plausibel wären Argumente gegen die ‚Eroberung des Weltraums‘ nur dann, wenn sie aufzeigen würden, dass das ganze Unternehmen in seinen eigenen Begriffen selbstzerstörerisch sein könnte.“ (IG 384)

28Dt: „Grenze dessen, was wir entdecken und machen können“,  ̶  und diese Grenze werde eines Tages zum Vorschein kommen. „Mit anderen Worten: Wofür ich hier plädiere ist, dass wir uns die faktisch existierenden Grenzen der menschlichen Wesen neu vergegenwärtigen. Sicher können diese bis zu einem gewissen Punkt überschritten werden. Die Menschen haben sie immer überschritten: im Vorstellungsvermögen, in der philosophischen Spekulation, im religiösen Glauben und schließlich in wissenschaftlichen Entdeckungen. Ja, nur im Überschreiten von Grenzen können wir ihrer gewahr werden.“ (IG 401)

29Zitat aus „The Conquest of Space …“ (1968). Dt: „dass es für die Akkuratheit all der Messergebnisse, die von Menschen entworfene Instrumente für jene ‚geheimnisvollen Boten aus der realen Welt‘ erhalten können, eine definitive und endgültige Grenze gibt.“ (IG 384)

30Zitat aus Ebda. Dt: „alle anthropozentrischen Betrachtungen aus seiner Begegnung mit der nicht-menschlichen Welt um ihn herum auszuschalten“ (IG 385).

31Zitat aus Ebda. Dt: „der Mensch gerade die Objektivität der natürlichen Welt verloren hat […] wo jede tatsächliche physische Begegnung mit seiner Umgebung sofort zum Tode führen würde“ (IG 385).

32Zitat aus Ebda. Dt: „unsere eigene unmittelbare Umgebung im Universum zu erforschen, diesen unendlich kleinen Platz, der in der Reichweite der menschlichen Gattung liegt. […] Angesichts der Lebenszeit des Menschen – also der einzigen absoluten Begrenzung, die gegenwärtig geblieben ist – ist es recht unwahrscheinlich, dass er [der Mensch] je sehr viel weiter gehen wird.“ (IG 382)

33Dem 6. Buchkapitel „Die Vita activa und die Neuzeit“ stellt Hannah Arendt folgendes Zitat von Kafka als Motto voran: „Er hat den archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich ausgenutzt, offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen.“ (VA 244)

34Zitat aus „The Conquest of Space …“ (1968). Dt: „ist der archimedische Punkt im Hinblick auf die Erde, aber wenn er erst einmal dort angelangt ist und diese absolute Macht über seine irdische Wohnstatt erhalten hat, bräuchte er einen neuen archimedischen Punkt, und so ad infinitum. Mit anderen Worten: Der Mensch kann in der Weite des Universums nur verlorengehen, denn der einzig wahre archimedische Punkt wäre die absolute Leere hinter dem Universum.“ (IG 386)

35Zitat aus Ebda. Dt: „dass es absolute Grenzen für seinen Wissensdrang gibt und dass es weise sein mag, solche Grenzziehungen für wahrscheinlich zu halten“ (IG 386).

36 Zitat aus Ebda. Dt: „bestenfalls ein paar Entdeckungen in unserem Sonnensystem“ (IG 386).

37Zitat aus Ebda. Dt: „Es könnte der Statur des Menschen insofern etwas hinzufügen, als der Mensch im Unterschied zu anderen Lebewesen in einem möglichst großen ‚Territorium‘ zu Hause zu sein begehrt.“ (IG 386f)

38Zitat aus Ebda. Dt: „Diese neuen Besitztümer müssten, wie alles Eigentum, begrenzt sein, und wenn erst einmal die Grenze erreicht und die Grenzlinien gezogen sind, wird die neue Weltsicht, die daraus denkbarerweise erwachsen könnte, wahrscheinlich wieder geozentrisch und anthropomorph sein, wenn auch nicht in dem alten Sinne mit der Erde als Mittelpunkt des Universums und dem Menschen als dem höchsten Wesen. Sie wäre geozentrisch in dem Sinne, dass die Erde und nicht das Universum der Mittelpunkt und die Heimat der sterblichen Menschen wäre, und sie wäre anthropomorph in dem Sinne, dass der Mensch seine eigene faktische Sterblichkeit zu den elementaren Bedingungen zählen würde, unter denen seine wissenschaftlichen Anstrengungen überhaupt erst möglich sind.“ (IG 387)

39Dt: „scheinen unwiderruflich auf einen Punkt zuzusteuern, an dem der Mensch an seine Grenzen erinnert und sozusagen auf seinen Platz zurückverwiesen wird“ (IG 400).

40Dt: „Was ich hier behaupte – ohne zu sicher zu sein, dass ich recht habe – ist, dass wir solche Grenzen in unseren wissenschaftlichen Unternehmungen ebenso wie in unserer Technisierung der Welt zu spüren bekommen haben.“ (IG 401)

41Dt: „Derzeit sind die Aussichten für eine solche im ganzen vorteilhafte Entwicklung und Klärung der gegenwärtigen Lage der modernen Wissenschaft und Technologie nicht sonderlich gut.“ (IG 387)

42Dt: „mit denselben Methoden, die wir verwenden, um das Verhalten von Ratten zu studieren“ (IG 387).

43Dt: dann „würde die Statur des Menschen nicht nur […] verkleinert, sondern wäre zerstört worden“ (IG 388).

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