header image

Ausgabe 1, Band 11 – Dezember 2021

Hannah Arendts Beitrag zur politischen Bildung

Tonio Oeftering, Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange (Hrsg.), Hannah Arendt. Lektüren zur politischen Bildung, Wiesbaden: Springer VS, 2020. 162 Seiten

Tonio Oeftering, Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange haben im Springer Verlag einen Band herausgegeben, in dem sie nach Hannah Arendts potenziellem Beitrag zur politischen Bildung fragen. Das ist gar kein so naheliegendes Unterfangen, wie man – angesichts der immer weitere Bereiche erfassenden „Arendtindustrie“ (Zerilli 2005: 7) – zunächst vielleicht annehmen würde. Denn Arendt selbst hat sich kaum je zu Fragen der Bildung oder Erziehung geäußert. Im Gegenteil: An den einzigen beiden mir bekannten Stellen, an denen sie sich explizit mit dem Thema der (Schul)bildung befasst, tut sie das in kritischer Absicht. Und das ist kein Zufall: Denn gemäß ihrer eigenen „Topologie des menschlichen Lebens“ (Weißpflug/Förster 2011: 65) stellt das Erziehungswesen erst einmal keine politische, sondern eine soziale Angelegenheit dar. Genauer gesagt: Es steht an der Grenze zwischen dem im engeren Sinne privaten Bereich des oikos – Kindererziehung, so hält Arendt in ihrem haarsträubenden Aufsatz zu Little Rock fest, „gehört zur Privatsphäre von Heim und Familie“ (Arendt 1999: 111) – und der Gesellschaft, „jene[m] sonderbar[en], irgendwie zwitterhafte[n] Reich zwischen dem Politischen und dem Privaten“ (ebd.: 104). Das Kompositum „politische Bildung“ erscheint vor diesem Hintergrund zunächst sogar wie eine contradictio in adiecto. „In der Politik“, so schreibt Arendt in Die Krise in der Erziehung explizit, „kann Erziehung keine Rolle spielen, weil wir es im Politischen immer mit bereits Erzogenen zu tun haben. Wer erwachsene Menschen erziehen will, will sie in Wahrheit bevormunden“ (Arendt 2012: 258). Es stellt sich daher die Frage, inwieweit es den Autor*innen des Bandes gelingt, Arendts Denken trotzdem für „Fragen von Erziehung und (politischer) Bildung“ (S. VI) fruchtbar zu machen.

Auf das als Einleitung dienende Vorwort, das einen griffigen Überblick über jüngere Arbeiten gibt, die Arendt trotz der eben geäußerten Bedenken „für die politische Bildung aufzuschließen“ (S. VII) versuchen, folgt ein kleines Highlight: ein Briefwechsel zwischen den Arendt-Schüler*innen Elisabeth Young-Bruehl und Jerome Kohn, in dem sie über ihre eigenen Bildungserfahrungen in Arendts Seminaren schreiben. Leider hält der Austausch, der ursprünglich für einen ähnlich gelagerten englischsprachigen Sammelband (Gordon 2018) inszeniert wurde und hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erscheint, sein Versprechen nicht ganz. Denn das Gespräch, in dem die beiden ehemaligen Studierenden Arendts thematisieren wollen, „[w]as und wie wir von Hannah Arendt gelernt haben“, fokussiert etwas zu sehr auf das was und weniger auf die – m.E. in diesem Kontext interessantere – Frage des wie: Der Briefwechsel liest sich wie eine gute kurze Einführung in zentrale Themen Arendts. „Die Bildung, die Arendt praktizierte“ (S. 4) – ihre eigene Unterrichtspraxis – wird zwar ab und zu beschworen („eine Lehrerin […], die den Geist von Sokrates verkörperte“ S. 7), worin diese genau bestand, wird jedoch leider kaum ausgeführt.

Die darauffolgenden Beiträge des Bandes stellen dann in der einen oder anderen Weise grundlegende Konzepte Arendts vor und deren Potential für die politische Bildung heraus. Dabei fokussieren gleich mehrere der Beiträge auf Arendts Konzept der Urteilskraft. So fragen Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange in ihrem Aufsatz nach der Bedeutung von Arendts Urteilskrafttheorem für die demokratische Lebensform. Wenn Arendt recht hat und „[d]as Faktum der Pluralität der Menschen […] mit einer Pluralität von Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit [korrespondiert]“ (S. 35), dann müsse das Ziel politischer Bildung entsprechend in der Förderung und Stärkung eines „Bürgerbewusstseins als erweitere Denkungsart“ (S. 38) liegen. Auch Ingo Juchler sieht in seinem Beitrag „das übergeordnete Ziel politischer Bildung“ (S. 43) in der Ausbildung und Schuldung von Urteilskraft. Das Verhältnis zwischen politischer Öffentlichkeit und politischer Urteilsbildung erachtet er als ein wechselseitiges. Politischer Bildung komme innerhalb von Demokratien daher die essenzielle Aufgabe der „Befähigung der Schülerinnen und Schüler zu politischer Urteilsbildung“ zu, die dann wiederum „die Grundlage für die potenzielle Teilhabe aller (späteren) Bürgerinnen und Bürger an der politischen Öffentlichkeit“ (S. 52) darstellt.

Neben Arendts Ausführungen zur Idee der Urteilskraft liegt ein weiterer Schwerpunkt des Bandes auf ihrem Politikbegriff, der in verschiedenen Lesarten vorgestellt wird. Von Tonio Oeftering wird „das Politische“ zunächst als Modus interpretiert und „der Politik“ gegenübergestellt (auch wenn es sich hierbei um eine terminologische Unterscheidung, handelt, die Arendt selbst so nie vorgenommen hat). Wie schon die beiden Beiträge zur Urteilskraft betont auch Oeftering dann die Tatsache der Perspektivenvielfalt der politischen Öffentlichkeit. Für die Praxis der politischen Bildung folgt für ihn daraus, „dass sich das, was sich in der Polis ‚im Großen‘ ereignet, in der politischen Bildung ‚im Kleinen‘ widerspiegeln und vorbereiten muss“ (S. 69). An Oefterings radikaldemokratische Interpretation direkt anschließend deckt Bettina Lösch dann sozusagen die andere Seite der Rezeption ab und liest Arendt als Theoretikerin einer deliberativen Politiktheorie. Dieser Konzeption von Politik sei es vor allem daran gelegen, „dass die Menschen die Bereitschaft aufbringen müssen, ihre eigene Selbstbezogenheit zu überwinden, um sich mit anderen zu assoziieren“ (S. 90).

Bei allen im Band versammelten Beiträgen handelt es sich um plausible Arendt-Rekonstruktionen, die dem neueren Interpretations- und Forschungsstand entsprechen. Was in dem sehr soliden Band manchmal vielleicht etwas zu kurz kommt, ist der konkrete Rückbezug von Arendts Annahmen und Ideen auf das Thema der politischen Bildung. Denn das geschieht zumeist nur in Andeutungen: So fordern beispielsweise Meints-Stender und Lange am Ende ihrer Rekonstruktion von Arendts Urteilskraftkonzept, die politische Bildung müsse es sich nun zur Aufgabe machen, das Bewusstsein von Bürgerinnen „zu aktivieren, herauszufordern und mit Vorstellungen Anderer zu kontrastieren“ (S. 38). Etwas ausführlicher insistiert Oeftering am Ende seines Beitrags darauf, „dass Lernarrangements der politischen Bildung so zu inszenieren sind, dass […] eine Vielfalt von möglichen Perspektiven auf die behandelten Gegenstände sichtbar wird, dass […] den Lernenden die Möglichkeit gegeben wird, sich in dieser Perspektivenvielfalt selbst zu verorten und sie […] ihren Standpunkt im Gespräch mit anderen prüfen, verteidigen und dursetzen oder gegebenenfalls auch revidieren können“ (S. 69f. Hervorh. im Orig.). In einigen Beiträgen ist der Bezug zur Bildung allerdings nur zu erahnen. Im Aufsatz von Wolfgang Heuer etwa, der Arendt „als Nichtakademikerin und Nichtintellektuelle“ (S. 105) vorstellt, die stets ‚nur‘ die Denkhaltung einer „kritisch urteilenden Bürgerin“ (S. 121) eingenommen habe, spielt der Bildungsbegriff überhaupt keine explizite Rolle. Das heißt freilich nicht, dass diese Beiträge nichts zum Thema beitrügen, lässt aber vielleicht Rückschlüsse darauf zu, an wen sich das Buch primär richtet.

Denn Lehrer*innen, die dem Band Blaupausen für den (politischen) Unterricht entnehmen wollen, werden wahrscheinlich enttäuscht; das gleiche gilt für Arendt-Exeget*innen und Ideenhistoriker*innen, die wissen wollen, was Arendt denn nun genau über die Themen Bildung und Erziehung zu sagen hatte. Stattdessen liegt hier eine sehr grundsätzliche Intervention in Debatten um und in der politischen Bildung vor, die zentrale Konzepte und Ideen Arendts (z. B. Urteilskraft, Politik, Öffentlichkeit, Natalität) rekonstruiert, um sie als Inspirationsquellen für die politische Bildung fruchtbar zu machen. Ob Arendt wirklich eine „Theoretikerin der politischen Bildung avant la lettre“ (S. IX) ist, mag weiterhin umstritten bleiben. Ihr „grundlagentheoretische[r] Beitrag zur politischen Bildung“ (S. VIII) dürfte aber spätestens nach der Lektüre dieses Bandes außer Frage stehen.

Tobias Albrecht

(Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main)



Literatur

Arendt, Hannah: „Little Rock“. In: dies.: Zur Zeit. Politische Essays. Hg. von Marie Luise Knott. Hamburg 1999, 95–112.

Arendt, Hannah: „Die Krise in der Erziehung“. In: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken. München 2012, 255–276.

Gordon, Mordechai (Hg.) Hannah Arendt and Education. Renewing Our Common World. New York 2018.

Weißpflug, Maike/Förster, Jürgen: „The Human Condition/Vita activa oder Vom tätigen Leben“. In: Heuer, Wolfgang /Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/ Weimar 2011, 61–70.

Zerilli, Linda: „Vorwort“. In: Marchart, Oliver: Neu beginnen: Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien 2005, 7–12.



172