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Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020

Legitimität der Lüge in der Politik -
Hannah Arendts Beiträge zum Gespräch im Düsseldorfer Bildungsforum am 27. Mai 1975

Die Veranstaltung zu dem o. g. Thema wurde von Hans-Friedrich Hölters geleitet, Gesprächspartner waren neben Hannah Arendt der Publizist und Schriftsteller Sebastian Haffner sowie Bernhard Vogel, seinerzeit Kultusminister in Rheinland-Pfalz. Das Gespräch wurde auf Tonband aufgenommen. Adelbert Reif hat es transkribiert, redigiert und in dem von ihm herausgegebenen Band Gespräche mit Hannah Arendt (München: Piper [Serie Piper], 1976, S. 101-126), veröffentlicht. Da Reif sich die Veröffentlichung weder von Hannah Arendt noch nach deren Tod (4. Dezember 1975) von deren literarischer Nachlassverwalterin Mary McCarthy hatte autorisieren lassen, musste der Band nach einer ersten Auslieferung vom Markt genommen werden. Deshalb sind Arendts Gesprächsbeiträge bisher wenig bekannt. Wir veröffentlichen sie hier mit freundlicher Genehmigung des Hannah Arendt-Bluecher Literary Trust in der von Reif herausgegebenen Fassung.1

Die Redaktion

Der Gesprächsleiter referiert eingangs ein Zitat von Voltaire: »Die Lüge ist nur dann ein Laster, wenn sie Böses stiftet. Sie ist eine sehr große Tugend, wenn sie Gutes stiftet. Seien Sie also tugendhafter denn je. Man muß lügen wie der Teufel, nicht furchtsam, nicht nur zeitweilig, sondern herzhaft und immer. Lüget, meine Freunde, lüget!«2 Darauf antwortet Arendt mit, wie Vogel anschließend sagt, »eine[r] hervorragende[n] Einführung in die Lüge«, ohne speziell auf die Politik einzugehen.

Das Zitat von Voltaire ist natürlich wunderschön und sehr geschickt ausgesucht. Ob es Voltaire aber so gemeint, wie er es geschrieben hat, steht noch dahin. Meiner Ansicht nach entscheidend ist in dieser ganzen Frage, daß es unter den Zehn Geboten kein Gebot gibt, das lautet: Du sollst nicht lügen. Es heißt vielmehr: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Das ist aber etwas wesentlich Spezifischeres als Lüge. Lügen in unserem Sinne sind geschichtlich erst sehr spät als solche diffamiert worden, meiner Ansicht nach nicht vor dem 16. bis 17. Jahrhundert. Im Grunde geschah das gleichzeitig mit dem Entstehen der Royal Society in England, d. h. mit dem Zusammenschluß der Wissenschaftler, was sehr bemerkenswert ist. Die Wissenschaftler mußten, ob vorsätzlich oder nicht vorsätzlich, einzig um ihrer Wissenschaft willen sich darauf verlassen können, daß nicht gelogen wurde. Noch heute ist das so in den Naturwissenschaften. Jemand, der bei seinen Experimenten schwindelt, ist erledigt. Das unterscheidet ihn vom Politiker, der eben mal schwindeln kann, mal nicht schwindeln kann, oder auch vom Historiker, der es mal so, oder mal anders drehen kann. Jedenfalls gibt es [k]ein Fachgebiet, auf dem es unmöglich ist zu lügen, ohne daß das Fachgebiet als solches zerstört wird. Dies ist gleichzeitig der Beginn der puritanischen Einstellung zur Lüge, und daran hat sich im Grunde bis heute nichts geändert.

Wenn wir jetzt allgemeiner über dieses Problem nachdenken, dann muß eine ganze Reihe von Dingen über die Lüge gesagt werden. Da haben wir einmal die Tatsache, daß der Mensch lügen kann. Das hat einiges mit dem zu tun, daß wir frei sind. Wir sind in die Tatsachen der Welt nicht so eingebettet, daß wir unbedingt mit ihnen konform zu gehen haben. Wir haben immer noch die Freiheit ja oder nein zu sagen, und diese Form der Freiheit bezieht sich wiederum auf einen speziellen Kreis von Dingen. Wenn sich jemand absolut darauf versteift zu sagen, daß zwei mal zwei gleich fünf ist, dann passiert ihm etwas recht Unangenehmes: er wird in eine Anstalt eingeliefert. Das heißt, die Wahrheit, wie schon Aristoteles sagte, hat es an sich, zu zwingen. Aber das betrifft nur diese Art der Wahrheiten, die wir seit Leibnitz die Vernunftwahrheiten nennen, also Wahrheiten, von denen wir uns gar nicht vorstellen können, daß sie anders wären als sie sind. Sie können auch sagen, die von sich selber her evident sind. In allen übrigen Dingen haben wir die Möglichkeit, ja oder nein zu sagen. Und diese Möglichkeit bezieht sich zu einem großen Teil auch auf die faktischen Wahrheiten. Nun, jede Tatsachenwahrheit hat ihre Wahrheit nicht in sich selbst, sie muß erst einmal von anderen bezeugt sein. Dieser Bezeugung müssen wir glauben, nur auf diese Weise kann Wahrheit überhaupt etabliert werden. Das heißt, die Vernunft selber etabliert sie nicht. Außerdem können wir uns bei jeder Tatsache vorstellen, daß es auch anders hätte sein können. Daß es anders hätte sein können, bedeutet erstens, daß Tatsachen als solche nicht so zu überzeugen vermögen, wie Vernunftwahrheiten, und zweitens, daß sie von uns bestätigt oder verneint werden können. Wir können selbst von einer Sache, die geschehen ist, immer noch sagen: Mir wäre es lieber gewesen, es wäre anders gekommen. Der gute alte Cato sagte: »Victrix causa diis placuit, sed victa Catoni.« (Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die besiegte dem Cato.) Also auch das, was wir immer als letzte Kriterien annehmen, nämlich Erfolg oder Mißerfolg, hat Cato nicht als letztes Kriterium akzeptiert.

Haffner endet seinen Eingangsbeitrag, indem er explizit auf Arendt Bezug nimmt: »Es kommt schließlich auf folgendes hinaus: Die Wissenschaft — und da möchte ich an das anknüpfen, was Frau Arendt gesagt hat — die Wissenschaft ist um der Erforschung der Wahrheit willen da. Soweit sie überhaupt einen Zweck hat, ist das ihr einziger Zweck. Die Politik ist aber nicht um der Erforschung oder Durchsetzung der Wahrheit willen da, sondern sie verfolgt ganz bestimmte Zwecke: die Bewahrung eines Landes, die Steigerung seiner Macht, die Durchsetzung einer Partei, den Sturz einer Regierung und ihre Ersetzung durch eine andere. Was diesen Zwecken dient — wenn es ihnen wirklich dient und ihnen nicht selbst schadet — muß wohl bis zu einem gewissen Grade als zulässig angesehen werden, auch wenn es moralisch zweifelhaft ist.« Anschließend Arendt:

Natürlich: daß Lüge, daß Wahrheit und Politik nicht auf sehr gutem Fuße miteinander stehen, ist eigentlich eine Binsenwahrheit und zu allen Zeiten wahr gewesen. Die Frage ist nur: Was ist das Ziel? Roosevelt3 hat nicht eigentlich gelogen. Wenn es um Leben oder Tod geht, wie es manchmal in der Politik geht, dann ist es immer eine Frage, ob die Lüge nicht vielleicht legitim ist. Aber was die Lüge hier legitimiert, ist wirklich das Äußerste. Das Lügen, das wir in unserem Jahrhundert kennengelernt haben, ist von einer ganz anderen Art und einer ganz anderen Qualität. Die Lüge von Hitler4 in bezug auf das Sudetenland war gewissermaßen die harmloseste. Sie besinnen sich vielleicht darauf, daß über die sogenannte Endlösung selbst in den obersten Rängen nur in einer vorgeschriebenen Sprache voller Euphemismen gesprochen werden durfte. Hitler selber, dem man einmal zu bedenken gab, was denn die Welt sagen wird, wenn es herauskommt, daß Millionen Menschen umgebracht wurden, erklärte: Ach, das ist gar nicht so schlimm, sie wird es nicht glauben. Das ist absolut wahr gewesen, man hat es nicht geglaubt. Die Opfer haben es nicht geglaubt, aber auch die Welt hat es nicht geglaubt.

Die Lügen, von denen hier Herr Haffner sprach, sind ja ganz und gar gezielte Lügen. Das heißt, vor dem Feind müssen gewisse Dinge geheimgehalten werden. Die Lügen, mit denen wir es zu tun haben, die betreffen jeden. In diesem Augenblick wird Lügen wirklich zum Prinzip erhoben. Das hatten wir in einer ganz grotesken Weise unter Stalin, der sich bemühte, die Geschichte der Revolution ständig umzuschreiben und dabei bestimmte Personen oder bestimmte Ereignisse jedes Mal in Vergessenheit geraten ließ, d. h. einfach weglog: Trotzki gab es nicht, die Rote Armee sozusagen auch nicht, die Konzentrationslager schon gar nicht. Wer immer darüber sprach, riskierte sein Leben. Wo Lügen dieser Art auftreten, daß schließlich jedermann gezwungen wird zu lügen, da wird die Lüge zum Prinzip.

Im Gegensatz dazu ist Lügen in der Politik — auch in der Politik der Staatsraison — auf keinen Fall eine Lüge aus Prinzip. Hier haben wir es mit einer kleinen Gruppe von Leuten zu tun, von Staatsmännern, Diplomaten, Politikern, zu deren Beruf es gehört, bestimmte Geheimnisse abzuschirmen und die in dieser Hinsicht lügen. Das wissen alle. Diejenigen, die daran beteiligt sind, wissen, daß jener Diskont von der Wahrheit in jedem Fall gemacht werden muß. Diese kleine Gruppe von Menschen gerät niemals in die Gefahr, sich selbst zu belügen. Es gibt eine berühmte Stelle in den »Brüdern Karamasow« von Dostojewski, wo Dimitri5, der eine Karamasow-Bruder, der ein berühmter Lügner war, zu dem Staretz kommt und ihn fragt: Was muß ich tun, um das ewige Leben zu erhalten? Und der Staretz, der wußte, daß er es mit einem Lügner zu tun hat, sagte: »Belüge dich niemals selbst.«
Sehen Sie, in all diesen Fällen hat die Wahrheit irgendwo noch ein letztes Refugium, weil die, die lügen, zwischen Lüge und Wahrheit klar zu unterscheiden vermögen und genau wissen: hier habe ich gelogen. Dieses Lügen kann dann auch in irgendeinem Sinne wieder zurückgenommen und gutgemacht werden. Das andere Lügen hingegen nicht. Das andere Lügen geht durch die gesamte Bevölkerung, die zwar weiß, daß es Konzentrationslager, daß es Vernichtungslager etc. gibt, der aber gleichzeitig bewußt ist, daß es lebensgefährlich ist, darüber zu sprechen. Überall dort, wo es Terror gibt, kann Lüge als allgemeines Prinzip erzwungen werden, woanders nicht. Bei uns hat Herr Nixon versucht, mit Lügen alles mögliche zu erreichen, aber er scheiterte, weil er über keine Terrorgruppe verfügte, die die Lüge hätte zum Prinzip erzwingen können. Das heißt: er ist daran gescheitert, daß im allgemeinen in Amerika nicht gelogen wird. In Amerika ist die Lüge ein sehr viel schwereres Delikt als in Europa. Das trifft auch für England zu, wie Sie es aus der Profumo-Geschichte6 entnehmen können. Der Grund dafür liegt zum Teil im amerikanisch-englischen Gerichtsverfahren, wo man in eigener Sache aussagen kann, und zwar unter Eid, obwohl man dazu nicht gezwungen ist. Es gibt eine Bestimmung, daß keiner gezwungen werden kann, gegen sich selber auszusagen. Aber das besagt nicht, daß er lügen darf. Daß der Meineid in Amerika als ein unvergleichlich schwereres Delikt gewertet wird als in Europa, hängt damit zusammen, daß wir eine Regierung haben, die, ob sie will oder nicht, an die Konstitution gebunden ist, d. h, die höchste Instanz wird nicht von Menschen, sondern durch das Gesetz selbst verkörpert — das ist ein sehr großer Unterschied.

Die Tatsache, daß der Mensch lügen kann, besagt, daß er den Realitäten nicht absolut verhaftet ist. Natürlich neigen Politiker leicht dazu zu lügen, und zwar schon deswegen, weil sie nicht damit beschäftigt sind, die Welt zu interpretieren, sondern wollen, daß man sich vorstellt, wie sie sein könnte. Und in der Tat könnte sie anders sein als sie wirklich ist. Das, was ist, braucht nicht unbedingt anerkannt zu werden. Diese Tatsache, daß ich ja und nein dazu sagen kann, eben wie der alte Cato — die besiegte Sache gefiel dem Cato — das gehört zu den Grundfreiheiten des Menschen — unabhängig von allen Staatsformen.

Anschließend lenkt Hölters das Gespräch auf die »Zwecklüge«, und hierzu äußert sich Vogel, indem er grundsätzlich feststellt »Politiker dürfen nicht lügen«, aber »auch Politiker können irren, d.h. daß sie etwas für wahr halten können, was sich hinterher als falsch herausstellt. So können sie etwa erwarten, daß ein wirtschaftlicher Aufschwung kommt. Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich sage, der Aufschwung kommt, obwohl ich weiß, daß er nicht kommt, oder ob ich sage, der Aufschwung kommt, weil ich wirklich der Überzeugung bin, daß er kommt. Ich würde also nicht jedem, der das sagt, die Lüge unterstellen, sondern möglichweise auch nur den Irrtum, möglicherweise nicht einmal das. Bevor wir generell sagen, Politiker sind jene kleine Gruppe von Menschen, zu deren Beruf es gehört, zu lügen, sollten wir das Wort ›Lüge‹ doch etwas sorgfältiger definieren.« Hierauf Arendt:

Das habe ich nicht gesagt, und wenn es so geklungen hat, dann nehme ich es hiermit zurück. Sie haben ganz recht, der Irrtum ist keine Lüge, obwohl im Griechischen das Wort »pseudos« für Irrtum und Lüge gebraucht wurde. Aber  darauf wollen wir hier nicht eingehen. Wir sollten uns überhaupt von der Philosophie fernhalten.

Nur ist es ein Unterschied, ob ein Politiker, wenn er sagt, der Aufschwung kommt, die Tendenz hat, dies so zum Ausdruck zu bringen, als ob es nicht eine Meinung ist, sondern eine Wahrheit. Er benutzt sein Ansehen, das er im Volke genießt, und sagt statt ich hoffe, der Aufschwung kommt, gewisse Zeichen sprechen dafür, der Aufschwung kommt. Das ist deshalb eine Art von Täuschung, weil er vorgibt etwas zu wissen, was niemand wissen kann. Dazu gibt es eine noch ziemlich junge Wissenschaft — meiner Ansicht nach eine Pseudowissenschaft — nämlich die Futurologie, deren Vertreter glauben, man könne die Zukunft so erforschen wie die Vergangenheit. Es ist schon sehr schwer die Vergangenheit zu erforschen, die Zukunft zu erforschen ist schlechterdings unmöglich — und zwar prinzipiell, das kann man beweisen. Wenn also jetzt ein Politiker aus Propagandagründen der Sache diesen Schwung gibt, dann täuscht er. Aber Täuschung braucht ja nicht gleich Lüge zu sein, obwohl sie sehr nahe an die Lüge herankommt. Solange ein Politiker weise genug ist zu sagen, ich bin ein Mensch und kann mich irren, und dies irgendwie in jeder seiner Aussagen mitschwingen läßt, solange bewegt er sich, meiner Ansicht nach, noch im Gefilde der Wahrheit, auch wenn er nicht alles sagt, was er weiß.

Wenn nun aber die Ideologen des Marxismus oder des Sozialismus oder des Kapitalismus kommen und erklären, der Zug der Geschichte läuft in diese oder jene Richtung, und wer sich nicht in diesen Zug begeben will, steht außerhalb der Geschichte, hat die historische Situation nicht erfaßt — wenn diese Sachen anfangen, dann haben wir eine Art von lügenhafter Politik, ganz egal, woher sie kommt, von rechts oder von links. Beide stoßen dann aufeinander und streiten sich im Grunde um des Kaisers Bart, nämlich um das, was sie weder wissen noch wissen können. Wenn man das Wort Geschichte und die Gesetze der Geschichte in diese Diskussion einbringt — und ich fürchte, das geschieht hier häufig —, dann hat man, meine ich, die Grenzen des Erlaubten überschritten, auch die weitergesteckten Grenzen, die dem Politiker und dem Staatsmann gezogen sind.

Haffner führt zurück auf die Frage: Gehört Lügen zum Beruf des Politikers? Er verdeutlicht seine Ansichten am Beruf des Kaufmanns und des Politikers. Hinsichtlich des Politikers wählt er das Beispiel Konrad Adenauer: »Adenauer, der auf seine humorvolle Art gern zugab, daß er nicht immer die volle Wahrheit sage, machte gelegentlich Witze wie den, daß er zwischen drei Arten von Wahrheit unterscheide: der einfachen Wahrheit, der vollen Wahrheit und der lauteren Wahrheit. Gewiß, das war ein Witz. Aber in dem Hauptanliegen seiner Politik, die Bundesrepublik unbedingt in das westliche Bündnis und die westliche Gemeinschaft zu integrieren, das Vertrauen der Westmächte, die ja unsere Kriegsfeinde gewesen waren, wiederherzustellen, mit ihnen nicht nur Frieden zu schließen, sondern ein Bündnis einzugehen, was in jeder Weise, objektiv und sicher auch subjektiv, ein patriotisches Ziel war — in der Verfolgung dieser Ziele hat er immer wieder gesagt, damit strebe er die Wiedervereinigung an, obwohl er sicher gewußt hat, ja wissen mußte, daß mindestens für eine voraussehbare Zeit die Wiedervereinigung und das westliche Bündnis nicht miteinander zu vereinbaren waren. Damit hat er — es tut mir leid, das sagen zu müssen — einfach gelogen. Im Sinne der Politik, die er verfolgte und die durchaus legitim war und sich, wie wir heute wissen, bis zu einem hohen Grade gerechtfertigt hat, handelte er jedoch patriotisch und richtig. Das ist durchaus ein Ruhmestitel für ihn. Hätte er hingegen den Deutschen damals klar gesagt, wenn ihr in die NATO geht, wenn ihr in die Europäische Gemeinschaft geht, dann müßt ihr euch die Wiedervereinigung bis auf weiteres aus dem Kopf schlagen, dann, meine ich, hätten die Deutschen diese Politik nicht gutgeheißen und wären heute wahrscheinlich in einer sehr viel schlimmeren Lage als sie sind.

Hier haben Sie ein schlagendes Beispiel dafür, daß unter Umständen wirklich die Lüge, die offene Lüge zur Politik gehört und gewissermaßen eine Pflicht des Politikers ist. Natürlich, er darf sich nicht erwischen lassen.« Dazu Arendt:

Ich bin nicht der Meinung, daß das Erwischtwerden das einzige Kriterium sein soll, an dem wir uns orientieren.

Wenn ich mich zunächst kurz dazu äußern darf, was Herr Haffner vorhin gesagt hat, daß es die Pflicht des Kaufmanns sei, soviel bei einem Geschäft herauszuschlagen, wie er kann. Das ist doch nicht seine Pflicht, sondern sein Vorteil! Wo steht denn geschrieben, wo haben Sie diesen merkwürdigen Imperativ her, daß jeder soviel Geld machen soll und muß, wie er nur irgend kann? Das ist ein Imperativ, der weder in irgendeiner Religion, noch in irgendeiner Ethik verankert ist. Und was Sie dabei übersehen — auch mit Ihrem Erwischtwerden — ist etwas sehr Entscheidendes: nämlich Vertrauen. Für ein Volk, das ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln muß, um als Volk, als Gemeinschaft bestehen zu können, ist die Schaffung einer gegenseitigen Vertrauensbasis von größter Bedeutung.

Wenn ich heute in ein Geschäft gehe und mir der Besitzer sagt, ich habe diese Ware nicht, aber Sie bekommen das Gewünschte dort und dort — was Ihnen übrigens sehr häufig passiert und ganz gegen Herrn Haffners Imperativ für den Kaufmann steht — so heißt das für mich, daß ich zu diesem Geschäft, zu diesem Kaufmann Vertrauen habe. Es hat sich ein Vertrauensverhältnis zwischen mir und dem anderen hergestellt. Lügen hingegen zerstören. Sie kennen das Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Es ist ja gerade eine der ruinösen Folgen des Lügens, daß es das Vertrauen zwischen Menschen zerstört.

[Einwurf Hölters: »Wenn die Lüge herauskommt.«]

[Arendt:] Es handelt sich nicht darum, ob die Lüge herauskommt. Dadurch, daß dieser Geschäftsmann mir gegen sein Interesse sagt, wo ich das Benötigte bekomme, hat er ein Vertrauen hergestellt, das immer möglich war, aber jetzt eine Realität wird.

Ich erinnere mich an meine erste Zeit in Amerika. Da gab es in einem Fall Verhandlungen zwischen Verlegern. Der Mann, der für uns verhandelte, war ein Deutscher und kam strahlend zurück, er hätte alles zu unserem Vorteil erreicht. Daraufhin sagte ihm der Chef: Wer hat denn von Ihnen verlangt, Sie sollten alles erreichen? Das kann nur schlechte Folgen haben für unser späteres Zusammenarbeiten. Wir sind aufeinander angewiesen, wir leben zusammen, was ich von Ihnen erwartet habe, war ein Kompromiß. Ein Kompromiß, sagte unser Mann aus Deutschland, ein Kompromiß ist etwas Gräßliches. Worauf es aber à la longue ankommt, ist immer die Möglichkeit, sich einig zu werden, ist der Kompromiß, bei dem beide Seiten zueinanderfinden. Das schafft dann eine Atmosphäre, in der Menschen miteinander leben können, weil sie wissen, der andere wird nicht irgend etwas tun, nur um ihnen einen Schaden zuzufügen. Dies erscheint mir doch sehr wesentlich.

Was nun Konrad Adenauer betrifft: ich halte die Sache mit der Wiedervereinigung nicht für so schlimm. Wie konnte denn Adenauer wissen, ob sie vielleicht nicht doch in den politischen Karten war? Meiner Ansicht nach war sie zu keiner Zeit eine reale politische Möglichkeit. Ich war immer der Meinung, daß die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie die entscheidende Frage der deutschen Politik ist, und daß sie definitiv durchgeführt werden muß. Es handelte sich ja nicht nur um die deutsche Wiedervereinigung, sondern es handelte sich auch und vor allem darum, zu den von Deutschland verwüsteten und geschändeten Ländern wieder irgendein Vertrauensverhältnis herzustellen. Das war in der Tat eine sehr schwere Aufgabe.

Ich habe von Adenauer eine ziemlich hohe Meinung. Aber in einer Hinsicht hat er faktisch gelogen, und meiner Ansicht nach erheblich schlimmer, als in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands. Sehen Sie, Adenauer hat immer behauptet, daß die Mehrheit des deutschen Volkes gegen Hitler gewesen sei. Das ist eine Lüge. Wenn man das prozentual ausdrücken will, dann kann man sagen, 10 Prozent waren immer hundertprozentig dafür, 10 Prozent waren immer hundertprozentig dagegen, die übrigen 80 Prozent haben ihre Meinung von Jahr zu Jahr geändert. Ohne diesen Rückhalt im Volk hätte Hitler natürlich niemals regieren können. Keiner von solchen Leuten wie Hitler kann allein regieren, so etwas gibt es nicht. Jeder Mensch, wenn er überhaupt handeln will, braucht andere, die ihm dabei helfen. Und wie er diese anderen bekommt, in welcher Zahl er sie bekommt und mit welchen Mitteln, das ist das Entscheidende. Wir brauchen uns doch nicht zu unterhalten über die psychologische Charakterbeschaffenheit der Herren Stalin oder Hitler, nicht einmal über die von Herrn Nixon. Keiner von ihnen hätte je irgend etwas erreichen können ohne die Mithilfe der anderen. In dieser Hinsicht also hat Adenauer wirklich gelogen, denn er hat gewußt, daß die politischen Tatsachen anders waren, als er sie darzustellen versuchte.

Nun, weder Chruschtschow konnte es sich leisten, auf dem berühmten XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 seinem Volke zu sagen, ihr steckt voll von Verbrechern, was schließlich die einfache Wahrheit war, noch konnte Adenauer zugeben, wieviele Deutsche auf diese oder jene Weise mit den Nazis paktiert hatten. Das ist Deutschland sehr gut bekommen. Es ist Rußland, wie Sie wissen, erheblich schlechter bekommen. Ich bin zwar nicht der Meinung, daß es dort noch heute eine stalinistische Herrschaft gibt, das hat sich in der Tat geändert, und man kann von der politischen Wissenschaft her genau beschreiben, was sich geändert hat. Aber immerhin befinden sich auch heute noch Millionen von Menschen in den Lagern, die auf ihre Art Vernichtungslager sind, ganz einfach deshalb, weil in ihnen eine bestimmte Anzahl von Menschen eine bestimmte Anzahl von Jahren nicht überleben kann. Sie sehen, diese Sachen sind sehr gefährlich. Politik ist überhaupt ein sehr gefährliches Geschäft.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommt Vogel auf Arendts Behauptung zurück, Adenauer habe immer behauptet, dass die Mehrheit des deutschen Volkes gegen Hitler gewesen sei, und stellt fest: »Es ist sehr die Frage, wann Hitler eine Mehrheit hatte oder nicht; eines ist ganz sicher: am Tage der Eroberung von Paris war seine Mehrheit größer als am Tage der Niederlage bei Stalingrad. Daß er aber immer eine Majorität im deutschen Volk gehabt hätte, das muß ich doch beträchtlich in Zweifel ziehen, obwohl es natürlich richtig ist, daß er immer Rückhalt brauchte, um überhaupt Hitler sein zu können.« Arendt entgegnet:

Selbstverständlich kann ich das nicht beweisen, es ist eine Meinung und keine als gesichert zu betrachtende historische  Wahrheit.

Ich möchte nur noch in einem Punkt auf eine Ihrer Äußerungen zurückkommen. Sie sagen, der Zweck muß sich auch lohnen. Na also, gemeinhin sagt man, daß es so etwas gibt wie das Gemeinwohl, dem der Politiker verpflichtet ist. Wenn ich Herrn Haffner richtig verstanden habe, wird diesem Gemeinwohl am besten dadurch gedient, daß jeder so entschlossen und rücksichtslos wie möglich sein privates Wohl verfolgt.

[Haffner: »Das habe ich nicht gesagt.«]

[Vogel: »Er hat aber vielleicht gesagt: den Vorteil verfolgt.«]

[Arendt:] Nun gut, nehmen wir den Vorteil an. Es ist eine allgemeine ökonomische Theorie nach Adam Smith, daß eine »unsichtbare Hand« das Gesamte so leitet, daß, wenn alle ihr Privatinteresse verteidigen, sich das sozusagen zum Gemeinwohl addiert. Ich halte diese Theorie für eine der schädlichsten, verderblichsten und auch falschesten Theorien, die es gibt. Ein Politiker muß eine Sache wissen: Wenn er sich dem Gemeinwohl verschrieben hat, hat er damit all denen, die ihn wählen, gewissermaßen versprochen, daß er seine Privatinteressen in den Hintergrund stellen wird. Das heißt, daß sich die Privatinteressen an sich niemals zum Gemeinwohl addieren — unter anderem wegen des Lebens des Menschen.

Nehmen Sie einen Konflikt über Mieten zwischen dem Besitzer eines Hauses und den Mietern. Da haben Sie also zwei Klassen sozusagen gegeneinander. Was wirklich auf dem Spiel steht, ist eigentlich das Haus. Dieses Haus hat es an sich, daß es, wenn es vernünftig gebaut ist und anständig erhalten wird, länger lebt als jeder, der es besitzt oder in ihm wohnt. Vernünftig ist es also, sich nach dem Wohl des Hauses zu erkundigen. Das ist außerordentlich schwer, und es ist auch außerordentlich schwer, dies von den einzelnen Mietern zu verlangen. Aber wir leben in einer Welt, die vor uns vorhanden war und die noch vorhanden sein soll, wenn wir sterben. Wir selber sind ja nur die flüchtigen Bewohner dieser Welt. Das, worum es also geht, ist diese Welt. Und  das, was den Staatsmann auszeichnet, was eigentlich seine Würde ausmacht, ist, daß er um dieses, was schon vorhanden war, was jetzt noch ist und was über unsere Zeit hinaus erhalten bleiben soll, daß das im Mittelpunkt seines Interesses steht. Davor muß das Interesse des einzelnen zurückstehen.

Gewiß, das hat nun nichts mit der Lügenfrage zu tun. Ich bin nur darauf gekommen, weil Sie sagten, Herr Vogel, der Zweck muß sich auch lohnen. Wenn es die Welt ist, und wenn wir die Welt genug lieben, um an ihr interessiert zu sein, dann ist das der Zweck, für den es sich lohnt, auch wenn diese Welt in einzelne Kontinente, in einzelne Nationen etc. zerbrochen zu sein scheint.

In der Schlußrunde bittet Hölters, Arendt möge Ihre Behauptung, dass heute an die Stelle der traditionellen Lüge die organisierte getreten sei, genauer ausführen. Arendt geht wie folgt darauf ein:

Was wir wirklich überall beobachten können, ist das Eindringen der Reklame in alle unsere Lebensbereiche. Das ist auch durchaus verständlich, denn schließlich leben wir in einer Konsumgesellschaft. Nur hat sich diese Entwicklung sehr nachteilig ausgewirkt.

Sehen Sie, wir wissen seit den Pentagon-Papieren, daß Amerika diesen ganzen Krieg in Vietnam um sein Image geführt hat — entweder wollte jemand die nächsten Präsidentenwahlen gewinnen (wer will schon der erste Präsident sein, der einen Krieg verliert?) oder aber um das Image Amerikas in der Welt, um den Beweis, daß es wirklich die größte Macht der Welt ist. Doch damit nicht genug. Man wollte unbedingt, daß die Welt auch daran glaubt, daß Amerika das stärkste Land der Welt ist. Alles geschah nach der Vorstellung, daß ein Faktum nur dann ein Faktum ist, wenn alle es glauben — was selbstverständlich auf einem Irrtum beruht. Denn: Wenn alle es glauben, ist auch ein Nicht-Faktum ein Faktum.

Da gibt es übrigens eine herrliche kleine Anekdote von Clemenceau zu Ende der zwanziger Jahre. Stresemann kam zu ihm und fragte im Verlauf des Gesprächs: Herr Clemenceau, was, glauben Sie, werden spätere Historiker über die Kriegsschuldfrage sagen? Clemenceau entgegnete, das weiß ich nicht; aber sie werden gewiß nicht sagen, daß am 4. August 1914 Belgien in Deutschland einfiel. Sehen Sie, da erwies sich Clemenceau als ein alter gewiefter Politiker. Denn genau das wollte diese ganze organisierte Lügerei de facto zweifellos erreichen. Natürlich: hätte Hitler gesiegt, würden wir eines Tages Geschichtsbücher haben, in denen zu lesen steht, daß am 4. August 1914 Belgien in Deutschland eingefallen ist und alles Übrige sei eine Lüge.

Um solch eine Sache plausibel zu machen, dazu sind die Werbemanager da. Die können Ihnen sagen, daß dies die beste Seife der Welt ist, Sie haben gar nicht die Möglichkeit, das nachzuprüfen. Wer kann alle Seifen der Welt prüfen? Aber wenn das häufig genug auf dem Bildschirm erscheint, dann ist das eben die beste Seife der Welt. Hier haben Sie ein Beispiel dafür, was ich das Lügen im Prinzip nenne.

Nun, der eigentliche Erfolg dieser Methoden ist nicht, daß Menschen dies oder jenes glauben. Menschen werden dadurch zynisch und glauben gar nichts mehr. Das ist eigentlich der einzige Effekt, den diese ganze Lügerei wirklich erzielt. Aber etwas viel Schlimmeres passiert, als dieses sich Ausbreiten eines spezifischen Zynismus, nämlich: daß es zwischen Wahrheit und Lüge keine Trennung mehr gibt, daß man nicht mehr sagen kann: das ist eine Lüge, und das ist eine Wahrheit. In diesem schrecklichen Jahrhundert, in dem schon so viel geschehen ist, müssen wir bescheiden sein. Wir müssen schon froh sein, wenn es uns gelingt, zwischen Wahrheit und Lüge noch zu unterscheiden; und dazu gehört in der Tat jenes vorhin von mir erwähnte Dostojewski-Zitat aus den »Brüdern Karamasow«, daß man acht geben muß, nicht selbst das Opfer seiner eigenen Lügen zu werden. Wenn Sie der Meinung sind, daß es nur von der Zahl der Menschen abhängt, ob eine Wahrheit eine Wahrheit oder eine Lüge ist, dann brauchen Sie sich ja nur vorzustellen, wie viele Millionen Menschen jetzt vor dem Fernsehschirm sitzen und sich die Werbesendungen anschauen. Alle wollen sie mit dazugehören, wollen sich einer Sache bedienen, die irgend jemand erfunden hat. In diesem Moment werden diese  Menschen zu betrogenen Betrügern. Und davor, daß wir alle in vieler Hinsicht in der Gefahr leben, zu betrogenen Bürgern zu werden, graust es mir sehr viel mehr, als vor Lügnern.

 

 

 

1Die von Reif vorgenommenen Kursivierungen in den Texten wurden nicht übernommen. Für die Endnoten zeichnet die Redaktion verantwortlich.

2Voltaire im Brief vom 21. Oktober 1736 an seinen Freund Nicolas-Claude Thiriot: »Le mensonge n'est un vice que quand il fait du mal; c'est une très grande vertu, quand il fait du bien. Soyez donc plus vertueux que jamais. Il faut mentir comme un diable, non pas timidement, non pas pour un temps mais hardiment et toujours. […] Mentez, mes amis, mentez.«

3Haffner hatte als Beispiel für eine »gute«, verziehene politische Lüge angeführt: »Roosevelt wurde 1940 mit der klaren Lüge gewählt, daß er die Vereinigten Staaten aus dem Kriege heraushalten würde. Er hat das Land nicht herausgehalten und hatte es auch gar nicht vor. Er arbeitete 1940 durchaus auf das Eingreifen Amerikas in den Krieg hin. Aber ohne diese Lüge wäre er wahrscheinlich nicht gewählt worden angesichts der damaligen Stimmung in Amerika. Ohne diese Lüge wäre Amerika nicht in den Krieg eingetreten, und der Krieg hätte ein, sicher für Amerika und vielleicht für die ganze Welt, sehr schlimmes Ende genommen. War das richtig, oder war das falsch? Jedenfalls hat man es ihm verziehen. Er gilt als ein großer Präsident, auch bei seinen ehemaligen Gegnern. Man hat ihm keineswegs nachträglich vorgehalten: aber du hast ja gelogen.«

4Haffners Beispiel für eine »schlechte«, verbotene Lüge: Hitler log 1938, »als er sagte: Das Sudetenland ist meine letzte territoriale Forderung. Diese Lüge wurde bereits von ihm selbst als Lüge enthüllt, als er die restliche Tschechoslowakei besetzte, dann für sich den Korridor forderte usw. Das ist eine schlechte und daher verbotene Art zu lügen. Eine Lüge, von der man selbst weiß, daß man sie bald widerlegen wird, wird der Sache, um derent willen man gelogen hat, schaden, sie gilt infolgedessen auch politisch als verwerflich.«

5Es ist nicht Dimitri, der die Frage stellt, sondern sein Bruder Fedor Pawlowitsch.

6Hier nimmt Arendt ein Beispiel auf, das Haffner in seinem Beitrag erwähnte: »Profumo, der englische Heeresminister, dessen Karriere für immer ruiniert war, weil er in einer im Grunde privaten Angelegenheit – er unterhielt enge Kontakte zu einem bestimmten Mädchen – im Unterhaus die Unwahrheit sagte.« Der sogenannte Profumo-Skandal erschütterte die Regierung Macmillan; denn das Callgirl Christine Keeler unterhielt ihrerseits Beziehungen zum sowjetischen Militärattaché in Großbritannien.