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Ausgabe 1, Band 10 – Dezember 2020

Pluralität denken

Christina Thürmer-Rohr: Fremdheiten und Freundschaften. Essays. Bielefeld: transcript Verlag 2019, 288 Seiten, 29,99€.

Wollte man den 2019 im transcript Verlag erschienenen Essayband von Christina Thürmer-Rohr auf einen Begriff bringen, dann wären ›Übungen im Denken von Pluralität‹ eine Möglichkeit. Bereits im Titel des Bandes, Fremdheiten und Freundschaften, sind zentrale Denkfiguren angesprochen, die in wechselseitiger Bedingung gedacht Pluralität beinhalten: Fremdheit als eine bleibende Bedingung und Herausforderung unserer Existenz ist immer auch Bestandteil von Freundschaft, wenn Freundschaft als eine »von Andersheit durchmischte Verbindung« (S. 10) verstanden wird. »Wir stoßen auf Fremdheiten überall dort, wo Menschen miteinander und mit sich selbst zu tun haben« (S. 10); diese Fremdheit anzunehmen, ihr mit Neugierde und Offenheit zu begegnen, wird zur Grundlage von Freundschaft, die bei Thürmer-Rohr immer auch und vielleicht zuerst als immer wieder neu zu schaffende Form des Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft gedacht wird.

Die Denkgemeinschaft, oder vielleicht besser der Dialog, den Christina Thürmer-Rohr seit vielen Jahren mit Hannah Arendt führt, ist dabei unverkennbar. Hannah Arendts Denken sei, so Thürmer-Rohr in der Einleitung zum vorliegenden Band, in seinem unbedingten Weltbezug und seinem Willen, sich »in einer zerstörbaren Welt zu bewähren«, für sie ein »Fixstern«. Arendts Denken fordere dazu heraus, »ihre Gedankenwelt wie eine Werkstatt zu betreten« und »Denkwege zu zeigen« (S. 11). In den 19 im Band versammelten Essays findet sich diese Aufforderung wieder, Thürmer-Rohr lädt ein, ihren Denkwegen zu folgen, wobei die Bezugnahmen auf Deutungen und Begriffe Arendts unterschiedlich dicht sind.

Die Nähe zwischen beiden Autorinnen zeigt sich zum einen in der geteilten Skepsis gegenüber in sich geschlossenen Theoriegebäuden und allzu eindeutigen Antworten. Arendts Denken sei ein »offenes Denken«, das sich von »Scheinsicherheiten geschlossener Theorien und vom Betrieb akademischer Diskurse« unabhängig mache und sich den Singularen ›der Mensch‹, ›die Wahrheit‹, ›die Identität‹ widersetze«, so Thürmer-Rohr über Arendt, Gleiches passte auf Thürmer-Rohr (S.12). Beide Denkerinnen verbindet zudem ein schonungslos offener Blick auf die Welt und die sie bewohnenden Menschen. Sie stellen sich den Herausforderungen des Zusammenlebens in einer Welt, in der politische Verwerfungen, die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Zugehörigkeit in klaren wir-die-Einteilungen, in der Hass auf Fremdes und dessen Umschlag in Gewalt Pluralität nahezu utopisch erscheinen lassen. Dass sie dennoch an diesem Gedanken festhalten, verdankt sich ihrem Vertrauen in menschliches Handeln, dem sie aller Katastrophen zum Trotz Aufbrüche und Neuanfänge zutrauen.

Die im Band versammelten Essays sind Arbeiten der letzten Jahre. Thürmer-Rohr nimmt Bezug auf Ereignisse und gesellschaftspolitische Entwicklungen wie beispielsweise die Wahl Donald Trumps und das Erstarken der politischen Rechten und deren Diffundieren in die gesellschaftliche Mitte; sie lässt uns teilhaben an ihrer anhaltenden Auseinandersetzung mit feministischem Aktivismus und feministischer Theorie sowie mit in ihren Augen zu kurz greifenden Gleichstellungspolitiken. Die eigene politische und feministische Biografie ist dabei ein wiederholter Anknüpfungspunkt. Weiteres ›Material‹ stammt aus Lektüren biblischer wie auch literarischer Geschichten sowie aus der Welt der Musik. Besonders beeindruckend ist Thürmer-Rohrs Nachdenken über das Altern und die Vergänglichkeit des Lebens, das den Band beschließt. Mögen die Ausgangspunkte und ›Anlässe‹ der einzelnen Texte auch weit auseinanderliegen so kreisen sie doch alle um die Frage nach den Bedingungen des Zusammenlebens, um das Zusammenleben in Gesellschaft wie auch um das Zusammenleben mit sich selbst, mit der inneren Vielstimmigkeit, den »inneren Kontroversen« (S. 149).

Freiheiten des Essays

Für diese Art des Umkreisens und Durchdenkens, das sich Fragestellungen von verschiedenen Seiten nähert und dabei Gelesenes und Biografisches, eigene Erfahrung mit Gedanken und Analysen Anderer verbindet, ist die Form des Essays prädestiniert.

»Essays verleihen Freiheiten.« verkündet Thürmer-Rohr ganz zu Beginn und meint damit vor allem Unbefangenheit »gegenüber Spezialistentum« und Beweglichkeit im Denken (S. 7). Essays ermöglichen, »unerledigte Fragen« immer wieder neu anzugehen, dabei den Gedankengang in der Schwebe zu halten, Positionen abzuwägen, ohne zu einem abschließenden ›so ist es‹ gelangen zu müssen. Vor allem aber sind Essays qua Form Übungen im dialogischen Denken und Schreiben; sie erlauben es, Gedanken anderer aufzunehmen, auf sie zu reagieren, ohne sie einzuebnen, komplett zurückzuweisen oder aber den eigenen anzugleichen. Und sie erlauben es, ein Selbstgespräch zu führen, in dem »widersprüchliche Gefühle und gemischte Gedanken« (S. 257) Raum haben. Die den Band beschließenden Reflektionen über Vergänglichkeit, über das Altern und den Tod, sind ein ergreifendes Zeugnis dieser Form des inneren Abwägens, Aussprechen, Zurücknehmens, Neu-Formulierens.

»Der Essay ist eine Form der Weltoffenheit.«, schreibt Heinz Bude in einer Reflektion über den Essay als Form politischen Denkens.1 Diese Beschreibung ist überaus treffend für das publizistische Werk Thürmer-Rohrs, Form und Inhalt verbinden sich in ihren Texten auf beeindruckende Weise. Kurz: der Essay ist die Form der Autorin Thürmer-Rohr.2

Zusammenhandeln der Verschiedenen

Arendts philosophische Standpunkte gegenüber Totalitarismus, Gleichmacherei und Überflüssigmachen von Menschen bilden für Thürmer-Rohr Orientierungspunkte in der Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart. Insbesondere Arendts Bestehen auf Pluralität als einer »unabweisbaren Tatsache« (S. 53), deren Ermöglichung zugleich eine immerwährende Aufgabe ist, wird von Thürmer-Rohr in eine Gegenrede gegen die neoreaktionären und xenophoben Bewegungen unserer Zeit übertragen. Etwa wenn sie gegen die aktuell verbreitete Wahrnehmung von Fremden als Feinde den »kosmopolitischen Menschheitsentwurf« (S. 50) verteidigt und mit Arendt eine Vision von Kosmopolitismus entwirft, in der Fremdheit Lebensbedingung und eine Gemeinschaft der Verschiedenen denkbar ist. Oder wenn sie im Text »Kontroversen zur Kohabitation« angesichts zunehmender Verständigungsnot und gesellschaftlicher Spaltung das Prinzip der Pluralität als Orientierung empfiehlt und für ein »Denken vom Anderen her« plädiert, »das um die Frage nicht herum kommt, wie es wäre, an dessen Stelle zu sein.« (S. 77). Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der explizit Arendts politischem Denken gewidmete Text »Anfreundung mit der Welt« (S. 53), in dem Thürmer-Rohr Grundlegendes zu Arendts Verständnis von Pluralität zusammenträgt, indem sie den Zusammenhängen zwischen Pluralität und Freundschaft, Pluralität und Menschlichkeit, Pluralität und Zuwendung zur Welt in Arendts Werk nachspürt.

In gewisser Weise lässt sich von Thürmer-Rohrs Band daher auch von einem humanistischen Lesebuch für die Jetzt-Zeit sprechen. Als ein solches lädt es ein zu einem »Denken der Pluralität«, zu einem »dialogischen Denken, das auf die Möglichkeit des Zusammenhandelns der immer Verschiedenen für ein gemeinsames Drittes aus ist, auf ein gerechtes Zusammenleben« (S. 182).

»Anstößigkeit zurückgewinnen« - Feministische Herrschaftskritik mit Hannah Arendt

Eines der zentralen Themen im Werk wie im Leben Thürmer-Rohrs ist der Feminismus. Zeitzeuginnen berichten vom prägenden Einfluss Thürmer-Rohrs in der Westberliner Frauenbewegung; einigen gilt sie gar als Ikone der weißen Frauenbewegung. Dabei war ihr Blick auf den Feminismus immer ein durchaus kritischer Blick. Sie scheute sich nicht, kontroverse Thesen zu vertreten – die Debatte um das Mit-Tun, das Verstricksein von Frauen in die patriarchale Herrschaft, ihre ›Mittäterschaft‹, gilt als wichtiger Moment feministischer Theoriebildung.3

Im aktuellen Band sind mehrere Essays enthalten, die sich explizit mit der Geschichte der Frauenbewegung, dem politischen Elan der 1970er Jahre und den ›Irrtümern‹ des politischen Aufbruchs befassen. In anderen Texten schwingt feministische Kritik als Grundstimmung mit, gerade auch in Begriffen und Formulierungen, in denen Thürmer-Rohr Gedanken Hannah Arendt aufnimmt und zeigt, wie Arendts Denken als ein epistemologischer Einspruch gegen festgefügte, diskriminierende Weltgestaltung, aber auch gegen allzu einfache, eindimensionale Deutungen und Widerstandgesten gelesen werden kann. »Mit Arendt zu denken führt nicht weg von einer feministischen Herrschaftskritik, sondern vertieft sie, indem es den Bruch mit der Hegemonie des Identitätsbegriffs fundiert, der mit der Zerstörung der Pluralität auch den politischen Raum zerstört.« (S. 39)

Bekanntermaßen ist bereits in den 1980er Jahren innerhalb des Feminismus Kritik an identitätspolitischen Ansätzen laut geworden, die ein durchaus konfliktbelastetes Durcharbeiten feministischer Grundbegriffe nach sich gezogen hat. Die Dezentrierung und Pluralisierung des Kollektivsubjektes ›Frauen‹ und die Verabschiedung von essentialistischen Weiblichkeitsentwürfen sind ein Ergebnis dieses Prozesses. In gewisser Weise ist Feminismus jetzt an einem Punkt, an dem Arendts Analyse des Totalitarismus bereits Mitte des 20. Jahrhunderts war: »jeden kollektiven Singular als Ausdruck totalitären Denkens zurückzuweisen« (S. 181) und für ein gerechtes Zusammenleben der »immer Verschiedenen« einzutreten (S. 181).

Thürmer-Rohr hat bereits früh auf die Bedeutung des politischen Denkens Hannah Arendts für das feministische Projekt hingewiesen. Auch im vorliegenden Band geht sie auf Einwände gegenüber Arendt ein; Einwände insbesondere gegenüber deren Verständnis von Öffentlichkeit als dem Ort des Politischen und der Ausklammerung und Verschiebung aller Belange der Lebenserhaltung in einen Privatraum, um dessen Politisierung es der Frauenbewegung ja gerade gelegen ist. Arendt spreche vielleicht nicht im Register des Feminismus, jedoch könne Feminismus nur gewinnen, wenn er Arendts Denkwege aufnimmt: »er gewinnt eine Anstößigkeit zurück, die er verliert, sobald er essentialistisch und zur Identitätspolitik wird.« (S.40).

In Zeiten, in denen Feminismus vor der Herausforderung steht, neoliberale Vereinnahmungsgesten zurückzuweisen und dem wieder zunehmenden Denken in Identitätskategorien und der Abwehr von ›Fremden‹ etwas entgegenzusetzen, ist Thürmer-Rohrs Einladung, mit Arendt Feminismuskritik wie auch feministische Kritik zu formulieren, von unschätzbarer Bedeutung.

Sahra Dornick und Aline Oloff

(Beide sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universität Berlin.)

1 Heinz Bude, Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 41/3 1989, 526-539. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-40867 [letzter Aufruf 11.09.2020]

2 Fremdheiten und Freundschaften ist nach Vagabundinnen (1987) und Verlorene Narrenfreiheit (1994) ihr dritter Essayband. Hinzukommen zahlreiche Publikationen in Zeitschriften und Sammelbänden.

3 Eine Würdigung der politischen und theoretischen Arbeit Thürmer-Rohrs erschien aus Anlass ihres 80. Geburtstages unter dem Titel Die Freundschaft zur Welt nicht verlernen. Online zugänglich unter https://www.gwi-boell.de/de/die-freundschaft-zur-welt-nicht-verlernen [11.09.2020]