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Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

 

Dichtung und Wahrheit

Anne Bertheau: „Das Mädchen aus der Fremde“: Hannah Arendt und die Dichtung. Rezeption – Reflexion – Produktion. Bielefeld: Transcript, 2016. 412 Seiten.

Anne Bertheaus Monografie ist ein titelgebendes Gedicht vorangestellt, Friedrich Schil­lers „Das Mädchen aus der Fremde“ (1796): Auf dieses hat Arendt in Briefen an Erwin Loewenson und an Martin Heidegger wiederholt rekurriert (S. 16). Laut ihrem Bekennt­nis sind das Fremdsein und die ihm eigene Traurigkeit die Grundbaßtöne ihres eigenen Weltbezugs bzw. Weltfremdheit und -entrücktheit. Hierzu ist gleich auch ihre berühmte, in einem Brief an Heidegger formulierte Aussage zu Identitäten ‚Deutsche‘ oder ‚Jüdin‘ zu erwähnen: „Ich habe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufgehört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, was ich nun einmal bin, das Mädchen aus der Fremde.“ (S. 16) Das Fremdsein ist demzufolge die einzige, selbstgewählte Heimat Hannah Arendts; Arendt ist somit eine „Fremdlingin“ (S. 17). Insofern vermag für sie kein Land die Rolle der Heimat spielen: die Heimat ist einzig die Dichtung (S. 19).1

Die Leitidee der vorliegenden Studie ist, diesen und ähnlichen Selbstaussagen zu fol­gen, wobei willentlich darauf verzichtet wird, das „Gedankensystem eines anderen Den­kers auf Arendts offenes ‚Denken ohne Geländer‘ zu stülpen“ (S. 21). Die Monografie ver­mittelt zwischen einer diesen Selbstaussagen nachempfundenen ‚Arendt’schen Erzähl­theorie‘, Arendts eigenem Lyrikverständnis und der hermeneutischen Deutung der von ihr gedichteten Lyrik. Das Buch teilt sich somit in drei Teile: Der erste Teil geht Arendts innerem Verhältnis zu Dichtern von Johann Wolfgang Goethe bis Ingeborg Bachmann, wie auch ihren konkreten Kontakten mit deutschsprachigen Schriftstellern nach; der zweite behandelt ihre theoretischen Überlegungen zu Dichtung; während der dritte Ana­lysen von Arendts ausgewählten Gedichten bietet. Mit anderen Worten, indem sie die „Rezeption von deutschsprachigen Dichtern“ einerseits und „ihre theoretischen Äußerun­gen über Dichtung“ (S. 24) andererseits mit Analysen von Arendts eigenen Gedichten er­weitert und vervollständigt, geht die Monografie über die zwei tradierten Zugangsweisen zum Thema ‚Arendt und Dichtung‘ hinaus.

Erster Teil liest sich wie ein Katalog der Zitate, anhand deren Arendts Verbun­denheit zu J. W. Goethe, Friedrich Hölderlin, Heinrich Heine, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke und Bertolt Brecht bekräftigt wird.2 Zu den bereits bestehenden Biografien, ge­schrieben von Elisabeth Young-Bruehl, Julia Kristeva und Seyla Benhabib, fügt Bertheau hiermit eine neue, alternative Biografie hinzu; eine, die mithilfe von Zitaten, die Arendts Lebens­begleiter waren, geschrieben wird. Im Ersten Teil handelt sich daher um viel mehr als um eine bloße Zitatensammlung. Wie die Autorin unter Rückgriff auf Sigrid Weigel gleich zu Beginn erklärt, sollte man die betreffenden Zitate nicht als „Bildungszitate“ be­trachten, sondern als „Beglaubigungen der eigenen Wahrnehmung durch die Sprache an­derer Au­toren“ (S. 45).3 Die Dichtung wird nicht als Zusatz, sondern manchmal sogar als Ersatz des politischen Handelns betrachtet, insbesondere in Bezug auf Arendts Ausfüh­rungen zu „den finsteren Zeiten“, wie auch zu den „Handlungsmöglichkeiten eines Parias“ (S. 59).4
Anne Bertheau behauptet keine geradlinigen, widerspruchsfreien Verbindungsli­nien zwischen Arendt und ‚ihren‘ Dichtern; manchmal ist es die „visionäre Literatur“ ei­nes Franz Kafka, ein anderes Mal „satirischer Ausdruck, Freude an scharfem, auch frivo­lem Humor“ eines Bertolt Brecht, die Arendt zu einzelnen Autoren anziehen. In dieser Hin­sicht verweist Bertheau auch auf Limits von Arendts Beurteilung einzelner Dichter, z. B. des späten Bertolt Brecht, in dem Arendt einen „moralischen Konflikt“ (S. 81) zu erkenn­en glaubte. Bezüglich des komplexen Verhältnisses von Politik und Dichtung hat Arendt ‚den Fall Brecht‘ dahingehend missinterpretiert, dass sie laut einer Aussage von Barbara Schall-Brecht, Brechts Tochter, „durch [i]hre Vorurteile gegen den Sozialismus in [i]hrem Urteilsvermögen gestört worden“ ist (S. 81).5 Die Debatten um politische Literatur immer nur am Rande anreißend, verfällt Arendt jedoch keinem unreflektierten Schematismus: in ästhetischer Hinsicht weist sie sowohl ethische Vorschriften („Dieses ethische Gerede in der Kunst bringt den Kitsch direkt in sie hinein“, S. 856), wie auch den an der Gesellschaft und der ‚Welt‘ uninteressierten Lartpourlartismus zurück („L’art pour l’art ende in der Idolatrie des Schönen“, S. 85). Dass sich der von ihr kritisierte späte Brecht zum „ethi­schen Gerede“ nicht bekennen würde, bleibt dennoch – wie in den Debatten um die politische Literatur jener Zeit oft der Fall war – außen vor von Arendts kritischen Brecht-Anmerkungen.
In diesem Kontext sei auf die interessante Beobachtung Liliane Weissbergs ver­wiesen, die in einem Fußnoten-Vermerk versteckt liegt: Auf S. 59 wird Arendts These Raum gege­ben, dass „Dichter mit ihren literarischen Texten Wege des Protests aufzeigen sowie die Möglichkeiten des Zusammenlebens“. Die Frage ist dabei nicht, „ob ein Staat Dichter braucht, sondern ob die politische Theorie Dichter braucht“ (S. 59).7 Arendts Ant­wort darauf ist positiv. Ihre Überlegungen zu Dichtung enthalten daher doch einen dezi­dierten, wenngleich nur implizit pragmatischen Zug.8 In ihrer Perspektive vermag die Dichtung gleichsam wie eine ‚Anleitung zum Handeln‘ fungieren: „Kafka wie Heine haben als Dichter für Arendt Vorbildfunktion, die zu politischen Handlungen führen sollte.“ (S. 59)

Dem Ersten Teil (wie auch dem Zweiten und Dritten) sind kleine zusammenfas­sende Kapitel angehängt, in denen die Hauptthesen und wichtigsten Bemerkungen noch­mals skizzenhaft dargelegt werden. Arendts Rezeption der ausgesuchten Dichter teilt Ber­theau schlussfolgernd in folgende Einzelaspekte ein: „das Umkreisen einer Transzendenz, kos­mologische Vorstellungen in der Lyrik Goethes, Hölderlins und Rilkes“; „Lyrik als poeti­sches Engagement“ bei Heine, Kafka und Brecht; „Dichtung als bevorzugter Aus­druck der Liebe“ in den Gedichten Goethes, Rilkes und Brechts (S. 82). In diesem Zusam­menhang merkt Bertheau doch an, dass – obwohl hier thematische Schwerpunktsetzun­gen in den Vordergrund gerückt werden – es analytisch gewichtig ist, diese ‚Kriterien‘ nicht als den einzigen Wertmaßstab zu betrachten: „So müsse ein fortdauernder Ausgleich ästhetischer und ethischer Kriterien im Schaffensprozess am Werke sein.“ (S. 85) Bereits im darauffol­genden Satz wird aber dieser ‚Ausgleich‘ zugunsten der Ethik zurechtgerückt, sodass letzt­endlich die Frage offen bleibt, wie viel Ethik laut Arendt erwünscht bzw. zugelassen sei, bevor das Werk dem Kitsch anheimfällt: „Vor der Ästhetik steht jedoch für Arendt Ethik und diese wird durch Realitätsbezug und Gesellschaftskritik definiert.“ (S. 85)

Im Zweiten Teil, der meines Erachtens das argumentative Scharnier des Buches ab­gibt, ist die Autorin um die Herausarbeitung einer Arendt’schen Erzähltheorie bemüht. In Arendts Äußerungen zu Sprache und Dichtung erkennt Bertheau zwei Modelle, „zwei Stränge“ (S. 133): zunächst Sprache als Kommunikations- und Verständlichungsmedium, dem eine wichtige Handlungsfunktion innewohnt (Abschnitt „Sprache als Kommunikati­on“, S. 143-162), dann auch Sprache in ihrem Bezug zum poetischen Denken oder zur Dichtung (Abschnitt „Sprache als Metapher“, S. 163-196).

Der Auffassung von Sprache als Kommunikations- und Verständlichungsmedium liegt die Erfahrung der politischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, die in den Zweiten Weltkrieg mündeten, zugrunde; diesen gegenüber richtet sich Arendt im Wesent­lichen danach, „was Politik positiv bewirken sollte“ (S. 144). Entgegen der „Stummheit der Ge­walt“ besteht sie auf einer „differenzierten Kommunikation“, in der es nicht bloß um Mei­nungen geht (S. 144). „Im Austausch von Meinungen finden meist Monologe statt, die Personen sprechen aneinander vorbei, weil unter dem Begriff jeder etwas anderes ver­steht. In der differenzierten Kommunikation dagegen geht es um einen Austausch von Fakten.“ (S. 144) Arendts Kritik an der Verwendung von Sprache und Literatur behufs der Mittel-Zweck-Politik bringt Bertheau mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Nichtkom­munikative Sprache ist die Sprache der Krisenzeiten, wenn das Sprechen bloßes Gerede wird, ein Mittel zur Erreichung des Zwecks: um dem Feind Sand in die Augen zu streuen oder sich an der eigenen Propaganda zu berauschen. Bücher können so als Waffen konzi­piert werden und gehören zum Betätigungsfeld der Gewalt.“ (S. 145) „[D]ass es auf Wahr­heit ankomme und nicht auf Weltanschauungen“ (S. 148), hat Arendt bei Karl Jaspers ge­lernt. „Um jedoch zur Wahrheit zu finden, seien Gespräche notwendig, die auf echter Kommunikation beruhen.“ (S. 148) Die Sprache ist demzufolge Garantie, Bürgschaft für ein jasperianisches, aber keinswegs heideggerianisches „Mitsein“ (S. 152).

Während in Heideggers Philosophie Mitmenschen einen Störfaktor, ein „stören­des Ele­ment“ darstellen, sind sie für Jaspers geradezu die Voraussetzung für das Mitsein. Daraus folgen Arendts berühmte Schlüsse, wonach Kommunikation mit Mitteilung gleichzuset­zen ist, und Wahrheit auf Mitteilbarkeit beruht (S. 154). Dies schließt den stummen Dia­log mit sich selbst jedoch nicht aus; festzuhalten ist allerdings, dass Mitteilbarkeit und Mitteilung die Voraussetzung sowohl für Kommunikation als auch für Wahrheit sind. In diesem Kontext finde ich es wichtig, dass Bertheau Arendts Distanz sowohl zu Heidegger als auch zu Theodor W. Adorno unterstreicht. Während den Stein des Anstoßes zwischen Arendt und Heidegger gerade ihre Insistenz auf Sprache als Kommunikation ausmacht, so war Arendt nicht einmal mit Adornos Sentenz einverstanden, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich: „Das sind hysterische Reaktionen“, sagte sie, „die man wohl verstehen kann, die aber jeder wirklichen Auseinandersetzung nur hinderlich sein können.“ (S. 159)9 (In diesem Kontext äußert sie sich auch gegen den „Gefühlskitsch der Aufarbeitung“, S. 160.)

Zum Ausgangspunkt des Abschnitts „Sprache als Metapher“ nimmt Bertheau Arendts Grundannahme, die Sprache sei von Grund aus metaphorisch: die Sprache be­handelt Sachverhalte, die zunächst als Sinneserfahrungen erlebt werden, um sie dann in den Be­reich des Sprechens – der Philosophie und der Dichtung – zu übertragen (S. 168). In die­sem Sinne ist auch Arendts Bemerkung zu deuten, wonach selbst das Denken einen sinn­lichen Ursprung hat; mit Sprache wird das sinnlich Erfahrbare und Erfahrene auf eine andere Ebene gehoben. Hier macht sich zweifelsohne die Kantianerin Arendt sicht­bar: die Sprache sorgt für die ‚Liberation‘ d.h. für die Befreiung von den unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen des Körpers, von den impulsartigen Affekten. Mit anderen Wor­ten, da Er­fahrungen sprachlich grundsätzlich „niemals vollständig wiedergebbar“ sind (S. 169), müssen sie sowohl in der Philosophie wie auch in der Dichtung „aufgetaut“ werden. Nur so kann man „ihre ursprüngliche Bedeutung“ begreifen. Kurzum, nicht nur die Philosop­hie arbeitet mit ins Abstrakte transponierten Erlebnissen des Körpers, selbst die Dich­tung ist das Resultat eines ähnlichen metapherein: „Die Metapher als Bild ist eine Mög­lichkeit, die Reduziertheit der Sprache zu erweitern.“ (S. 169) In diesem Sinne ist auch Arendts im Ersten Teil angebrachte Beobachtung zu verstehen, wonach Kafkas Texte „eine eigen­schaftslose Abstraktheit, eine Konstruktion von Modellen, einen Grundriss der Welt“ schaffen (S. 60).

Die Hervorhebung der metaphorischen Beschaffenheit der Sprache steht im Ein­klang mit Arendts Korrektur der Zwei-Welten-Theorie: Es gibt zwar zwei Welten – die Welt des Denkens (Weisheitsliebe, Philosophie) und die praktische Welt der arbeitenden Betäti­gung (Selbsterhaltung des Lebens) – aber diese Welten sind bei Weitem nicht unvereinb­ar. „Die Zwei-Welten-Theorie ist [...] eine metaphysische Täuschung, wenn auch keines­wegs eine willkürliche oder zufällige; es ist die einleuchtendste Täuschung, mit der die Er­fahrung des Denkens geschlagen ist. Indem sich die Sprache metaphorisch gebrauchen lässt, ermöglicht sie uns das Denken, d.h. den Umgang mit nichtsinnlichen Dingen, weil sie eine Übertragung (metapherein) unserer Sinneserfahrung ermöglicht. Es gibt nicht zwei Welten, denn die Metapher vereinigt sie.“ (S. 179)10

So vereinigen sich zwei Wahrheitsmodelle, eines der Sprache als Kommunikation und eines der Sprache als Metapher; zusammen fügen sie sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammen. Während die Sprache als Kommunikation „diesseitsbezogen“ ist und sich „über den Umgang mit den Mitmenschen“ definiert (S. 197), betrifft die Sprache als Meta­pher ausschließlich „das Innenleben des Menschen“: da sowohl Emotionen als auch „ge­dankliche metaphysische Spekulationen“ (S. 197) grundsätzlich unsichtbar sind, be­dürfen sie des metapherein, der Übertragung in das „vernünftige“ Inter-esse der Men­schen. Par­allel zu diesem Übertragungsprozess ereignet sich, so würde man arendtianisch vervoll­ständigen, die Ersetzung der Kategorie ‚Mensch‘ durch die Pluralität ‚Menschen‘.

Hiermit ist auch Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger angekündigt, die im nach­stehenden Abschnitt („Zeitliche Dimension der Dichtung“, S. 199-273) thematisiert wird. Bertheau rekurriert auf die „Theorie der Narration“, wie sie in Vita activa entwi­ckelt wird. Die Narration wird von Bertheau im engen Zusammenhang mit einer „Theorie der Kreation“ (S. 199) erläutert, mit welcher der sich außerhalb von Zeit und Raum ereignend­e, „kreative[] Akt“ (S. 243) des Denkens gemeint ist. Hier bleibt jedoch unge­klärt, wieso die Autorin Bezeichnungen „Narration“ und „Kreation“ (S. 208) verwendet, wo Arendt von Erzählkunst und Denken sprach. Sind dies Einflüsse der kognitionstheore­tischen Debatten oder sind sie der etwas ungeschickten Übersetzung aus dem Französi­schen zu verdanken? Eine detailliertere Bemühung um diese Begriffe wäre an dieser Stel­le notwendig gewesen.

Isak Dinesens berühmte Aussage, wonach „alles Leid erträglich wird, wenn man es ei­ner Geschichte eingliedert oder eine Geschichte darüber erzählt“ (S. 208),11 ist in Arendt-Forschung zum Gemeinplatz geworden. Von vielen TheoretikerInnen wird diese Aussage als Ausgangspunkt einer an Arendt angelehnten Erzähltheorie genommen, die die Heil­funktion des Erzählens in den Mittelpunkt rückt. Interessant ist dabei, dass Ber­theau nicht so sehr auf der Heilfunktion wie auf dem Ereignisbegriff bestehe. Gerade dar­in fin­de ich ihre Ausführungen am fruchtbarsten. Arendt übernimmt die Aristotelische Auffas­sung, wonach sich der Mensch vor allem durch sein Sprachvermögen von anderen Lebe­wesen unterscheidet. Die Sprache ist das, was den Menschen aus dem „Kreislauf der Na­tur“ bzw. „Kreislauf des biologischen Lebens“ herausnimmt (S. 209f.) und ihn in ein „an­dersartiges, lineares Leben“ versetzt (S. 210). Das lineare Leben sowohl des einzelnen Menschen als auch der Geschichte, die ansonsten kreisförmig verlaufen würden, wird erst durch Ereignisse (Taten, Unterbrechungen, Worte) erzeugt. Die lineare Entwicklung kommt durch eine Aneinanderreihung von außerordentlichen Erscheinungen zustande; „Geschichte bestehe [demgegenüber] nur durch Außerordentliches“ (S. 210). Indem die Ereignisse den unerträglichen Alltag, in dem „nothing ever happens to me“ (S. 210), un­terbrechen, entstehen Zusammenhänge, die erzählbar sind und denen durch Erzählen Sinn­haftigkeit verliehen wird. „Wann immer ein Ereignis vorkommt, das groß genug ist, seine eigene Vergangenheit zu erhellen, entsteht Geschichte“ (S. 211), und diese Geschich­te be­sagt sowohl „persönliche Lebensgeschichte“ als auch „Historie“. Obwohl Bertheau an­merkt, dass hinter Arendts Vorliebe für das „Ereignis“ leicht die Figur Martin Heideggers lauern könnte (S. 211), warnt sie davor, Arendts Ereignisverständnis mit ei­nem heidegge­rianisch uneinholbaren Schicksal in eins zu setzen, das den Einzelnen bloß ereilt und rest­los ergreift. „Es geht also nicht“, so Bertheaus Schlussfolgerung, „um eine bereits zuvor geschriebene Seinsgeschichte, die sich über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden hätte.“ (S. 212) Woran es Arendt liegt, ist die Verarbeitung der Ereignisse und ihre Über­führung in Geschichten, die Sinn machen.

Philologische Analysen stricto sensu setzen im Dritten Teil ein. Hannah Arendt war bekanntlich keine Berufslyrikerin, so wie sie auch als keine Berufsphilosophin ange­sehen werden wollte (S. 271). In diesem Sinne gehören die in diesem Teil besprochenen Gedich­te nicht zum Kanon von Arendts intellektueller Hinterlassenschaft, sondern sie werden hauptsächlich als Begleitstücke zu den theoretischen und historiografischen Hauptwer­ken betrachtet. Es wird jedoch das Bestreben geäußert, dass diese Gedichte, die inzwi­schen bei Piper veröffentlicht sind, nicht mehr „unter biographischem Blickwinkel inter­pretiert werden“, sondern „als Teil ihres Werks“ (S. 271). Gerade dies ist die Intenti­on des Dritten Teils. In dieser Hinsicht ist auch die Warnung gelegen, diese Gedichte von „einer urteilsfreudigen Nachwelt“ nicht als „Gegenstand empört-voyeuristischer oder sub­tiler Spekulationen über eine angeblich Heidegger-affine denkweise Hannah Arendts“ zu lesen (S. 271). An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es – ungeachtet des viel­leicht ge­wagten Buchtitels – Anne Beartheaus Monografie durchaus gelungen ist, jegli­cher Spur von Sentimentalität, die ähnliche Projekte häufig heimsucht, zu entgehen.

Bertheau greift nach im Manuskript des Denktagebuchs enthaltenen Gedichten: da sie Arendt in ihrem Denktagebuch-Register nicht verzeichnete, verzichteten Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, die Herausgeber des Denktagebuchs, auf ihre Veröffentli­chung. Dieses lyrische Opus teilt Bertheau in drei thematische Zyklen ein: Emigrationsly­rik, Lie­beslyrik (Liebe für den Menschen und die Welt), Gedankenlyrik (S. 270).

Die Emigrationsgedichte werden auf konkrete Lebenserfahrungen zurückbezo­gen. So entdeckt Bertheau im beeindruckenden Gedicht „Ich weiss, dass die Strassen zer­stört sind“, welches in Arendts erster Nachkriegserwartung einen Wendepunkt signalisie­ren könnte, „eine kathartische, befreiende Wirkung“ (S. 283): „Die moralische Verkommenh­eit der Deutschen konnte nur durch Zerstörung zu einem Ausgleich führen[.]“ (S. 283) Dies ist aber weder defätistisch noch nihilistisch zu verstehen. Pace Brecht (S. 284) und contra Adorno (S. 285) besteht Arendt auf zukunftsgewandtem, nahezu optimisti­schem Gedankengut; ihre Grundaussage ist wesentlich anders als Brechts Feststellung „nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes“ (S. 284), anders auch als Adornos Spruch, die ein­zig mögliche Reaktion auf die Zerstörung sei das „Schweigen“ (S. 285). Pa­radoxerweise rührt diese Zukunftsgewandtheit von der Gewissheit, dass es keine Gewiss­heit mehr ge­ben kann, nachdem die Welt ‚aus den Fugen‘ geraten ist.

Im Gegensatz zu den Emigrationsgedichten speist die Gedankenlyrik ihre Kraft aus dem philosophischen Staunen, aus der Bemühung, „den Sinn des Erlebten begreifen zu wollen“ (S. 321). Der Sinn der Lyrik wird in diesem Zusammenhang als die Verdich­tung des Gedachten, „das Setzen eines Sinns“ (S. 344) gedeutet, was zugleich auf Arendts eige­nes Verständnis der lyrischen Produktion überhaupt zutrifft: denn ihre Lyrik geht weit über die „verarbeitende Erlebnislyrik“ hinaus, dabei „immer auch einen philoso­phisch fundierten Hintergrund“ besitzend (S. 378).

Abschließend ist zu wiederholen, dass über die wertvollen Analysen von Arendts Lyrik hinaus Anne Bertheaus Monografie schlüssige Überlegungen zum Verhältnis von ‚Dich­tung und Wahrheit‘, sprich zu Arendts großer Gewichtung des ethischen Gehalts der Dichtung enthält. Dies ist umso interessanter, als viele von Arendts Zeitgenossen die Dichtung bzw. Literatur vom ähnlichen Standpunkt ihrer ethischen Gehaltigkeit und der politischen Reichweite betrachteten. Man kann nur wünschen, dass weitere Publikationen zu diesem Themenfeld Arendts Vorliebe für das ‚Ereignishafte‘ der Erzählkunst und das ‚Verdichtende‘ der Dichtung, mitsamt ihrer „radikale[n] Absage an den ‚Bovarismus‘“ (S. 231) im Kontext der ethischen, politischen Erwartungen, die in den ersten Nachkriegs­jahrzehnten, aber auch in der Zwischenkriegszeit formuliert wurden, positionieren.

Dr. phil. Ivana Perica

Lektorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien

1 Auf Arendts berühmte Aussagen zu Deutschland, Heimat und Dichtung wird im Zweiten Teil hingewiesen: „Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da im­mer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind –; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. […] Die deutsche Sprache jedenfalls ist das Wesentliche, das geblieben ist und was ich auch immer bewusst gehalten habe.“ (S. 134) Zit. n. „Fernsehgespräch mit Günter Gaus“ (28.10.1964). Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. Ursula Ludz. München, 1996, S. 44-70, hier S. 58.

Des Weiteren: „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das muss und kann ich einstehen.“ (S. 135) Zit. n. Hannah Arendt: „Arendt an Jaspers“ (Brief 22, 1.1.1933). Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969. Hgg. Lotte Köhler und Hans Saner. München, 2001, S. 52.

2 Zum Ersten Teil sei angemerkt, dass er hauptsächlich auf deutschsprachige Dichtung beschränkt bleibt. Liegt der Grund dafür in Arendts eigener Aussage, dass (nebst Fremdsein) die deutsche Sprache die einzige Heimat ist? Obwohl die Autorin auf Barbara Hahns und Marie-Luise Knotts Ausstellungskatalog verweist, in dem Arendts Verhältnis zu ausländischen AutorInnen erfasst wird (Hannah Arendt – Von den Dichtern er­warten wir Wahrheit. Berlin, 2007), sollte diese Eingrenzung auf deutschsprachige Autorinnen und Autoren dennoch näher begründet werden.

3 Sigrid Weigel: „Hannah Arendts Denktagebuch.“ Text und Kritik: Hannah Arendt. Hg. Heinz Ludwig Ar­nold. Bd. 166/167. München, 2005, S. 125-137, hier S. 129.

4 Cf. Liliane Weissberg: „Der Staat und die Dichter. Hannah Arendts Reflexionen über eine verborgene Tradi­tion.“ Das Kulturerbe deutschssprachiger Juden: Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emi­grationsländern. Hg. Elke-Vera Kotowski. Berlin, 2005, S. 113-114.

5 Barbara Schall-Brecht: LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. Box 15/Folder: Sa-Scha miscellaneous 1958-1975, nd. Schall-Brecht, Barabara: Schall-Brecht an Arendt, Berlin 8.6.1969, Blatt 005008.

6 Heinrich Blücher: „Blücher an Arendt“ (NY, 8.3.1950). Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968. Hg. Lotte Köhler. München, 1999, S. 227.

7 Weissberg, „Der Staat und die Dichter“, S. 113-114.

8 In einem anderen Zusammenhang macht Bertheau Arendts „pragmatisches Geschichtsverständnis“ stark: vgl. Kapitel „Narration als Erzeugnis der Unvergänglichkeit“, S. 208-237, insbes. S. 217.

9 LOC: General Correspondence 1938-1976, nd. Box 10/Folder: Da-Di miscellaneous 1959-1973, Demohn, Ve­ronika: Arendt an Demohn, 10.9.1967, Blatt 005739.

10 Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. München, 1998, S. 114.

11 Hannah Arendt: „Wahrheit und Politik.“ Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München, 2000, S. 327-379, hier S. 367.