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Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

 

„Arendts Denken setzt dort an, wo ande­re ihr Werkzeug niederlegen“

Jana V. Schmidt: Arendt und die Folgen, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2018, 134 S.

Die Schriften fast aller maßgeblicher politischer Denker sind in Zeiten von Krisen und Umbrüchen entstanden, denken wir nur an Machiavelli, Hobbes, die Founding Fathers, Tocqueville und eben auch Arendt. Wie Arendt einmal in einem ihrer Seminare erläuter­te, handelt es sich bei diesen Denkern nicht um politische Theoretiker, nicht um Kom­mentatoren, sondern um Autoren, die im wörtlichen Sinn die Welt vermehrten und deren Interesse nicht der politischen Theorie und den Büchern galt, sondern der Welt. Die Kri­se, der sich Arendt stellte, bestand in dem von ihr konstatierten Bruch der Tradition im 20. Jahrhundert. Sich diesem Bruch zu stellen, stellte für Arendt eine Verpflichtung für alle Zeitgenossen dar, zugleich war er aber auch die Chance, die Welt mit einem von der Tradition unbelasteten Blick zu betrachten, neu über die menschliche Existenz, die politi­schen Phänomene und die Art und Weise zu denken und zu urteilen zu reflektieren.

Diesen Ausgangspunkt stellt die Verfasserin in das Zentrum dieses schmalen, zugleich dichten, sehr informierten und überaus gut lesbaren Bandes. Er teilt sich in zwei Hälften, „Die Freiheit des denkenden Zwiegesprächs“ zu Denkfiguren im Werk selber, und die Re­zeptionsweisen „In der Gemeinschaft der Dinge“, bei denen es nicht allein um eine mög­lichst werkgetreue Wiedergabe ihrer Ideen geht, sondern um die „Kraft, unsere Realität zu erhellen“ (12). Schmidt stellt sich der schwierigsten Herausforderung des Arendtschen Werks, dem von Arendt nicht beschriebenen Zusammenhang von Gegenstand und eige­ner Reflexionsweise. Es geht um mehr als die Feststellung gegenüber Voegelin, dass sie die totale Herrschaft nicht sine ira et studio analysieren konnte; es geht um ihren eigenen Standort in der Welt, der nicht der Standort der Einsamkeit der Philosophin oder der Ob­jektivität des Wissenschaftlers sein kann, sondern nur der der urteilenden Zuschauerin in der Pluralität und Kommunikation mit anderen. „Arendts Denken setzt dort an, wo ande­re ihr Werkzeug niederlegen“ (9), und dass sie dort anders spricht als die herkömmliche Philosophie oder die übliche Sozialwissenschaft, macht die Faszination ihres Werkes mit­samt des Bedarfs aus, immer wieder mit Arendt in einen Dialog des Verstehens unserer Welt und zugleich ihrer Perspektive einzutreten.

Laut Schmidt stellt Arendt eine Verbindung zwischen Handeln und Reflexion mit Hilfe von Denkfiguren her, die den Moment des Umschlagens bebildern: so die Figuren des Sprungs, des Staunens und des Dazwischen, auf die Arendt in kreisenden Bewegungen immer wieder zurückkommt. Das Schreiben und die Sprache sind die Instrumente ihrer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, daher ihre Beschäftigung mit den Briefen Rahel Varnhagens, mit dem Perlentaucher Benjamin, ihre Nähe zur Literatur, auch zum Unbe­stimmten und Unbestimmbaren, ihr dichterisches Denken, ihr Verzicht darauf, den Neu­anfang, die Spontaneität zu untersuchen und anders als ein Wunder bezeichnen, schließ­lich ihr Verzicht auf ein dichotomisches zugunsten eines relationalen, beobachtenden Denkens (44). Zu diesen Charakteristiken gehört auch Arendts praktisches Handeln, ihre Tätigkeiten für zionistische Organisationen, sowie ihre Unabhängigkeit gegenüber Autori­täten und ihre Emotionen des Staunens und Lachens. Erhellend auch Arendts verborge­ner Dialog mit James Baldwin, mit dem das Buch beginnt, und der um die gemeinsame Erfahrung des Verlassenwerdens als Angehörige von Minderheiten kreist, „when the chips are down“.

Der zweite Teil des Buches handelt davon, „welche Art des Schreibens und der Bezüg­lichkeit ihre Denkfiguren anstiften, wie sich mit Arendt denken lässt und auf welche Wei­se man sich zu ihrem Gedankengebäude ins Verhältnis setzen kann“. (71) Auffällig die verbreitete Ablehnung Arendts durch akademische Kreise und die nicht zufällige Bedeu­tung eines engen Freundeskreises, zu der auch Schriftsteller gehörten, und die Nähe zu li­terarischem Schreiben.

Im französischen Poststrukturalismus gibt es vielfältige Beschäftigungen mit Arendt, bei der aber die Referenz zu der Autorin verborgen bleibt, so bei Nancy und Blanchot in den 1980er Jahren, oder abgestritten wird wie bei Rancière, Balibar, Mouffe und anderen. Ausführlich wird das in dem Buch von Ivana Perica „Die privat-öffentliche Achse des Politischen“ am Beispiel von Rancière beschrieben, das in dieser Ausgaben von HannahA­rendt.net besprochen wird. Die Vielfalt der Arendtschen Themen und deren Reichweite wird deutlich in dem Interesse an Arendt unter kubanischen Dissidenten, in den USA an­gesichts des Populismus von Trump und in Deutschland hinsichtlich ihrer Analyse von Lüge und Politik.

Diese bemerkenswerte Schrift macht darauf aufmerksam, wie wichtig die Wahrneh­mung des eigenwillige Denken Arendts für das Verständnis ihres Werks ist, wie sehr es zur Analyse von Geschichte und Politik, Handeln und Urteilen beiträgt und dazu auffor­dert, die hier nicht behandelten Schriften wie „Vita activa“ und „Über die Revolution“ und die zahlreichen Essays vor diesem methodologischen Hintergrund zu lesen.

Wolfgang Heuer