header image

Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

 

In die Karten geguckt

Zu Hans-Jörg Sigwarts Studie über das „wandernde Denken“  Hannah Arendts

Hans-Jörg Sigwart, The Wandering Thought of Hannah Arendt, palgrave macmillan [Series Global Political Thinkers], 2016; 147 Seiten; auch als eBook.

In den vielen Jahrzehnten der Arendt-Forschung hat es mannigfache Anstrengungen gegeben, Hannah Arendt methodologisch in die Karten zu gucken. Den neuesten Versuch unternimmt Hans-Jörg Sigwart, unter Bezugnahme auf eine entsprechende Arendtsche Selbstaussage (1964 im Gaus-Interview). Um Arendts ungewöhnliches, eigenwilliges, im­mer wieder mit Staunen begleitetes Denken zu erfassen, erfindet er die ungewöhnliche, in methodologischen Diskussionen bislang unbekannte Metapher vom „wandernden Den­ken“. Mit The Wandering Thought of Hannah Arendt sind die Debatten zur Eigenart von Hannah Arendts (politischem) Denken um eine originelle und anregende Stimme reicher geworden.

   Sigwart ist Politikwissenschaftler, im Mittelpunkt seiner Studie steht Arendts politi­sches Denken – ihre politische Theorie, von der vorausgesetzt wird, dass es sie gibt. Wie Sigwart mitteilt, ist sein Buch u.a. in akademischen Veranstaltungen an verschiedenen nationalen und internationalen Einrichtungen im Austausch mit Studenten und Kollegen entstanden. Ausgehend von Arendts Auseinandersetzung mit der Tradition des abendlän­dischen politischen Denkens (Kapitel 2: „Defending Politics Against Philosophy“; Kapitel 1 ist die „Introduction“) werden die drei Begriffe behandelt, die das Gerüst von Arendts The Human Condition / Vita activa bilden: Arbeiten und Herstellen (Kapitel 3: „The Realms of Necessity and of Utility“) sowie Handeln als politisches Handeln (Kapitel 4: „The Practice of Politics“). Dabei wird zum einen die Arendtsche Gedankenwelt unter Rückgriff auf ihr gesamtes Werk dargestellt; zum anderen erfolgt eine Auseinanderset­zung mit prominenten Themen der gezielt berücksichtigten Sekundärliteratur, so etwa mit der Frage, ob Arendts Politikverständnis idealistisch, vielleicht sogar utopisch ist, also ohne realistische Vorstellungen von den aktuellen Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Politik, oder der Frage, wie eng und in welcher Weise vita activa und vita contemplati­va miteinander verbunden sind.

   Was die erstgenannte Fragestellung angeht, so betont Sigwart, wie auch schon andere Politikwissenschaftler vor ihm, dass bei Arendt sehr wohl eine realistische Sicht auf politi­sche Räume, auf Institutionen und die Funktion von Gesetzen und Verfassungen zu fin­den ist. Ähnlich wichtig für die eigene Argumentation ist dem Verfasser die Fragestellung zu vita activa und vita contemplativa, sie durchzieht die gesamte Studie. Es wird klar, dass Sigwart eine strenge Unterscheidungslinie zwischen den beiden Lebensweisen ablehnt, dass für ihn beide, die „activity of work“ wie die „activity of politics“, „mental implicati­ons“ aufweisen (11, auch 83f. n. 50). Dabei stützt er sich beispielsweise auf Arendts Aussage, „understanding“, für ihn eine „activity of reflecting on politics“, sei „the other side of action“. Das „peculiar ‚thinking of citizens‘“, das als „worldly mental activity“ vorgestellt wird, wird im fünften Kapitel analytisch aufgefächert und in Einzelbestandtei­len abgehandelt: ein Denken „of meaningfully integrating particulars“, „of self-location“, „of assuming a We-perspective“, „of actualizing a bounded form of enlarged mentality“. Sigwarts Bürger handeln nicht nur, sie denken auch – und Hannah Arendt sieht er in die Welt und speziell das politische Geschehen als kritische Denkerin eingebunden.

   Die Darstellung von Arendts Gedankenwelt und die kritische Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur aber sind nicht das Hauptanliegen des Verfassers, sie dienen der Materialaufbereitung für die eigentliche Aufgabe, die er sich gestellt hat: die Interpretati­on des Arendtschen Werkes im Sinne eines „wandernden“ Typus politischen Theoretisie­rens (Kapitel 5: „The Epistemology of Politics“ und Kapitel 6: „The Experiential Position of Political Theory“). Das letzte, siebente Kapitel schließlich hebt das Arendtsche „theore­tical wandering“ in den Rang einer Berufung („vocation“).

   Man wird dieses Buch vor allem dann spannend finden, wenn man sich auf Sigwarts grundsätzliche Behauptung einlässt. Für ihn bleibt unhinterfragt, dass es bei Arendt „a self-reflective sub-text on the question of ‚how to think‘ adequately in political theory“ gibt. Unter dieser Voraussetzung und der zusätzlichen Annahme einer Arendt theoretisch (wenn auch nur im Subtext) beschäftigenden und von ihr ausgeübten „mental activity of political theorizing“ werden im sechsten Kapitel Elemente herausgearbeitet, die die These vom „wandernden Denken“ plausibel stützen. „In ihrer Art und Weise des Theoretisie­rens,“ heißt es nach ausführlichen lesenwerten Einzelanalysen, „wandert [Arendt] zwi­schen verschiedenen Räumen [spaces] der menschlichen Angelegenheiten, indem sie be­wusst deren Bedeutungsgrenzen [boundaries of meaning] überschreitet und deren umfas­sende Narrative [comprehensive narratives] in gleichzeitig gegenwärtige Fragmente vieler Räume, Vergangenheiten und Traditionen aufbricht.“ (100) Methodologisch wird diese Art des Vorgehens dem Vergleichen zugeordnet und Arendt eine denkerische Ausrichtung im Sinne von „unzähligen vergleichenden empirischen Reflexionen“ (101) bescheinigt. Arendts „Je me sers où je peux“, zu dem sie sich im Interview mit Roger Errera (1973) be­kennt, wäre hier heranzuziehen, wenn Sigwart Arendts methodische Selbstaussagen als Ausgangsmaterial umfassend berücksichtigt hätte. Die „theoretical self-perception“ von Hannah Arendt aber, wie sie der Autor zugrundelegt und im Subtext von Arendts Werken zu erkennen glaubt, ist in weiten Teilen ein den eigenen theoretischen Reflexionen ge­schuldetes Konstrukt. Sigwart geht nicht empirisch (induktiv) vor, indem er etwa alle Äu­ßerungen und einschlägigen Gedankengänge Arendts zu ihrer “Methode“ auflistet, inter­pretiert und in ein Selbstbild einzeichnet. So beispielweise bleibt Arendts „Reply“ auf Eric Voegelins Kritik an The Origins of Totalitariansm weitgehend unberücksichtigt, ihre Vor­stellungen zum „Durchdenken“ („thinking a matter through“) scheinen dem Autor keiner Behandlung wert. Sigwarts Vorgehen vielmehr ist eher dem deduktiven Denken zuzurech­nen. Seine Theorielastigkeit, auch im Sprachlichen, ist nicht zu übersehen.

   „The Limits of Political Horizons and the Vocation of Theoretical Wandering“ ist der Titel des siebenten und letzten Kapitels. Da vernehmen Leser und Leserin, so darf wohl angenommen werden, einen Subtext des Autors, Max Webers Wissenschaft/Politik „als Beruf“. Es geht Sigwart explizit um „certain ethical ambivalences“, wie sie in Arendts Übungen im politischen Denken zu finden sind, anders ausgedrückt: um die normative Orientierung ihres politischen Denkens und deren Implikationen (119). Die „Berufung“ dieses politischen Denkens läge darin, die Bedingungen und Grenzen des politischen Wirklichkeitsverständnisses, genauer: eines „multi-contextual understanding of political experience“(121), beispielhaft zu fördern. So kommt Sigwart, seine Ausführungen über Arendts Auseinandersetzung mit Plato am Beginn des Buches wieder aufnehmend, schließlich zu der Feststellung: „Bei Arendt wird der Erfahrungsbereich der Politik nicht als Höhle gedacht […], sondern es handelt sich um den einzigen Bereich der menschli­chen Angelegenheiten, in dem einzelne Menschen sich ihr ‚Zuhause‘ in der Welt einrich­ten und Freiheit verwirklichen können, selbst wenn sie sich als entschiedene Kritiker der zu vernachlässigenden und der nicht zu akzeptierenden, der kaum und auch der nicht vermeidbaren Unzulänglichkeiten des ‚human artifice‘ betätigen.“ (131) Ob allerdings der Kritiker, die Kritikerin, die Theoretikerin Hannah Arendt in der Welt genauso zu Hause sein kann wie die politisch Handelnden – das scheint Sigwart zu bezweifeln. Er weist ihr (wie einst Plato den Philosophen?) eine Sonderstellung zu, wenn er von einer „für Arendt spezifischen graduellen Abweichung“ von der „civic activity of making oneself at home in the world“ schreibt. Ihre „wandernde Denktätigkeit“ („wandering reflection“) gehöre zwar „zur Welt“, aber die Theoretikerin sei in vielen von deren konkreten räumlichen Wirklich­keiten „zu Hause“. (100) Politische Theorie im Arendtschen Sinne sei „a worldly, but at the same time an unsettled, a wandering mental activity“ (6).

   Sigwarts Metapher vom „wandering thought“ eignet sich gut, um Arendts methodi­sches Vorgehen zu interpretieren, ja liegt sogar nahe, wenn man sich auf die Oberflächen des Textmaterials konzentriert. Sigwart also hat Hannah Arendt, wenn man so will, mit Erfolg in die Karten geguckt. Doch etwas hat er übersehen, oder sie hat, ihrerseits erfolg­reich, geschummelt. In Arendts „Spiel“ gibt es ein immer wieder durchscheinendes, auch durchaus artikuliertes spezifisches Muster. Dies lässt sich am besten als Blick in die Tiefe beschreiben – in Tiefen, wo die Wurzeln („radices“), die Urphänomene, die Kristalle sich befinden; anders gesagt: als der Blick des Perlentauchers, den Arendt, mit Walter Benja­min und Martin Heidegger, in die methodischen Debatten geworfen hat. Er wird zwar von Sigwart nicht übersehen, doch ist er in seinem politikwissenschaftliches Konzept, das – wie eindrucksvoll auch immer – Arendts breiten-theoretisches „Oszillieren zwischen den unterschiedlichen Erfahrungskonstellationen“ (102) herausstellt, nicht berücksichtigt. „The diving thought of Hannah Arendt“ sei daher als Desideratum angemerkt – ein Desi­deratum, das der Verfasser am Schluss des Buches andeutungsweise zu benennen scheint. Indem Hans-Jörg Sigwart Hannah Arendt in einem langen Zitat aus ihrem Benja­min-Essay vom „wandering“ durch Paris erzählen lässt, indem er also das letzte Wort an „the old-fashioned story-teller“ (Hannah Arendt über Hannah Arendt) erteilt, weist er darauf hin, dass, methodologisch gesehen, mit der stilisierten politischen Theoretikerin des „wandering“ nicht die ganze Hannah Arendt erfasst wird.

Ursula Ludz