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Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

 

Der Ort politischen Urteilsvermögens –
Arendt, Jaspers und der ‚Raum der
humanitas1
Astrid Hähnlein*

 

Hannah Arendts Diktum der Pluralität ist nicht nur Conditio und Maßstab weltlich-politi­schen Tätigseins, sondern auch politischen Denkens und Urteilens. Und ebenso, wie sich Arendt beim Anlegen dieses Maßstabs an das politische Tätigsein nicht primär die Frage stellt, wie ein solches pluralistisches Handeln und Sprechen möglich ist, sondern wo, so gilt es, diese Frage auch für das politische Denken zu stellen: Wo ist politisches Denken und Urteilen möglich, das dem Arendtschen Anspruch auf Pluralität Rechnung trägt? Die folgenden Ausführungen fragen mit Arendt nach demjenigen ‚Ort‘2, an welchem ein sol­ches geistiges Tätigsein geschehen kann. Als Antwort wird der „Raum der humanitas“ (Arendt 2013a, 99) diskutiert, das von Arendt wie folgt beschriebene „Geisterreich“ (ebd., 99):

Es „liegt nicht im Jenseits und ist keine Utopie, es ist nicht von gestern und nicht von morgen, es ist von dieser Welt. Vernunft hat es geschaffen und Freiheit regiert in ihm. Es ist nicht zu fixieren und nicht zu organisieren, es reicht in alle Länder der Erde und in all ihre Vergangenheiten, und obwohl es weltlich ist, ist es unsichtbar. Es ist das Reich der ‚humanitas‘, zu dem ein jeder kommen kann aus dem ihm eigenen Ursprung.“ (ebd., 99 f.)

Es gilt, eine Vorstellung davon zu gewinnen, was diesen Raum ausmacht, auf welche Weise er den Anspruch der Pluralität realisiert und welche Bedeutung ihm für Arendts ei­genes Denken zukommt. Die abschließende These lautet, dass Arendts Denken und Urtei­len in diesem Raum der humanitas zu verorten ist.

Hierfür sei (I) zunächst ein Blick in Arendts Darstellungen derjenigen ‚Menschlichkeit‘ geworfen, die diesen Raum erfülle. (II) Daraufhin ist zu zeigen, dass und inwiefern es die Tätigkeit des Urteilens ist, welche diese humanitas realisiert, um (III) anschließend (a) eine Beschreibung dieses Raumes zu geben und ihn (b) hinsichtlich seiner Räumlichkeit und seiner Relation zur Welt zu befragen. Auch ist an dieser Stelle (c) kritisch nach der Offenheit bzw. Zugänglichkeit dieses Raumes zu fragen. (IV) Abschließend kommt Karl Jaspers zu Wort, der in seinem Fragment gebliebenen Buchprojekt Vom unabhängigen Denken. Hannah Arendt und ihre Kritiker Arendts Art zu denken analysiert. Wie Arendt fokussiert auch Jaspers auf den räumlichen Charakter des Denkens, indem er auf einen spezifischen ‚Ort unabhängigen Denkens‘ rekurriert.3

I

Von der spezifischen Menschlichkeit, von welcher der „geistige […] Raum“ (Arendt 2013a, 92) der humanitas durchdrungen ist, zeichnet Arendts Laudatio auf Karl Jaspers das Bild einer menschlichen Geisteshaltung, die einmal erworben das Denken und Handeln einer Person in Gänze zu durchdringen vermag.4 In der Rede Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten werden zwei Arten der Menschlichkeit – Brüder­lichkeit und Freundschaft – anhand von unterschiedlichen ideengeschichtlichen Referen­zen vorgestellt und hinsichtlich ihrer weltlich-politischen Konsequenzen befragt.5

Als „Vorrecht der Pariavölker“ (ebd., 23) zeichnet sich demnach eine gemeinschaftstif­tende Menschlichkeit aus, welcher der Gedanke einer einenden, allen Menschen gemein­samen Natur zugrunde liegt und die in Anlehnung an das Denken des 18. Jahrhunderts als Brüderlichkeit betitelt wird. In ihrer Schmähung, Verfolgung und Verstoßenheit flie­hen die Parias aus der Welt zueinander und finden im Verborgenen eine Wärme, Vitalität und „Freude des schieren Lebendigseins“ (ebd., 24), die einen Ersatz für weltliche Teilha­be und Zugehörigkeit darzustellen vermag. Mit Nachdruck verweist Arendt auf ihren eige­nen Erfahrungshintergrund als Jüdin in Zeiten des Nationalsozialismus und unterstreicht die elementare Bedeutung dieser Menschlichkeit für das (Über)Leben der Betroffenen (vgl. ebd., 23, 28 f., 34).

Doch „[d]ies Vorrecht ist teuer bezahlt; ihm entspricht oft ein so radikaler Weltverlust, eine so furchtbare Verkümmerung aller Organe, mit denen wir der Welt zugewandt sind […], daß man in extremen Fällen, in denen das Pariatum über Jahrhunderte angedauert hat, von wirklicher Weltlosigkeit sprechen kann.“ (ebd., 23)

Für sachliche Distanz, offene Kritik und Streit über die Geschehnisse in der Welt ist in dieser beengenden Nähe kein Platz (vgl. ebd., 44). Sie gründet auf dem kleinsten gemein­samen Nenner des Verfolgtseins und dem „Haß auf die Welt, in der Menschen ‚un­menschlich‘ behandelt werden“ (ebd., 23). Unterschiedliche Meinungen und Perspektiven – im Sinne der Realisierung zwischenmenschlicher Pluralität – gibt es in diesem gemein­samen Zufluchtsort nicht und so ist hier gerade dasjenige Gespräch unmöglich, welches die Menschlichkeit im zweiten Sinne charakterisiert, im Sinne von Lessings Begriff der Freundschaft (vgl. ebd., 37).

Die zweite Form der Menschlichkeit erscheint bei Arendt als eine spezifische Haltung gegenüber anderen Menschen und der Welt zwischen ihnen und wird im gemeinsamen Gespräch eingeübt.6 In der Auseinandersetzung mit Lessings Begriff der Freundschaft wie mit Karl Jaspersʼ Verständnis von Kommunikation stellt sie sich als eine Geisteshaltung der radikalen Offenheit heraus, als Bereitschaft, sich selbst, seine Überzeugungen, seine Geschichten und Traditionen, die scheinbar festen, haltgebenden Konstanten des eigenen Denkens, in die Waagschale zu werfen und der Kritik auszusetzen.7 Einer derartigen Menschlichkeit ist nicht an dem Ergebnis des Gesprächs, nicht am Rechthaben oder ‚der Wahrheit‘ gelegen.8 Die Radikalität ihrer Offenheit besteht gerade darin, dass sie bereit ist, „die Wahrheit der Freundschaft zu opfern“ (Arendt 2013a, 39).9 Es geht um das Ge­spräch selbst, um die Verbindung zwischen den Sprechenden bzw. Streitenden, die es stif­tet, und um die Gegenstände des Gesprächs, die als besprochene Teil der gemeinsamen Welt werden, von nun an verbinden und zugleich Distanz halten. Es ist diese innere Hal­tung, die Arendt dem Leser als spezifische Form der Menschlichkeit anempfiehlt. Auf­grund des ihr eingeschriebenen Weltbezuges unterscheidet sie sich von der Brüderlichkeit in finsteren Zeiten und ist so in besonderer Weise von politischer Relevanz:

„Im Gespräch manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit, weil dies Gespräch [...] der gemeinsamen Welt gilt, die in einem ganz präzisen Sinne unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird.“ (ebd., 37)

Offensichtlich stilisiert Arendt in ihren Begriffen der Brüderlichkeit und Freundschaft zwei idealisierte Antipoden, die sich realiter nur schwerlich wiederfinden lassen. Dies be­trifft sowohl die Bedingungslosigkeit der Aufgabe eigener Positionen im Kollektiv der Ge­ächteten und Verstoßenen, als auch die Radikalität der Kritikfähigkeit und Toleranz unter Freunden, die hier als normative Gesprächsgrundlage auftritt. Die Stärke der Unterschei­dung besteht also nicht in einer ‚realistischen‘ Abbildung zweier gänzlich gegensätzlicher Lebensformen oder Wertesysteme; sie besteht in der Fokussierung und Aufwertung von denjenigen ‚freundschaftlichen‘ Einstellungen und Ansprüchen, die zugunsten einer eini­genden Kollektivität und Menschlichkeit qua Brüderlichkeit immer Gefahr laufen, marginalisiert oder abgeschafft zu werden. Als Brüder wie als Freunde finden Menschen eine gemeinsame Basis, einigen sich (zumeist unausgesprochen) auf eine je eigene Geis­teshaltung, mit ihr einhergehende Gesprächsbedingungen. Doch während diese menschli­che Nähe und Verbundenheit im Sinne der Brüderlichkeit auf einer dem Einzelnen letzt­lich äußerlich bleibenden Gleichheit in einer Leidensgemeinschaft basiert und im ent­sprechenden Kontext auf Absehung von persönlichen Meinungen zugunsten dieser Ge­meinschaftlichkeit bestehen muss, realisiert die Geisteshaltung der freundschaftlichen Menschlichkeit die diffizile Tektonik von Gleichheit und Verschiedenheit, die Einzigartig­keit und Sichtbarkeit der Menschen, welche Arendt in Vita activa aufzeigt (vgl. Arendt 2006, 213216). Auf diese Unterschiede in der grundlegenden Konstitution menschlicher Gemeinschaft legt Arendt in ihrer Beschreibung zweier Formen der Menschlichkeit das Augenmerk. Sie schlagen sich nicht erst in der Institutionalisierung von Gemeinschaften nieder, sondern bereits in der Geisteshaltung, der Form der Menschlichkeit, mit der wir einander im Gespräch und im Umgang in der Welt begegnen.10

II

Von der Menschlichkeit im Sinne der griechischen philanthropia, römischen humanitas und des Lessingschen Freundschaftsbegriffs ist in der Laudatio auf Karl Jaspers die Rede. Am Beispiel ihres Freundes weist Arendt dieser Grundhaltung einen Raum zu und es stellt sich die Frage, wie die spezifisch kommunikative Haltung der humanitas in ihm realisiert wird. Zu ihrer Beantwortung ist der Blick darauf zu richten, was in diesem Raum eigentlich geschieht, welches Tätigsein in ihm möglich ist. Arendt schreibt, dass es ein „ständig hörendes und sprechendes Denken“ (ebd., 98) ist, das ihn erfüllt, worin sie „jene Kantische erweiterte Denkungsart“ in actu erblickt, „welche die politische par excel­lence ist“ (ebd., 99). Worauf sie hiermit verweist, ist die Zugehörigkeit des Urteilsvermö­gens zum Raum der humanitas. Hier findet also diejenige Tätigkeit statt, welche Arendt in ihrem unvollendeten Spätwerk Vom Leben des Geistes als geistiges politisches Tätigs­ein vor Augen stand und welche die Pluralität der Menschen analog zur weltlich-politi­schen Tätigkeit des Handelns voraussetzt und aktualisiert.11 Das Urteilen, das „Vermögen menschlichen Geistes, sich mit dem Besonderen zu befassen“ (Arendt 1985, 26), „die Fä­higkeit zu sagen: ‚das ist schlecht‘, ‚das ist schön‘, etc.“ (Arendt 2012b, 155) soll an dieser Stelle keineswegs umfassend dargestellt werden.12 Vielmehr gilt es, drei wesentliche Mo­mente zu skizzieren, welche ihre Interferenzen mit dem Raum der humanitas aufschlüs­seln und ihn so selbst klarer zu fassen verhelfen.
(i) Arendt beschreibt die Tätigkeit des Urteilens, obwohl sie geistig ist und somit zu­nächst von jedem Menschen allein mit sich vollzogen wird, als intersubjektiv. Wie jede geistige Tätigkeit zeichnet sich auch das Urteilen zunächst durch einen ihm eigenen Modus des Rückzugs von der Welt und anderen Menschen aus.13 Jedoch wendet sich der urteilende Mensch – anders als der denkende – nicht gänzlich von der Welt ab, sondern betrachtet das sich ihm Darbietende aus einer günstigen Distanz, um es in Gänze bzw. in den für ihn relevanten Hinsichten überblicken zu können; er wird zum Zuschauer. Neben Unparteilichkeit gegenüber dem Verlauf der Geschehnisse und „untätigem Wohlgefallen“ (Arendt 1985, 26) ist diese Position insbesondere dadurch charakterisiert, dass der Zuschauer nicht isoliert, allein auf sich gestellt ist (vgl. Arendt 1985, 75 f.; Arendt 2012a, 97–102; Pavlik 2015). Er befindet sich immer unter anderen Zuschauern, die sich ebenso wie er dadurch auszeichnen, dass sie sich auf eine angemessene Position zurückziehen, sich hier Meinungen über die Geschehnisse bilden können und über diese miteinander ins Gespräch kommen.14 Die geistige Tätigkeit des Urteilens bezieht eben diese Positionen, Argumente und Meinungen anderer Zuschauer bei der Urteilsfindung mit ein und kann so als Gespräch zwischen ihnen verstanden werden (vgl. Arendt 1985, 91).
(ii) Hierdurch relativiert der Urteilende in gewisser Weise seine persönlich-subjektive Sichtweise, er berücksichtigt auch Perspektiven anderer Positionen, ohne dabei jedoch seine eigene aufzugeben oder zu transzendieren – er setzt sie zu diesen in Relation. Eine solche urteilende Haltung gegenüber dem betrachteten Gegenstand und dem zuschauen­den Publikum bezeichnet Arendt mit Kant als „erweiterte Denkungsart“ (vgl. Kant 1974).15 Sie setzt die Fähigkeit voraus, „an Stelle jedes anderen zu denken“ (Arendt 2012b, 216; vgl. ebd., 298 f.) und die zwar unerreichbare, aber dennoch anzustrebende Möglichkeit, einen ‚allgemeinen Standpunkt‘ einzunehmen, den Standpunkt des „Kantischen Weltbe­obachters“ (Arendt 1985, 62). Arendt denkt hier weniger an Formen der Empathie oder Einfühlung, sondern appelliert letztlich an die menschliche Vorstellungskraft und Phan­tasie vermittels welcher sich andere Positionen vergegenwärtigen lassen. So abstrahiert der ‚Weltbeobachter‘ nicht, vielmehr erweist sich seine Position als Konglomerat verschie­dener Perspektiven, die es miteinander ins Gespräch und zueinander in Verbindung zu setzen gilt (vgl. ebd., 61 f., 97). „Mit einer ‚er­weiterten Denkungsart‘ denken heißt, daß man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu ma­chen“ (ebd., 60 f.).16
(iii) Als drittes Motiv ist an dieser Stelle der Maßstab zu nennen, der bei der Meinungs- und Urteilsbildung anzulegen ist: die Mitteilbarkeit (vgl. Arendt 1985, 97). D.h. je weiter der Personenkreis ist, der ein Urteil über eine Handlung oder ein Ereignis verstehen, nachvollziehen und anerkennen kann (nicht aber unbedingt teilen muss), desto mehr scheint es dem Anspruch der Mitteilbarkeit zu genügen und entsprechend mehr Gültig­keit kann es be­anspruchen.17 Beiner folgert daher: „Hier ist ‚mögliche Übereinstimmung mit anderen‘ impliziert, die schließlich zu einer Art von wirklicher Übereinstimmung wird“ (Beiner 1985, 134).18
Stellt man vor dem Hintergrund dieser drei Charakteristika des Urteilsvermögens – seiner Form der Intersubjektivität, der Praxis der erweiterten Denkungsart und dem für es gültigen Maßstab der Mitteilbarkeit – die Frage nach dem Verhältnis des geistigen Raumes der humanitas und der Tätigkeit des Urteilens, so ergibt sich folgendes Bild: (i) In dem an Jaspers exemplifizierten „Reich der humanitas“ (Arendt 2013a, 100) findet Arendt gerade denjenigen Zuschauerraum, in welchem Standpunkte, Perspektiven und Meinungen unterschiedlichster Jahrhunderte und Länder zusammenkommen und sich zu den politischen Ereignissen in der Welt äußern. (ii) Im Austausch und Streit dieser Posi­tionen wird eben jene Fähigkeit eingeübt, an „Stelle jedes anderen zu denken“ (Arendt 2012b, 216), wird die erweiterte Denkungsart erprobt und wird ein allgemeiner Stand­punkt gesucht; so ist das Urteilen hier „immer an das Mitdenken dessen gebunden, was der andere denkt“ (Arendt 2013a, 98). (iii) In diesem Lichte kann der Maßstab der Mit­teilbarkeit als Quintessenz des intendierten Begriffs der humanitas (im Sinne von Freundschaft) angesehen werden. D.h. die Mitteilbarkeit erscheint als formales Kriterium zur Bewertung von Meinungen und Urteilen, dem jene kommunikative Haltung einge­schrieben ist, welche die humanitas ausmacht: die Ablehnung absoluter Wahrheitsan­sprüche, die Realisierung eines tieferliegenden Sinnes hinter allen Ge­sprächsinhalten, der darin besteht, Verbindungen zwischen Menschen und somit Welt als Geflecht aus zwischenmenschlichen Beziehungen zu stiften (vgl. Arendt 2006, 224–229).19

III

Fassen wir an dieser Stelle die bisherigen Ergebnisse zusammen und verschaffen uns so eine Vorstellung von diesem Raum:

(a) Er ist bewohnt von Menschen aller Zeiten und Kontinente, von geistigen Gesprächs­partnern, die hier nicht in einem chronologischen Nacheinander, sondern neben- und miteinander zu Wort kommen. Bei Karl Jaspers sind dies „die großen Philosophen“ (Arendt 2013a, 99; vgl. Jaspers 1981). „[I]m Unterschied zu den Gesprächen der Intimi­tät, in welchen individuelle Seelen über sich selbst sprechen“ (Arendt 2013a, 37), wird hier über weltliche Dinge diskutiert, die zwischen den Menschen liegen und geschehen, sodass diesem geistigen Raum der Blick auf die Welt eingeschrieben ist. In einer derart pluralistischen und heterogenen Versammlung ist Dissens wohl an der Tagesordnung, ja er ist die konstitutive, treibende Kraft für den Meinungsaustausch und die Urteilsbildung, die hier statthat. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die über das sich Darbietende geäußert werden, gibt es jedoch einen allem Austausch zugrundeliegenden, ihn erst er­möglichenden Konsens, und das ist die freundschaftliche Haltung der Menschlichkeit. Dies grundlegende Charakteristikum des angepriesenen geistigen Raumes bedeutet, dass seine Bewohner eine kategorische Offenheit mitbringen, Rede und Antwort zu stehen, zu­zuhören und nicht ihre subjektiven, religiösen oder ideologischen Wertmaßstäbe bei der Urteilsbildung anzulegen, sondern allein dem Gültigkeit zuzusprechen, was in diesem Raum vor allen Bestand hat. Nur was im Gespräch kommuniziert, verstanden und aner­kannt werden kann, was dieser „Helle standhält, gehört hier zur humanitas“ (Arendt 2013a, 94).

Ex negativo wird hierdurch jedoch auch der exklusive Charakter dieses Raumes deut­lich, denn es zeigt sich, was dieser ‚Helle nicht standhält‘, welche Gesprächsinhalte, Ein­stellungen und Grundhaltungen bei der gemeinsamen Meinungs- und Urteilsbildung un­ter den freundschaftlichen Bedingungen der Menschlichkeit keinen Platz haben. Dies be­trifft jegliche Form von ideologischem Denken und unhinterfragbare Normen ebenso wie rein private Interessen. Erscheint dies im Kontext einer ihrem Selbstverständnis nach aufgeklärten und säkularisierten westlichen Welt als offen, liberal und legitim, so stellt sich der voraussetzungsreiche Charakter dieser ‚Gesprächsbedingungen‘ doch als aus­schließend bzw. problematisch heraus. Die Multiperspektivität und Pluralität der Mei­nungen, die dieser Raum bereithält und die in ihm frei und rückhaltlos diskutiert werden können, ist begrenzt durch die Modi des Urteils und die Ansprüche freundschaftlicher Menschlichkeit, die in diesem geistigen Raum gelten. Positionen, die nicht kritisch auf ihre letzte Normgrundlage hin befragt werden dürfen, haben hier keinen Platz und kön­nen sich in den Diskussionen der Urteilenden nicht behaupten. Die Begrenzung ist hier zugleich die Ermöglichungsbedingung, die gemeinsame normative Basis ist nicht nur Exklusion nach außen, sondern auch die Grundlage der freiheitlich-pluralistischen Gespräche nach innen.

(b) Offenkundig hat der Raum der humanitas keine materielle Realität, wie etwa Kü­che, Bad, Schlafzimmer, Agora und Pnyx. Es handelt sich auch nicht um eine hinter der ‚Erscheinungswelt‘ befindliche Sphäre, einen vermeintlichen Bereich ‚eigentlichen Seins‘. In dererlei ‚Zwei-Welten-Theorien‘ erkennt Arendt einen der „ältesten und hartnäckigsten metaphysischen Irrtümer“ (Arendt 2012a, 35), dem sie erkenntnistheoretisch wie norma­tiv das Primat der zwischenmenschlichen, hör- und sichtbaren Welt der Erscheinungen entgegenhält (vgl. Arendt 1985, 86–96; Arendt 2012a, 33–62). Was macht diesen Raum also zum Raum? Welche Art von Räumlichkeit ist ihm zuzusprechen?

In einigen in besonderer Weise erläuterungsbedürftigen Sätzen bezeichnet Arendt ihn als einen Raum „in des Wortes buchstäblicher Bedeutung“ (Arendt 2013a, 98):

„[E]r ist [Jaspersʼ] geistige Heimat, weil er ein Raum in des Wortes buchstäblicher Be­deutung ist, so wie die Denkwege, die seine Philosophie lehrt, Gedankengänge in des Wortes ursprünglicher Bedeutung sind, Gänge nämlich, die einen Raum erschließen. Jas­persʼ Denken ist räumlich, weil es immer auf die Welt und die Menschen in ihr bezogen bleibt; nicht weil es an einen vorhandenen Raum gebunden wäre, sondern umgekehrt, weil seine tiefste Intention ist, einen ‚Raum zu schaffen‘, in welchem die ‚humanitas‘ des Menschen rein und hell erscheinen kann.“ (ebd. 98)

Mit der ‚buchstäblichen Bedeutung‘ rekurriert Arendt auf einen spezifischen Sinn des Wortes ‚Raum‘, der in Grimms historischem Wörterbuch erläutert ist: Das Verb ‚räumen‘ bedeutet u.a. „urbar gemacht, im gegensatze zu rauh, bewachsen“, „frei machen[…] einer wildnis für einen siedelplatz“, sodass unter ‚Raum‘ eben dies Urbar- bzw. Freigemachte verstanden werden kann. Zudem – und auch dieser Aspekt der ursprünglichen Wortbe­deutung ist hier von Relevanz – wird der Begriff übertragen „auf jede stätte […], die gele­genheit zur entfaltung einer thätigkeit für einen Zweck bietet“ (Grimm/Grimm 1984, Sp. 276), er bezeichnet auch die „gelegenheit zu wirken“ selbst (Grimm/Grimm 1984, Sp. 277).

Sind Jaspersʼ Gedanken „Gänge, die einen Raum erschließen“ (Arendt 2013a, 98), ist es „seine tiefste Intention, einen Raum zu schaffen“ (ebd., 98), so bedeutet dies mit Blick auf die angegebene Wortbedeutung, dass es Jaspers gelingt, einen Bereich menschlicher In­nerlichkeit zu ‚roden‘, zu erschließen, die Möglichkeit zu eröffnen, sich hier geistig aufzu­halten, hier ‚zu siedeln‘. Und mehr noch: indem er die zunächst noch unbewohnte ‚Wild­nis‘ mit Gedankengängen durchzieht und sie so zum Raum macht, stellt er die Möglich­keit bereit, in diesem Raum urteilend tätig zu sein. Ein (geistiger) Raum zeichnet sich demnach dadurch aus, dass er durch (geistiges) Tätigsein erschlossen, belebt und aktiv gestaltet werden kann. Zudem hält er (analog zur weltlichen Sphäre der Öffentlichkeit) die Möglichkeit bereit, Menschen und Meinungen in Erscheinung treten zu lassen und bietet so die „gelegenheit zu wirken“ (Grimm/Grimm 1984, Sp. 277).

Arendt benennt noch ein weiteres Charakteristikum, das den geistigen Raum zum Raum macht, und das ist der ihm eigene Bezug zur Welt.20 Die Bewohner der geistigen „Welt en miniature“ (Arendt 2013a, 98) betrachten und beurteilen die weltlichen Ge­schehnisse und Taten von einer „noch verborgene[n] Öffentlichkeit“ (ebd., 96) aus. Dies deutet das Austauschverhältnis zwischen der Welt und dem Raum der humanitas, zwi­schen Akteur und Zuschauer (vgl. Rosenmüller 2005), bereits an, wobei die Interferenzen hier sicherlich vielschichtig sind (vgl. Arendt 2003, 255; Arendt 2013a 42 f., 93–98, 100–103).21 Im geistigen Raum der humanitas werden Perspektiven und Argumente zu den Geschehnissen in der Welt diskutiert, Meinungen und Urteile erwogen und gebildet. In ‚hellen Zeiten‘ kann der Mensch vor dem Hintergrund dieser Gespräche im Raum der hu­manitas mit Meinungen und Handlungen in der Welt auftreten, welche die Menschlich­keit auch hier zum Vorschein zu bringen vermögen. In ‚finsteren Zeiten‘ erscheint dieser Raum als Refugium und Ersatz für die Welt. Dann werden in ihm diejenigen Ansichten und Meinungen ausgesprochen, die in der Welt keinen Platz mehr finden (vgl. Berkowitz 2010, 241–244; Heuer 1992, 353; Vowinckel 2006, 102; Young-Bruehl 1982, 302).
Es ist bemerkenswert und keinesfalls selbstverständlich, dass Arendt nicht nur der Tä­tigkeit des Handelns einen Raum, die Öffentlichkeit, zuschreibt und bekanntermaßen dessen Unabdingbarkeit herausstellt. Sie tut dies eben auch für die geistige politische Tä­tigkeit, für das Urteilen. Dieses wird nicht bloß als solches dargestellt und analysiert, son­dern es wird ein dem menschlichen Urteilsvermögen eigener geistiger Raum beschrie­ben.22
(c) Doch bleibt zu fragen: Wie offen und zugänglich ist dieser Raum der humanitas, zu dem Arendt zufolge doch „ein jeder kommen kann“ (Arendt 2013a, 99)? Arendt weiß um die Notwendigkeiten und Sorgen des täglichen Lebens, die geistigem Tätigsein im Wege stehen und in den Erscheinungen des Mitläufertums und Opportunismus im Nationalso­zialismus trat ihr die Realität des Nichtdenkens und Nichturteilens mehr als deutlich vor Augen (vgl. Arendt 2012a, 13–25). Umso auffälliger ist ihre Charakterisierung des Den­kens, des Wollens und des Urteilens als geistige Grundtätigkeiten der Menschen und da­mit als grundlegende Modi, in denen die Menschen schon immer tätig waren, mittels wel­cher sie mit den Bedingungen umgehen, unter denen sie auf der Erde leben (vgl. Arendt 2006, 16). Bei dieser Charakterisierung geistigen Tätigseins ist die Gelehrtheit des Den­kenden und Urteilenden zweitranging. Arendt fokussiert darauf und fordert ein, dass es jedem Menschen zumindest grundsätzlich möglich ist, zu denken und sich eine Meinung zu bilden. Das bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger, als jedem Menschen die Fä­higkeit einer inneren Aktivität und Wachheit sowie kreatives Reflexionsvermögen, Vor­stellungskraft und letztlich einen gewissen Grad der Spontanität zuzusprechen, die ihm unabhängig von seiner konkreten Lebenssituation die freiheitliche Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Ereignissen in der Welt ermöglichen.23 Die Frage nach den Zugangsmöglichkeiten zum geistigen Raum der humanitas ist somit aufs Engste mit der Frage nach unserem Menschenbild verbunden. Geht man davon aus, dass jedem Menschen als solchem prinzipiell die Fähigkeit der Beurteilung zwischenmenschlicher Ereignisse und Prozesse zukommt, dann erscheint der Raum der humanitas als Ort dieses Tätigseins, der jedem offen steht. Wobei die Fähigkeit und Möglichkeit des urteilenden Tätigseins im Raum der humanitas eben nicht bedeutet, dass diese Möglichkeiten auch tatsächlich jeder Mensch wahrnimmt. Die Annahme der prinzipiellen Offenheit dieses inneren Raumes bringt einige bedenkenswerte Konsequenzen mit sich: Zum einen kann sie als Appell verstanden werden, einen entsprechenden Ort geistigen Tätigseins mit Stimmen und Perspektiven zu beleben. Zum anderen kommt in der Zugänglichkeit dieses Raumes auch die Verantwortlichkeit für die eigene Sichtweise zum Ausdruck. Steht die Möglichkeit der inneren multiperspektivischen Diskussion jedem Menschen offen, so enden das ‚Sich-ein-Bild-machen‘ und die Meinungsbildung nicht mit der Kenntnisnahme von Informationen und dem Ende der öffentlichen Diskussion, sondern sie werden an den Einzelnen übergeben, dem es frei steht, sich im Raum der humanitas urteilend mit politischen Geschehnissen auseinanderzusetzen oder es zu unterlassen.

IV

Die abschließende These – der Ort, von welchem aus Hannah Arendt selbst denkt und ur­teilt ist eben dieser Raum der humanitas – ergibt sich nicht allein aus den vorstehenden Analysen. Vielmehr rekurriert sie auch auf die Schilderungen von Karl Jaspers und des­sen Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Art des Denkens.

In dem „Sturm der Entrüstung“24, der im Sommer 1964 über Hannah Arendt aufgrund ihres Buches Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen herein­brach, entdeckt Karl Jaspers mehr als zeitgeschichtliche Diskurse zur NS-Vergangenheit. Für ihn offenbart sich hierin ein „Kampf der Mächte“ und d.h. ein Kampf zwischen ver­schiedenen „Lebensverfassungen“ (Saner 2006, 43): dem abhängigen und unabhängigen Denken. An einer Vielzahl von Beispielen plante er, beide ‚Mächte‘ zu exemplifizieren. Kontrastierend steht Golo Mann hierbei für die Abhängigkeit des Denkens, während Arendt „ein ungewöhnliches Maß von unabhängigem Denken nicht nur wollte […], son­dern auch erreicht“ (ebd., 30) hat.
Diese Unabhängigkeit besteht insbesondere darin, sich von gesellschaftlich, staatlich, religiös oder ideologisch gegebenen Denkmustern – den Jaspersschen ‚Gehäusen‘ als dog­matisch-erstarrten Weltanschauungen25 – zu lösen und hierfür auch sich selbst und die eigenen Meinungen immer wieder zu prüfen und radikal infrage zu stellen.26 Eine solche Unabhängigkeit der Denkungsart kann nur im Modus einer ständigen Aufforderung an sich selbst realisiert werden, als ein fortwährendes Bemühen und Hinterfragen, das nie zu einem Ende kommt (vgl. Saner 2006, 32). Diesen Weg kann niemand allein gehen; die unabhängige Denkungsart, die Jaspers beschreibt, kann sich nur im Gespräch mit anderen einstellen und bewähren. Sie ist also gebunden an andere Menschen und an eine spezifische Art der Kommunikation.27 An dieser Stelle ist v.a. der Ort von Interesse, an dem solche Gespräche möglich sind.

Im alltäglichen Zusammensein und Kommunizieren findet sich Jaspers zufolge jeder Mensch in Abhängigkeiten des Denkens und Handelns vor:

Wir Menschen sind in der Gesellschaft den Abhängigkeiten ausgeliefert. Wir spielen unsere uns gegebene Rolle in den Collektiven, denen wir angehören. Dort beurteilen wir die Gedanken nicht nur nach ihrer Wahrheit, sondern nach ihrer Wirkung, wenn wir sie aussprechen. Dort finden wir uns zusammen in conventionellen Urteilen und gemeinsa­men Motiven zum Mitvollzug des öffentlichen Betrugszustandes.“28
Was Jaspers hier anprangert, ist das alltägliche und abhängige ‚Spielen von gesell­schaftlichen Rollen‘, die Sehnsucht nach Wirkung29 und das Argumentieren in Gemein­plätzen. In Abgrenzung hierzu wird die Bedeutung der Wahrheit für die Bewertung von Gedanken und die Qualität des Austausches benannt. Wahrheit ist jedoch bei Jaspers – und das macht sein Denken für Arendt in vielerlei Hinsicht anschlussfähig (vgl. Arendt 1948, 73–80) – kein statischer Begriff, sie ist nicht der verborgene, immer schon im Hin­tergrund versteckte Kern der Sache. Auch wenn Jaspers mit durchaus starken transzen­dentalen Voraussetzungen operiert, welche er sowohl erkenntnistheoretisch, als auch ethisch und politisch ausbuchstabiert, besteht die Relevanz seines Wahrheitsbegriffs hier in dessen Vielgestaltigkeit, Wandlungsfähigkeit und Intersubjektivität. Konkret bedeutet dies, dass Wahrheit über einen im Gespräch verhandelten Gegenstand sich per definitio­nem nicht ‚im Besitz‘ eines Gesprächsteilnehmers befinden kann. Sie stellt sich zwischen den Beteiligten ein, wird in der gemeinsamen Betrachtung und Besprechung ertastet, ver­worfen und infrage gestellt. Bringt man Jaspers’ Darstellungen zur existenziellen Kom­munikation und zum Wahrheitsbegriff entsprechend zusammen, so zeigt sich die Wahr­heit als kommunikative und höchst punktuelle Selbst- und Sinnerfahrung (vgl. Jaspers 1985, 257–259; Jaspers 1991, 587–589).

Eine solche gemeinsame Wahrheitssuche ist nur unter spezifischen Bedingungen im Modus eines unabhängigen Denkens und – in auffälliger Nähe zum Arendtschen Gedan­ken – auch bei Jaspers allein an einem bestimmten ‚Ort‘ möglich. Die Beschrei­bung dieses Ortes unabhängigen Denkens liest sich wie ein kontrastierender Gegenent­wurf zu alltäglichen Daseins- und Verhaltensweisen. Er ist der

„Ort, an dem die weitesten Horizonte offen sind und die bestimmten Tatsachen rück­sichtslos festgestellt werden. An diesem Ort werden die hohen Maßstäbe erblickt. Dort werden Wirklichkeiten gegenwärtig, die in der Praxis der concreten Lebensführung oft nicht zum Bewusstsein kommen.“30

Die ‚hohen Maßstäbe‘ erscheinen als eben jene Ansprüche, welche Jaspers’ intersubjek­tiver Wahrheitsbegriff und mit ihm die gemeinsame Wahrheitssuche mit sich bringen: ein Absehen von ideologischem Denken, von gesellschaftlichen Unterschieden und privaten Interessen sowie eine grundlegende geistige Wachheit und Offenheit anderen Positionen gegenüber. Die sich hierbei auftuenden ‚Wirklichkeiten‘ werden von Jaspers aus gutem Grund im Plural angesprochen, denn es scheinen im Gespräch stattfindende existenzielle Erfahrungen seiner selbst und der anderen zu sein, welche er hierbei im Blick hat. Sie zeichnen sich jeweils durch ihre Einzigartigkeit aus (vgl. Jaspers 1973, 219). Dieser sich je situativ gemeinsam auftuende Erfahrungshorizont wird zu einer ‚Wirklichkeit‘, die dann im Hintergrund unserer Welt- und Selbstwahrnehmung steht. Sie wird selbst zum An­haltspunkt und Maßstab für alles weitere Denken und Handeln.

Eröffnet und belebt wird dieser Ort von den unabhängig Denkenden, die sich sowohl im konkreten äußerlich-weltlichen wie auch im innerlich-geistigen Gespräch mit den Fra­gen der Zeit befassen.31 Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist von nicht zu unter­schätzender Bedeutung: Nicht nur die Wahrheit, auch die Unabhängigkeit menschlichen Denkens, letztlich die geistige Autonomie des Menschen wird hier von Jaspers an die in­nere Anwesenheit anderer Menschen rückgebunden. Unabhängig denken bedeutet also nicht, einsam zu denken, sondern im Gegenteil: unter Einbeziehung anderer zu denken. Auch in dieser geistigen Gemeinschaft erscheinen die Auseinandersetzungen zumeist als unermüdlicher Streit, der trotz verschiedenster Meinungen von einer „Verwandtschaft im Grunde“32 getragen wird. Diese besteht in der grundlegenden Akzeptanz des intersubjek­tiven Wahrheitsbegriffs sowie in der gemeinsamen Suche nach Wahrheit und Unabhän­gigkeit, die sich im streitenden Gespräch realisiert. Unabhängig Denkende sind entspre­chend unbegrenzt bereit
„miteinander zu sehen und zu denken. Sie zeigen einander das Gesehene, denken das im Anderen Gedachte. […] [A]usgeschlossen ist, dass der Unabhängige sich nicht über­zeugen lässt, nicht mehr zuhört. Die geistige Bewegung der in der Vernunft verbundenen Partner verlangt Widersprechen, Hören und Antworten, in keiner Position liegt eine End­gültigkeit.“33
So zeigt sich in der ‚Verwandtschaft im Grunde‘ die Unabschließbarkeit – wenn auch keineswegs Sinnlosigkeit – der Wahrheitssuche, die an diesem Ort und im Modus ge­meinsamen unabhängigen Denkens statthat. Während Arendt auf die Bildung von Mei­nungen und Urteilen abzielt – auch wenn diese nicht konsensual oder unumstößlich sind – lässt Jaspers das ‚Ziel‘ unabhängigen Denkens um des intersubjektiven Begriffs der Wahrheit willen offen.34
Versteht man Arendt mit Jaspers als unabhängig Denkende, ist man an den Ort unab­hängigen Denkens verwiesen. Doch wo liegt dieser Ort? In gewisser Weise bietet sich Arendts Raum der humanitas als Antwort an. Sind doch trotz der Unterschiede zwischen Jaspersʼ Existenzphilosophie und Arendts Politischer Theorie die Gemeinsamkeiten von Arendts Raum der humanitas und Jaspersʼ Ort unabhängigen Denkens deutlich zu se­hen.35 (1.) Beide, Arendt und Jaspers, denken eine Stätte menschlicher Innerlichkeit, die sich (2.) durch menschliche Pluralität und Intersubjektivität auszeichnet. (3.) Charakteri­siert ist sie durch einen zugrundeliegenden Konsens, die kommunikative Haltung der hu­manitas bzw. die ‚Verwandtschaft im Grunde‘, welche sich u.a. in einer kategorischen Of­fenheit für das Gespräch und einem intersubjektiven Wahrheitsbegriff niederschlägt, der wiederum eine Absage an die Autorität einer unumstößlichen Wahrheit zur Konsequenz hat. (4.) In Form von Streitgesprächen, (5.) welche sich mit weltlichen Geschehnissen be­fassen, (6.) können sich hier spezifische Arten geistigen politischen Tätigseins ausbilden (Urteilen bzw. unabhängiges Denken). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen er­scheint der Raum der humanitas als Wirkstätte Hannah Arendts, als Ausgangs- und stän­diger Referenzpunkt ihres politischen Denkens. Neben vielen weiteren Bewohnern und Gästen sind es wohl Varnhagen, Blücher, Kant, Jaspers, Sokrates, McCarthy, Heidegger, Augustinus, Luxemburg und Lessing mit denen sie dort streitet und sich ein Urteil bildet. Im Raum der humanitas findet sie eine Vielzahl Meinungen und Perspektiven, die allein an der Welt orientiert sind. So ist er die innere Stätte der Pluralität, welche durch die ihm entsprechende geistige politische Tätigkeit des Urteilens aktualisiert und in finsteren Zei­ten im denkenden Streitgespräch bewahrt wird.

Literatur

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Young-Bruehl, Elisabeth: „Reflections on Hannah Arendtʼs The Life of the Mind“. In: Political Theory 10. Jg., 2 (1982), 277–305.

 

 

1 Für die vielen Kommentare und Anregungen zum vorliegenden Text möchte ich den Teilnehme­rInnen des Hannah-Arendt-Workshops 2016 (Berlin) ganz herzlich danken.

*Astrid Hähnlein ist Doktorandin an der der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Professur für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte (Arbeitstitel der Dissertation: Situatives Denken bei Hannah Arendt und Karl Jaspers).

2 Die Termini ‚Standpunkt‘, ‚Ort‘ und ‚Raum‘ stehen hier in folgender Weise zueinander in Bezie­hung: Fokussiert der Ausdruck ‚Standpunkt‘ auf die betreffende Person, die an einem Punkt steht, so bezeichnet der Ausdruck ‚Ort‘ eben diesen Punkt, legt das Augenmerk jedoch nicht auf den Menschen, sondern auf die entsprechende Stelle im Raum. Unter ‚Raum‘ wird hier ein urbar ge­machter Bereich verstanden, in welchem menschliches Leben und Tätigsein möglich sind. Vgl. Grimm/Grimm 1984, Sp. 275–283.

3 Das von Jaspers Mitte der 1960er Jahre begonnene Buchprojekt ist als Fragment von 1600 größ­tenteils handschriftlich verfassten Seiten im Deutschen Literaturarchiv in Marbach einsehbar. Eini­ge Seiten sind 2006 von Hans Saner transkribiert und publiziert worden (vgl. Saner 2006). Für die Möglichkeit der Sichtung des übrigen Materials sowie für die Publikationsgenehmigung für einige Partien gilt Anton Hügli und dem Deutschen Literaturarchiv mein besonderer Dank.

4 Zum Begriff der Haltung und ihrer Bedeutung für das weltliche Tätigsein der Menschen vgl. Kurbacher 2006.

5 Ist Rousseau Arendts Gewährsmann für die Brüderlichkeit, so skizziert sie anhand des griechi­schen Begriffs der philanthropia, des römischen Terminusʼ humanitas und der Werke Lessings einen Begriff von Menschlichkeit als Freundschaft, vgl. Arendt 2013a, 38.

6 „Being able to choose your company by communicating your choices and wooing the consent of others is, for Arendt, a manifestation of humanitas; humanitas is, so to speak, the trait which un­derlies the ‚enlarged mentality‘“ (Young-Bruehl 1982, 300); vgl. Kurbacher 2006.

7 Zu Arendts Analysen des Lessingschen Freundschaftsbegriffs vgl. Nixon 2015, Petuchowski 1988; zu Jaspersʼ Kommunikationsbegriff vgl. Arendt 2013a, 101–116.

8 Zum Wahrheitsbegriff, seiner Daseinsberechtigung im Bereich des Politischen und seiner Rele­vanz im Denken Arendts vgl. Arendt 2013b.

9 Lessing „war froh, daß [...] der echte Ring, wenn es ihn je gegeben haben sollte, verloren gegan­gen ist, und zwar um der unendlichen Möglichkeiten der Meinungen willen, in denen die Welt zwischen den Menschen besprochen werden kann. Gäbe es den echten Ring, so wäre es um das Gespräch und damit um die Freundschaft und damit um die Menschlichkeit schon getan“ (Arendt 2013a, 39).

10 Zum Humanismusbegriff vgl. Heuer 1992.

11 Da der dritte Part von Vom Leben des Geistes. Das Urteilen ungeschrieben blieb, stellt neben kürzeren Arbeiten der Vorlesungstext Über Kants Politische Philosophie die wesentliche Quelle dar, vgl. Arendt 1985.

12 Erhellende Darstellungen bieten u.a. Beiner 1985; Benhabib 1987; Kurbacher 2011; Meints-S­tender 2011; Spiegel 2011 und Vollrath 1979.

13 Zum spezifischen Modus geistigen Alleinseins vgl. Arendt 2012a, 179–192.

14 „Zuschauer gibt es nur in der Mehrzahl. Der Zuschauer ist nicht mit dem Akt, aber immer mit dem Mit-Zu­schauer verbunden. Er teilt nicht das Vermögen des Genies, Originalität, mit dem Schaffenden oder das Vermögen der Neuerung mit dem Akteur; aber das Vermögen das ihnen allen gemeinsam ist, ist die Urteilskraft“ (Arendt 1985, 85).

15 „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichts­punkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie somit repräsentiere. Dieser Vergegenwärtigungsprozeß akzeptiert nicht blind bestimmte, mir be­kannte, von anderen vertretene Ansichten. Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, […] irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es […] ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann, und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht […] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein“ (Arendt 2013b, 61 f.); vgl. Beiner 1985, 137; Benhabib 1987, 542–547; DeCaroli 2007, 367 f.; Hermenau 1999, 66 f.

16 „[G]emeint ist ein Platz, von dem aus man sehen, beobachten, Urteile bilden oder, wie Kant selbst sagt, über menschliche Angelegenheiten nachdenken kann“ (Arendt 1985, 61). „Like […] Kant’s sensus communis, the world provides intersubjective criteria for evaluating actions and po­tential actions. Such criteria are by no means absolute, but they do save us from pure subjectivism and they do provide supplementary moral content to the rather dubious quest for self-disclosure that sometimes seems to ground Arendt’s theory of action“ (Biskowski 1993, 884).

17 „Der Anspruch auf Geltung kann nie weiter reichen als die anderen, an deren Stelle mitgedacht wird. Das Urteil, wie Kant sagt, gilt ‚für jeden Urteilenden überhaupt‘, das heißt aber, es gilt nicht für Leute, die sich am Urteilen nicht beteiligen und der Öffentlichkeit in der die beurteilten Gegen­stände erscheinen, nicht präsent sind“ (Arendt 2012b, 298 f.); vgl. Arendt 1985, 53 f.; Arendt 2013b, 47–61; Beiner 1985, 134; Benhabib 1987, 540.

18 Auch Hans-Jörg Sigwart ist in diesem Punkt zuzustimmen: „Das Urteilen hat eine ‚gewisse All­gemeingültigkeit‘ nicht primär deshalb, weil es sich auf alle möglichen Anderen oder etwa auf die abstrakte, regulative Idee eines universal ‚verallgemeinerten‘ Anderen bezieht, sondern weil und insofern in ihm der Anspruch des Urteilenden impliziert ist, sich als Beteiligter an der konkreten Gruppe der ‚präsenten‘ Anderen und zusammen mit diesen Anderen vor dem ‚Gerichtshof der Welt‘ zu verantworten und in diesem Sinne sub specie humanitatis zu urteilen“ (Sigwart 2012, 434).

19 Zu Hannah Arendts Weltgebriff vgl. Jaeggi 1997.

20 Auf den Facettenreichtum von Arendts Weltbegriff ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen. Im Vordergrund steht hier die Charakteristik der Welt als menschlicher Erscheinungsraum, im Sin­ne einer Bühne. Für eine differenziertere Darstellung vgl. u.a. Jaeggi 1997.

21 Dass die Positionen, die in diesem Raum zur Sprache kommen, sich aus weltlichen Gesprächs­situationen, Lektüreerlebnissen etc. speisen, versteht sich und zeichnet sich auch in der Laudatio ab (vgl. Arendt 2013a, 99).

22 Der schwärmerische Ton, in welchem Arendt ihren Freund Karl Jaspers und den Raum der hu­manitas beschreibt, wäre ohne Frage einer ausführlichen Betrachtung wert. In einer Vielzahl von Wendungen und Metaphern greift sie markante Ausdrücke und Figuren von Jaspers auf (die Licht­metapher bspw. und den Ausdruck ‚etwas erhellen‘).

23 Auf Ausnahmesituationen (wie bspw. den Zustand körperlichen Schmerzes), die uns ganz auf unsere körperliche Erfahrung zurückwerfen und so der Welt entrücken, weist Arendt hin. Vgl. Arendt 2006, 63.

24 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 1.

25 Zum Jaspersschen Begriff des Gehäuses vgl. Jaspers 1985, 304–326.

26 Die Nähe zum Arendtschen ‚Denken ohne Geländer‘ ist nicht zu übersehen, vgl. Saner 2006, 38.

27 Zudem ist die unabhängige Denkungsart im Sinne der Jaspersschen Philosophie an die Grün­dung in Transzendenz gebunden, worauf an dieser Stelle jedoch nicht weiter einzugehen ist; zu Jaspers’ Kommunikationsbegriff vgl. Jaspers 1973, 50–148.

28 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 7.

29 Diese Kritik wird von Arendt in ihren berühmten Einlassungen bei Günter Gaus aufgegriffen: „Ich selber wirken? Nein ich will verstehen“ (Arendt 2007, 48).

30 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 7.

31 Zum komplexen Verhältnis von weltlichem und geistigem Gespräch bei Jaspers vgl. Jaspers 1988; Hügli/Kaegi/Wiehl 2004.

32 Fragmente aus dem Nachlass von Karl Jaspers (ca. 1963–1969), Kasten 45, Teil 0, ‚Vorwort‘, pag. 6.

33 Ebd., pag. 5; zu Jaspersʼ Wahrheitsbegriff vgl. Jaspers 1991, 475–600; Schulz 2011; hier zeigt sich dieselbe normative Exklusivität, die bereits bei der Auseinandersetzung mit Arendts humani­tas diskutiert wurde, vgl. Abschnitt IIIa.

34 In diesem Charakteristikum scheint sich Jaspers’ unabhängiges Denken vielmehr dem Arendt­schen Begriff des Denkens als des Urteilens anzunähern (Arendt 2012a, 171). Jedoch übersähe ein solcher Einwand die klare weltlich-politische Ausrichtung, die Jaspers dem unabhängigen Denken zuspricht. Als Analogon zu Arendts Begriff des Denkens könnte man in mancherlei Hinsicht Jas­persʼ Begriff der Philosophie anführen.

35 Wobei sich natürlich auch Unterschiede finden lassen. Zu nennen ist hier v.a. der transzendenta­le Rückbezug unabhängigen Denkens bei Jaspers, dem Arendts radikal weltliches Denken gegen­übersteht, vgl. Lambrecht 2008.