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Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

Hannah Arendts Phänomenologie der Pluralität: Sozialontologische, politische und ethische Aspekte

 

Sophie Loidolt*

 

1. Hannah Arendts Transformation der Phänomenologie durch das Para­digma der Pluralität

Der Begriff der Pluralität ist zentral für Arendts politische Theorie. Dennoch scheint er mir in Arendts Werk theoretisch und systematisch unterschätzt zu sein. Dies liegt einer­seits daran, dass Pluralität häufig als bloße Verschiedenheit von menschlichen Eigen­schaften bzw. als „diversity“ verstanden wird. Andererseits werden Arendts Ausführungen zur Grundbedingung der Pluralität oft ohne Umschweife mit einer politischen Pluralis­mustheorie gleichgesetzt. Beides, scheint mir, greift zu kurz und verursacht gelegentlich auch Missverständnisse.

Ich möchte deshalb in diesem Aufsatz die These entwickeln, dass sich die weitreichen­den philosophischen, politiktheoretischen, sozialontologischen und ethischen Implikatio­nen von Arendts Pluralitätsbegriff nur dann entfalten lassen, wenn man ihren Ansatz als eine „Phänomenologie der Pluralität“ liest. Dabei geht es mir nicht darum, Arendt in ir­gendeine „Tradition“ einzureihen – das wird aus guten Gründen ohnehin nie gelingen. Eher möchte ich ihren Begriff der „Pluralität“ und „des Politischen“ vor einem phänome­nologischen Hintergrund verständlich machen. Ich denke, dass Arendt viel tiefer als oft erkannt und berücksichtigt wurde, mit phänomenologischen Grundbegriffen gearbeitet hat und diese gerade durch ihr Konzept der Pluralität transformiert und politisiert hat. Damit meine ich Begriffe wie Erscheinung, Erfahrung, Welt, Intentionalität, Subjektivität, Intersubjektivität, Mitsein etc., die Arendt entweder implizit oder (in den deutschen Ver­sionen ihrer Texte) explizit anspricht. Dieser Ansatz eröffnet ein breiteres Spektrum der systematisierenden und vergleichenden Lektüre, als Arendt bloß als eine mehr oder weni­ger rebellische Schülerin Heideggers zu lesen – was üblicherweise der Fall ist, wenn man ihre phänomenologischen Wurzeln thematisiert. Vielmehr sehe ich sie in einer Linie mit der Generation der PhänomenologInnen nach Husserl und Heidegger, die mit diesem Erbe transformativ und kreativ umgegangen sind. Ich denke dabei etwa an Maurice Mer­leau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Jan Patočka oder Emmanuel Levinas. Letzterer hat z.B. mit seinem Begriff der Alterität eine Transformation der Phänomenologie in ethischer Hin­sicht vollzogen, wie Arendt dies – so möchte ich argumentieren – mit dem Begriff der Pluralität in politischer Hinsicht unternommen hat. Der grundlegende Ansatz lässt sich also folgendermaßen kurz skizzieren: So wie Levinas die Phänomenologie ethisch er­schließt, transformiert Arendt sie zu einer Theorie des Politischen und gehört insofern zu einer „zweiten Generation“ von Phänomenologen nach Husserl und Heidegger, die neue, unorthodoxe Wege erschließen.

Darüber hinaus kann, so glaube ich, in unserer gegenwärtigen politischen Situation nicht genug betont werden, inwiefern Pluralität eine in sich Wert und Sinn stiftende Er­fahrungsdimension birgt. Aber ebenso eine Anspruchsdimension: Pluralität ist nicht et­was, das von selbst ist (wie eben bloße „diversity“), sondern etwas, das wir tun. Es ist ein intersubjektiver Vollzug, der nicht automatisch und nicht notwendig stattfindet, der unter gewissen Bedingungen steht und der insofern stets gefährdet ist, wenn er nicht aufrechterhalten wird.

1.1 Der breitere Rahmen: Hauptthesen

Der breitere Rahmen, innerhalb dessen ich die folgenden Analysen situieren möchte, lässt sich also durch also zwei Thesen beschreiben, die zusammengehören und einander wechselseitig ergänzen1:
  1. 1.Hannah Arendts vielzitierter Begriff des „Politischen“ kann adäquat nur über eine Phänomenologie der Pluralität verständlich gemacht werden.  

  2. 2.Das Paradigma der Pluralität transformiert gleichzeitig klassische phänomeno­logische Methodologien und Grundbegriffe wie Intentionalität, Erscheinen, Ers­te-Person-Perspektive, Subjektivität, Intersubjektivität und Welt, und politisiert sie. 

Zunächst ist wichtig klarzustellen, dass Arendts Begriff des Politischen wenig mit einem herkömmlichen Politikbegriff zu tun hat (z.B. mit Machtstrategien oder Herrschaftsfor­men).2 Vielmehr bezeichnet er die existenziellen Grundbedingungen und -strukturen, die uns zu politischen Wesen machen. Und für Arendt ist dies ganz klar: Die Grundbedin­gung, die uns politisch macht, ist, dass wir im Plural existieren. Dass nicht „der Mensch“ oder „das Wesen des Menschen“ existiert, sondern „die Menschen“. Meiner These zufolge können wir den tieferen Sinn dieser Behauptung erst dann verstehen, wenn wir diese Grundbedingung phänomenologisch ausbuchstabieren. Das bedeutet, dass wir ein Ver­ständnis der Phänomenologie und der phänomenologischen Tradition brauchen, um zu erfassen, wie Arendt denkt und operiert. Diese These ist durchaus nicht gängig in der Arendt-Forschung. Der phänomenologische Einfluss auf Arendts Denken wurde zwar weitgehend anerkannt, blieb aber analysetechnisch oft in oberflächlichen Bemerkungen stecken (sehr oft liest man, dass Arendt z.B. eine „phenomenology of the public“ oder „phenomenology of judgment“ entwickelt habe, ohne dass im Geringsten erklärt wird, was „Phänomenologie“ hier eigentlich bedeuten soll). Dieser Vorwurf trifft sowohl die phänomenologische Community3 als auch die Arendt-Forschung. Darüber hinaus haben sich in der anglo-amerikanischen Rezeption, die eine zentrale Stellung einnimmt, zwei dominante „Lager“ der Arendt-Interpretation herausgebildet, ein diskurstheoretisch (Benhabib 2003) und ein poststrukturalistisch (Villa 1996, Honig 1993) geprägtes. Wäh­rend Benhabib in ihrer Habermas-affinen Lesart gleich explizit Arendts angeblichen „phänomenologischen Essentialismus“ (Benhabib 2003: xliv, 123–126, 157, 172) verwirft, beschränkt sich Villa auf eine vergleichende Analyse mit Heidegger, die sich hauptsäch­lich auf die post-metaphysische Stoßrichtung konzentriert. Die reichen systematischen Bezüge, die sich in Arendts Werk zur gesamten phänomenologischen Tradition auftun (jenseits irgendeines „Essentialismus“), kommen dadurch gar nicht in den Blick. Demge­genüber möchte ich für eine dritte Lesart plädieren und argumentieren, dass in Arendts Schriften eine nicht unmittelbar sichtbare phänomenologische Tiefenstruktur am Werk ist, die über die operativen Begriffe des Erscheinens, des Erfahrens und des Vollzugs um das „Kernphänomen“ der aktualisierten Pluralität kreist – und dieses Kernphänomen als ein ganz spezifisches Verhältnis der Ko-Konstitution von Subjektivität, Intersubjektivität und Welt fasst. Dies betrachte ich als eine zentrale phänomenologische Theoriefigur, wo­bei es freilich nicht „die Phänomenologie“ gibt, sondern plurale phänomenologische Her­angehensweisen, die, einem bekannten Diktum Merleau-Pontys (1966: 4) zufolge, an ihrem „Stil“ erkennbar seien.
Zu dieser ersten These gehört nun auch die zweite These: Arendt arbeitet mit der Phä­nomenologie. Aber sie transformiert sie auch. Und zwar genau durch ihren Fokus auf das Thema der Pluralität. Arendts sehr philosophischer Grund, sich oft nicht als Philosophin, sondern als „politische Theoretikerin“ zu bezeichnen liegt darin, dass sie der Philosophie vorwirft, „den Menschen“ bevorzugt im Singular zu denken. Indem sie nun aber genau vom Plural ausgeht, fasst sie phänomenologische methodische Grundbegriffe neu und pluralisiert und politisiert die klassische phänomenologische Tradition. Die Explizitma­chung dieser Transformation ist das Ziel einer breiter angelegten „Phänomenologie der Pluralität“, die im Gegensatz zu Husserl nicht vom Bewusstsein und im Gegensatz zu Hei­degger nicht vom Dasein-als-in-der-Welt-Sein ausgeht. Ihr Ausgangspunkt ist vielmehr die gemeinsame, welthafte und plurale Vollzugserfahrung des Miteinander-Handelns, -Sprechens und -Urteilens, in der Subjekt-/Selbstsein, Welt und Andere sich erst als ver­schränkte Knotenpunkte dieses Geschehens herausbilden und sichtbar werden. Der Rah­men des breiteren Projekts ist also, über das Kernphänomen der aktualisierten Pluralität in einem Erscheinungsraum „Arendt mit Phänomenologie“ und „Phänomenologie mit Arendt“ zu lesen.4

 

 

2. Arendts Kernphänomen der aktualisierten Pluralität

Damit komme ich zum zentralen Teil und der Frage: Was ist Pluralität eigentlich? Und was wäre eine phänomenologische Interpretation dieses Begriffs?

Die meisten Lesarten gehen von folgenden bekannten Arendt-Zitaten aus: Pluralität ist das „Faktum“, „daß viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“ (VA 17), dass wir „zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird“ (VA 17). Diese „Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, dass jedes seiner Glieder in seiner Art einzigartig ist“ (VA 214), ist als ein „inter homines esse“ (VA 17) zu lesen, welches die „grundsätzliche Bedingung des Handelns und Sprechens“ (VA 213) und damit „die Grundbedingung alles politischen Lebens“ (Arendt 1998: 7) ist.

2.1 Die Grundbedingung

Die meisten Interpretationen konzentrieren sich nun auf die politischen Konsequenzen dieses Faktums und legen es entweder im Sinne eines „pluralen Guts“ aus oder einer Poli­tik der „Solidarität“ oder „Differenz“; es gibt republikanische, radikaldemokratische, ago­nistische, narrativistische Ansätze. Ich finde diese politiktheoretischen Ansätze alle sehr spannend, aber ich glaube, sie vernachlässigen oft wichtige grundlegende Fragen: Was ist diese Pluralität eigentlich? Warum sollten wir glauben, dass wirklich jeder einzigartig ist? Und wie würde sich das zeigen? Was heißt „Faktum“ im obigen Zitat? Handelt es sich um ein „empirisches Faktum“? Was heißt „Bedingung“? etc. Die philosophischen Interpreta­tionen, die sich diesen Fragen stellen, sind m.E. oft weniger zufriedenstellend als die poli­tiktheoretischen Ansätze: Sie sprechen von Pluralität als einem empirischen Faktum, als einer anthropologischen These (und das beinhaltet oft eine relativ naive Metaphysik menschlicher Einzigartigkeit), als einem normativen Begriff oder einem Wert. Und ich denke, dass viele Interpretationen dadurch verstellen, dass Arendt mit dem Pluralitätsbe­griff das oben erwähnte wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Subjektivität, Inter­subjektivität und Welt im Auge hat, dass man, wie Adriana Cavarero (2005: 191) ange­deutet hat, als eine „radikale Phänomenologie“ lesen könnte.

Um eine solche phänomenologische Interpretation zu entwickeln,5 ist es zuerst wichtig zu verstehen, dass Arendt mit „Pluralität“ weder eine bloß quantitative Vielheit, noch eine quantitativ oder qualitativ benennbare Unterschiedenheit meint, also z.B. einzigartige ge­netische Codes, unterschiedliche Sozialisierungen oder multikulturell verstandene „diver­sity“. Pluralität ist kein Faktum, das einfach „vorhanden“ ist, so wie Bäume oder Tische. Das aber ist es, was die meisten Interpretationen suggerieren. Was sie hingegen nicht se­hen, ist, dass Arendt statt eines metaphysischen, empirischen oder anthropologischen Konzepts von Einzigartigkeit (das man allzu leicht in ihre Texte hineinlesen kann), eine phänomenologische Konzeption von Perspektivität und Weltzugang anwendet und in ihrem Sinne weiter ausbaut.

Pluralität ist also nicht eine Pluralität von Eigenschaften, die man aus der Dritte-Per­son-Perspektive feststellt. Gewiss gibt es eine quantitative Vielzahl von Menschen, die einfach vorhanden sind, aber die reine Quantität macht noch keine Pluralität aus; präzi­ser: Sie ist wohl eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für das, was Arendt mit „Pluralität“ meint. Allein den rein quantitativen Faktor zu berücksichtigen führt deshalb noch nicht zum richtigen Verständnis von Pluralität, weil dabei meist „Viel­heit [...] aus Vervielfältigung“ (VA 17) erklärt wird, d.h. die Vielen als bloße Abziehbilder von einem Original („der Mensch“) betrachtet werden, als Exemplare einer Gattung, auch wenn es bei dieser Reproduktion zu leichten Abweichungen und Diversifizierungen kom­men kann. Arendt lehnt einen so konzipierten Wesensbegriff des Menschen ab, weil er eben genau nicht zu verstehen gibt, was Vielheit als gemeinsames Existieren bedeutet. Ihr wesentliches philosophisches Projekt ist also nicht essentia im Singular, sondern existentia im Plural zu denken.

Da dieses für Arendt entscheidende Faktum zum Verständnis des Mensch-Seins weder über quantitative noch über qualitative Merkmale erschlossen werden kann, wählt sie von Anfang an eine phänomenologische Perspektive; das heißt: eine Auslegungsform, die nicht „von außen“  oder „von oben“ auf die Vielzahl der Menschen blickt und sie in ihren Eigenschaften erklärt (gleichsam aus einer objektivierenden „Dritte-Person-Perspektive“ oder der Vogelperspektive), sondern von innen, aus der Erfahrungs- und Interaktionsper­spektive heraus, indem sie diese Vielzahl vom Ausgangspunkt des je eigenen Erfahrens her vollzieht. Dies involviert sowohl die Erste-Person-Perspektive Singular als auch die Zweite-Person-Perspektive der Begegnung, und, zentral für Arendts Entwurf, die Ers­te-Person-Perspektive Plural, die sich nicht nur im gemeinsamen Handeln, sondern schon im Teilen einer Welt ereignet.

Arendts phänomenologisches Perspektivitätskonzept zeigt sich beispielsweise an der Art und Weise, wie sie die Einzigartigkeit des/der je einzelnen fasst. Gewiss lassen auch qualitative Aspekte der menschlichen Vielzahl eine Singularität erkennen, wenn man den Blick „von außen“ wählt: Dies beginnt beim je einzigartigen genetischen Pool und endet bei der je unterschiedlichen Geschichte und Sozialisierung. Die Einzigartigkeit eines je­den Exemplars unserer Gattung lässt sich an vielen verschiedenen Eigenschaften auflis­ten, beginnend bei der Doppelhelix über die Vermessung biometrischer Daten bis zur ge­nauen Protokollierung unserer sozialen und psychischen Dispositionen. Es geht Arendt aber nicht um die Art von Einzigartigkeit, die man z.B. an der Grenze per biometrischer Daten herausfiltern und kontrollieren kann. Auf die Frage, was uns einzigartig macht, antwortet Arendt ganz anders:

Das unverwechselbar einmalige des Wer-einer-ist, das sich so handgreiflich im Spre­chen und Handeln manifestiert, entzieht sich jedem Versuch, es eindeutig in Worte zu fassen. Sobald wir versuchen zu sagen, wer jemand ist, beginnen wir Eigenschaften zu be­schreiben, die dieser Jemand mit anderen teilt und die ihm gerade nicht in seiner Einma­ligkeit zugehören. Es stellt sich heraus, daß die Sprache, wenn wir sie als ein Mittel der Beschreibung des Wer benutzen wollen, sich versagt und an dem Was hängen bleibt [...]. (VA 222f.)

Dass es bei Arendt um ein Wer geht und nicht um ein Was, ist ein weiterer wichtiger Hinweis auf ihre phänomenologische Perspektive. Was hier im Besonderen nachhallt, ist Heideggers Unterscheidung zwischen dem Wer des Daseins und dem Was des Vorhan­denseins (Heidegger 1967: §25): Das Sein des „Da“ erschöpft sich nicht darin, ein bloß vorhandenes Seiendes unter anderen Seienden zu sein. In seinem „Da“-Sein vollzieht sich dieses spezielle Seiende als eine Perspektive auf die Welt, es ist „offen“ für Welt, es er­fährt. Dieses Perspektive-Sein heißt Ort-der-Erfahrung-Sein, an dem sich etwas zeigt, nämlich das Erscheinende und sein ganzer Horizont des Erscheinens, die „Welt“ über­haupt. Erst in dieser Welt findet sich ein „Was“, das wir beschreiben können. Der Zu­gang, das Erfahren selbst, ist kein weiteres „Was“: Würden wir ihn als „Was“ erfassen und beschreiben, dann hätten wir ihn als Gegenstand vor uns. Deshalb spricht Heidegger, und Arendt mit ihm, von einem „Wer“. Und genau dieses Wer macht nach Arendt die Ein­zigartigkeit aus, die sich in der aktualisierten „Pluralität“ bemerkbar macht.

Das „Faktum der Pluralität“ ergibt sich also vielmehr aus der Pluralität des „Wer“ als aus der Quantität oder Qualität des „Was“. Pluralität ist demnach eine Pluralität der Perspektiven, des Weltzugang-Seins. Das unverwechselbar einmalige des Wer-einer-ist, das sich im Sprechen und Handeln manifestiert, entzieht sich jedem Versuch, es in Worte zu fassen, in Eigenschaften zu beschreiben. Dieser Versuch bleibt am „Was“ hängen, statt das „Wer“ zu erfassen. Das „Wer“ hingegen ist die irreduzible Perspektive, wodurch sich das „Was“, das uns Gemeinsame, die Welt, in je verschiedenen Ansichten zeigt. Das im Vollzug von Pluralität bezeugte Faktum liegt also darin, dass „Welt“ nicht nur mir gege­ben ist, sondern ebenso vielen anderen – in ihrem je eigenen Offen-Sein des Erfahrens, noch jenseits eines Was des Erfahrens. Was die Einzigartigkeit dabei ausmacht, ist, dass niemand die Stelle des anderen einnehmen kann ohne entweder sich oder den Anderen dabei zu verlieren. Was das Anderssein des Anderen ausmacht, ist, dass — wie Husserl gesagt hätte — ein „Abgrund“ zwischen seinem und meinem Bewusstseinsstrom besteht. Würden die beiden Ströme ineinanderführen, dann wäre der Unterschied zwischen „Ich“ und „Anderer“ aufgehoben. Jedes einzelne „Da“-Sein bleibt also unersetzbar und unein­nehmbar als je einzigartiger Ort-der-Erfahrung und nur von da aus gibt es eine Pluralität der Perspektiven auf die Welt.

2.2 Die Aktualisierung der Grundbedingung

Dies ist aber nur ein erster Schritt zum Verständnis von Pluralität: der der Grundbedin­gung. So wie alle tätigkeitsbezogenen Grundbedingungen (Leben, Weltlichkeit) ist aber auch Pluralität nicht etwas „vor“, „hinter“ oder „jenseits“ der korrelierenden Tätigkeit, sondern Pluralität verwirklicht und aktualisiert sich in den Grundtätigkeiten des Han­delns und Sprechens.6 Aus diesem Grund habe ich schon weiter oben von aktualisierter Pluralität gesprochen, davon, dass Pluralität etwas ist, das wir tun müssen. Dies unter­streicht auch noch einmal, dass es sich hier nicht um einen Substanzbegriff handelt, son­dern um einen Vollzug (man könnte dies im Englischen auch einen „enactive approach“ nennen). Pluralität gibt es nur im Vollzug, so wie es ein Musikstück live nur im aktuellen Spielen der Instrumente gibt. Ansonsten artikuliert sich das „Wer“, das wir sind und das wir nur sein können mit anderen, nicht, und bleibt stumm – ein Was. Pluralität kann also ins Potenzielle zurücksinken und ist zerbrechlich; ihr Bestehen ist keine Selbstverständ­lichkeit – und deshalb geht es hier auch um ein politisches Anliegen.

Wer nun aufgrund der Musikmetapher glaubt, dies wäre ein Aufruf zur Harmonie, irrt sich. Für Arendt ereignet sich „das Politische“ primär in der Debatte und in ihrer Auf­rechterhaltung, in öffentlichen Äußerungen, in politischen Kämpfen, darin Stellung zu be­ziehen, und zu zeigen, wer ich bin etc. Ich glaube zwar (und werde dies im letzten Teil die­ses Aufsatzes kurz ausführen), dass es bei Arendt so etwas wie eine „intrinsische Ethik der Pluralität“ gibt, die nicht den grundlegenden polemos ansetzt, auch nicht den grundlegen­den Antagonismus oder die Freund/Feind-Unterscheidung. Vielmehr setzt sie in jeder Aktivität die Aufrechterhaltung von Pluralität als normativen Maßstab an. Dennoch bedeutet dies keineswegs Harmonie und schon gar kein Telos der vernünftigen Einigung.

Arendt sieht vor allem zwei Tätigkeiten, nämlich die des Sprechens und des Handelns als die ausgezeichneten Modi, in denen sich Pluralität vollzieht und artikuliert. Zu dieser Grundarchitektur des intersubjektiven Erscheinungsraumes fügt sie später noch das Ur­teilen hinzu, welches dessen Bühnencharakter weiter befestigt und um das Handlungsge­schehen eine kommunikative und geschichtlich geöffnete Weltöffentlichkeit spannt. Die­ses Sich-Selbst-Mitteilen als Selbst-Erscheinen vor anderen (das „Wer im Wir“, das auch ein konfliktuelles Wir sein kann), in seiner eigenen, irreduziblen Qualität und auf ver­schiedenen mehrstufigen Ebenen, ist der Kernpunkt von Arendts ganz eigenem Entwurf. Das ist es, was sie „das Politische“ nennt. Es geht dabei um eine sehr basale „Konstitution der politischen Welt“. Die Divergenz im Vergleich zum herkömmlichen Begriff von Politik wird hier besonders deutlich bzw. die Notwendigkeit, Arendts Begriff philosophisch re­flektiert als Pluralitätsgeschehen zu verstehen: Im gemeinsamen Handeln und Sprechen vollziehen wir die Grundbedingung der Pluralität, und dies macht uns, in all seinen Facet­ten, „politisch“. Weder ziehen wir uns cartesisch auf ein Bewusstsein zurück, noch verfol­gen wir ein existenzial-solipsistisches Selbstsein, sondern wir teilen und gestalten die Welt aktiv im multiperspektivischen Miteinander. Dieses politische Miteinander im — durchaus kontroversen — Austausch der verschiedenen Perspektiven, verlangt und er­zeugt gleichzeitig einen ganz bestimmten Erscheinungsraum: den Raum der Öffentlich­keit.

Privates und Öffentliches sind Räume, die wir schaffen und deren Wurzel in zwei Sach­verhalten gründet: erstens darin, dass In-der-Welt-Sein Erscheinen bedeutet (die „Bühne der Welt“; Welt als Erscheinungsraum) und zweitens darin, dass Erscheinen Erschei­nen-für ist: Je mehr Blicke, umso höher ist die Sichtbarkeit. Umgekehrt: soll Sichtbarkeit ein­geschränkt sein, so müssen wir vor den Blicken schützen. Arendt verwendet deshalb die Metaphern des „Lichts der Öffentlichkeit“ und des „Dunkel des Privaten“. Auf dieser Ba­sis „bauen“ wir Räume des Öffentlichen und des Privaten, Räume, die eine eigene Physio­gnomie haben, die die Dinge in gewisser Weise erscheinen lassen, sie im Dunkel bewah­ren oder ins Helle stellen. Erscheinen heißt in der erscheinenden Welt offenbar werden, sichtbar werden für alle. Der primäre und basale Erscheinungsraum der Welt selbst hat also schon Züge der Öffentlichkeit. Dazu kommt allerdings, dass diese Sichtbarkeit auch durch die Blicke der Vielen aktualisiert werden muss. Eine solche Aktualisierung ist prin­zipiell flüchtig, sie geschieht hier und da, verliert sich wieder und versinkt in die Verges­senheit. Deshalb hat der öffentliche Raum nach Arendt zwar seine Basis in der grundle­genden Sichtbarkeit des Erscheinens und der aktualisierten Aufmerksamkeit der Vielen, er muss aber befestigt werden, um einen wirklichen Raum, eine „Bühne“ zu schaffen.

Diese menschenerschaffene „Bühne der Welt“ stellt nun nach Arendt den eigentlichen Ort dar, an dem sich Pluralität vollziehen kann, d.h. an dem die Vielheit des Perspekti­ve-Seins sich im vollen Sinne verwirklichen, aktualisieren und zu Geschichten werden kann. Nicht nur ihn gilt es zu errichten und zu erhalten; es geht auch darum, einen Platz darin haben zu können: eine Stelle, von der aus man sprechen und handeln kann. In Termini der Sichtbarkeit heißt dies: Wo dieses relevant ist, wo Menschen nicht „überflüssig“ ge­macht werden, indem sie aus ihrem „Platz in der Welt“ herausfallen. Darauf komme ich am Schluss meines Aufsatzes zurück.

2.3 Drei Thesen zum Pluralitätsgeschehen

Man kann die Beschreibung des Pluralitätsgeschehens in aller Kürze in drei Thesen zu­sammenfassen:

  1. 1.In der Aktualisierung von Pluralität erscheint das „Wer“ der Person.  

  2. 2.Es entsteht dadurch ein „Bezugsgewebe“, ein Erscheinungsraum des „Zwi­schen“ (Öffentlichkeit), der ein „Wir“ konstituiert (das ist noch kein starkes Grup­pen-Wir, sondern das „Wir“ einer geteilten Welt, das, wie wir wissen, auch schon kontrovers sein kann und keineswegs selbstverständlich ist). Und:  

  3. 3.Die Aktualisierung von Pluralität ist kontingent. Um zu überleben bin ich z.B. nicht auf sie angewiesen (sehr wohl aber auf die Aktualisierung meiner leiblichen Prozesse). 

Ad (1) Erscheinen des „Wer“: Sprechen und Handeln als offenbarendes Weltgeschehen

Eben weil Arendt von einer phänomenologischen Matrix aus denkt, ist der Vollzug von Pluralität für sie ein Erscheinungsgeschehen (mit Entzugsmomenten), das im Erschei­nungsraum und als Erscheinen stattfindet. Das hat Konsequenzen für ihr Subjektver­ständnis. Insofern ist sie eine der PhänomenologInnen, die das Erscheinen und damit auch das Sein des Selbst als ein Geschehen denkt, das mit und vor anderen stattfindet. Wer ich bin, ist nicht etwas „hinter“ der Erscheinung, sondern es zeigt sich nur in der Er­scheinung. So wie Merleau-Ponty (1966: 7) plädiert Arendt ganz stark dafür, dass es kei­nen „inneren Menschen“ gibt. Unsere „Innerlichkeit“ vollzieht sich als ein Draußen-Sein (Rudolf Bernet [1998] hat in diesem Zusammenhang das treffende Bild eines von innen nach außen gestülpten Handschuhs verwendet). Die Möglichkeit, dass sich ein „Wer“ in diesem „Draußen-Sein“ zeigen kann, ist für Arendt nun deshalb in den Aktivitäten des Sprechens, Handelns und Urteilens gegeben, weil darin das Perspektive-Sein artikuliert wird. Und sie betont ausdrücklich, dass es sich in diesen Aktivitäten um ein Miteinander und nicht um ein Für- oder Gegeneinander handeln muss (VA 220). Damit also ein „Wer“ erscheint, brauche ich ein „Wir“ – zumindest das basale Wir einer geteilten Welt, über die man kommunizieren kann und sich dabei selbst zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne charakterisiert auch Heidegger (2002: 45, 47) das „logon echon“ in seinen Aristote­les-Vorlesungen nicht als eine Wesenseigenschaft einer bestimmten Spezies „zoon“, sondern als einen gemeinsamen Vollzug: als „Miteinandersprechendsein“. Dies verweist auf den intrinsischen Zusammenhang zwischen zoon logon echon und zoon politikon. Allein spricht man nicht. Und stets spricht man im Sprechen sich selbst mit aus.7

Ebenso ist das Handeln bei Arendt vom Erscheinungsraum und von den Anderen her gedacht. Es ist sicherlich richtig, Arendts Handlungsbegriff zunächst über Aristoteles zu verstehen. Handeln ist für Arendt – gut aristotelisch: praxis. Das heißt, es trägt sein Ziel in sich selbst (wie das von Aristoteles gewählte Beispiel des Kithara-Spielens). Es ist also weder poiesis (Herstellen, das sein Ziel außerhalb der Tätigkeit im Produkt hat: z.B. schustern, um Schuhe zu machen), noch techné (eine Technik) oder theoria. Eine erste Annäherung an Arendts Handlungsbegriff muss aber darüber hinaus genauso betonen, dass er aus einer Perspektive des offenen Wir auf das Handeln gewonnen wird. Es geht um das Handeln, wie es erscheint, nicht darum, was es intendiert. Dies kann, aber muss nicht zusammenfallen. Das soll nicht heißen, dass Arendt abstreiten würde, dass wir Ab­sichten, Ziele und Gründe beim Handeln haben. Aber sie will unsere Aufmerksamkeit von diesen klassischen internen Eigenschaften ablenken, da sie meint, dass dies nicht genug ist, um Handeln als Praxis zu charakterisieren: als etwas, das in seinem Vollzug Selbst­zweck ist. Für Arendt als Phänomenologin bedeutet dies zweierlei: Erstens, Vollzüge (im Englischen oft als „performance“ übersetzt) erscheinen in der Welt. Und zweitens, dies ist nur relevant, sofern es ein Erscheinen vor Anderen ist (Erscheinen als Sichtbarkeit, als Gesehen-Werden). Deshalb spricht Arendt auch von der „Bühne“ der Welt, auf der diese „performance“ stattfindet. Arendt macht die Anderen zu einem integralen Bestandteil des Handelns und des Handlungssinns, weil sie dem Erscheinen Rechnung trägt. Diese Kon­stellation impliziert aber auch Unverfügbarkeit, Unkontrollierbarkeit, Pluralisierung. Was in der Welt von meinen Handlungen, im Sinne von Geschichten, verbleibt, hat manchmal sehr wenig mit meinen Handlungsintentionen zu tun, wie wir wissen. Arendt gibt also die Erste-Person Perspektive nicht auf, aber sie integriert sie in die primäre Öffentlichkeit des Erscheinungsgeschehens. Deshalb habe ich von einem „offenen Wir“ gesprochen: Zu erscheinen heißt, vor anderen zu erscheinen, in einer Welt und in einem Kontext. Es gibt kein Erscheinen außerhalb des Kontexts. In diesem Sinne ist das Handeln eine Aktualisie­rung von Pluralität: Das Sich-Artikulieren einer Perspektive, des Perspektive-Seins, im Vollzug mit Anderen, im Erscheinungsraum.

Das Aufschluß-Geben darüber, Wer man ist, ist für Arendt ein zentrales Moment, das nur der Sichtbarkeits- und Erscheinungsraum der Öffentlichkeit leisten kann. Denn „nie­mand weiß, wen er eigentlich offenbart, wenn er im Sprechen und Handeln sich selbst un­willkürlich mitoffenbart“ (VA 220). Vielmehr ist der daimon, der einem über die Schulter blickt, für die anderen oft sichtbarer als für einen selbst. Arendt, wie wir gesehen haben, fasst Sprechen und Handeln also vielmehr als ein offenbarendes Weltgeschehen als über das, was damit intendiert wird. Stattdessen geht es um einen Überschuss im Sprechen und Handeln, der ganz unvermeidlich das Wer-einer-ist vernehmbar macht. Eine Hand­lung kann im Sinne meiner Intention ganz „danebengehen“, sie lässt mich dennoch er­scheinen. Selbst wenn wir uns ausschließlich objektiv auf Sachverhalte beziehen, er­scheint das persönliche Sagen des Gesagten (wie Levinas es formuliert) immer mit, wenn auch nicht in der Weise eines gegenständlichen Erscheinens. Dieser Überschuss des Mit­erscheinens des Sagens, das „Offenbaren“ der Person, wie es Arendt nennt, ist kein inten­tionaler Akt und deshalb gerade nicht in der Verfügung des sprechenden Subjekts. Gäbe es also nur ein „intentionales Ineinander“ (Husserl) der bewussten Akte, so wäre dies bloß die Sache derer, die betroffen sind. Was Arendt aber mit ihrem Erscheinungsraum „Welt“ konzipiert, ist eine Offenheit des Erscheinens, die meine Intentionen weit übertrifft. Es ist eine Sichtbarkeit, die über mich hinausgeht und so weit „strahlt“, wie sie gesehen wird. Der intersubjektive Erscheinungsraum ist daher ein anarchischer Raum, er liegt jenseits von Herrschaft und Kontrolle, weil das Erscheinen des Selbst schlichtweg nicht kontrolliert werden kann. Es ist ein Raum, in dem ich, negativ formuliert, ganz dem Unkontrollierbaren ausgeliefert bin und, positiv formuliert, sich überhaupt irgendetwas ereignen kann, das mich in die Welt verstrickt.

Für Arendt gibt es also keine intime Kenntnis des eigenen Selbst, zu der dann noch ein kontingentes Erscheinen vor anderen hinzukäme. Der/die, der/die man ist, zeigt sich nur im Umgang mit andern, im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Aus diesem Grund ist es auch ein Wagnis, an das Licht der Öffentlichkeit zu treten. Arendt spricht gar von einer „zweiten Geburt“, mit der wir uns handelnd und sprechend in die Welt der Menschen ein­schalten, „die existierte, bevor wir in sie geboren wurden“ (VA 215). Vor diesem „Licht“ der Öffentlichkeit allerdings muss es auch ein schützendes Dunkel geben, um die Integri­tät der Person zu bewahren. Wie wir diese Grenzen ziehen, wo wir sie ziehen und was wir damit erreichen wollen, kann und muss selbst noch einmal Gegenstand der Diskussion werden. Immerhin ändert durch die unterschiedlichen Physiognomien des privaten und des öffentlichen Raumes auch der jeweilige Gegenstand seine Erscheinungsart.

 

Ad (2) Zweites Zwischen: Koinonia, Welt, Sinn

Das Pluralitätsgeschehen erweist sich aber auf jeden Fall als Arendts Schlüsselfigur, da dadurch Welt im Sinne des „zweiten Zwischen“ entsteht, oder wie Arendt es auch nennt: das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“. Durch diesen Weltbegriff, welcher das Erscheinen in der Welt erst sinnhaft sein lässt (also: zu einer Welt verwebt) und wel­cher damit auch die Ding- oder Zeugwelt, die wir aus Heideggers Sein und Zeit kennen, orientiert, wird die Sinndimension von „Welt“ im klassischen phänomenologischen Sinn wesentlich erweitert.8 Dadurch kann eine ausgearbeitete Phänomenologie des Mitseins bzw. des weltlichen, intersubjektiven Erscheinungs- und Interaktionsgeschehens er­schlossen werden. Arendt versucht mit dem Begriff des „zweiten Zwischen“ die spezifi­sche Verfasstheit einer intersubjektiven Welt zu beschreiben, die durch die Interaktion entsteht: Was im Sprechen und Handeln – oder besser: im Einander-Ansprechen und Miteinander-Handeln entsteht, ist nichts wiederum gegenständlich Greifbares, sondern der intersubjektive Bezug selbst.

Dass das intersubjektive Zwischen ein „zweites“ ist, soll nicht seine Nach- oder Zweit­rangigkeit anzeigen: Vielmehr trägt es der phänomenologischen Einsicht Rechnung, dass die Interaktion schon in einer Welt stattfindet und sich dabei auf Welthaftes (im „ersten“ Sinn) bezieht. Umgekehrt wiederum ist der objektive, gegenständliche Zwischenraum nach Arendts Diktion von dem zweiten Zwischen immer schon „durchwachsen“ oder „überwuchert“, d.h. er wird durch die Sinndimension des „zweiten Zwischen“ apperzipiert und verstanden.

Durch die plurale Bezugnahme auf eine gemeinsame Welt wird also ein Netz von Bezie­hungen erzeugt, eine echte koinonia (Gemeinschaft durch Teilhabe): Auch wenn man sich uneinig ist, man bezieht sich auf ein Gemeinsames. Gleichzeitig gewinnt man die Mög­lichkeit, auf Basis eines übereinstimmenden oder ähnlichen „Geschmacksurteils“,9 Freundschaften und Gruppen zu bilden, die in einem anderen Grund wurzeln als in dem, bloß „verwandt“ oder am selben Ort geboren zu sein – nämlich in der Freiheit und Entfal­tung der eigenen Urteilskraft (Kant). Das wie von selbst entstehende „Produkt“ dieses Handelns, Sprechens und Urteilens sind Geschichten, Deutungen: Sinn.

 

Ad (3) Die Kontingenz und Zerbrechlichkeit der Aktualisierung von Pluralität

Ist dieses Erscheinen des „Wer“ im Sprechen und Handeln aber nun purer Selbstzweck im Sinne eines eitlen und leeren l’art pour l’art? Für Arendt keineswegs. Im Gegenteil: Nur in diesem zweckfreien Raum und nutzlosen (= nicht auf „um zu“ angelegten) gemein­samen Vollzug des Erscheinens und Gesehen-Werdens, des Sich-ins-Offene-Wagens, ist eine Sinnerfahrung als sterbliches Individuum möglich, die sich weder im todlosen Kreis­lauf des Gattungslebens noch im Aufgespannt-Sein in eine endlose Zweckreihe verliert. Und nicht nur Sinn, sondern auch Würde kann nur hier bewahrt werden: „Ohne diese Ei­genschaft, über das Wer der Person mit Aufschluß zu geben, wird das Handeln zu einer Art Leistung wie andere gegenstandsgebundene Leistungen auch. Es kann dann in der Tat einfach Mittel zum Zweck werden.“ (VA 221) Die „namenlosen Soldaten“ sind z.B. ein Paradigma eines Handelns in der Anonymität, von dem man keine Geschichte erzählen kann, „was ihrer Leistung zwar keinen Abbruch tat, was sie aber als Handelnde ihrer Menschenwürde beraubte“ (VA 222). Wo das Wer nicht miterscheint, ist unser Sprechen reduziert auf „bloßes Gerede“ (VA 221) und wir auf Leistungsträger, die mehr denn je er­setzbar und damit der Sinnlosigkeit und Vergessenheit preisgegeben sind: ein Niemand, der keine Geschichte hat.

Schließlich ist die bereits erwähnte „Zerbrechlichkeit“ des Bezugsgewebes anzuführen, die ein wichtiges, auch ethisch-politisch relevantes Moment in Arendts Konzeption dar­stellt (also keine normativen Grundlagen im Habermas’schen Sinn, wie sie Benhabib ein­fordert, aber einen ethischen Anspruchscharakter im Pluralitätsgeschehen). Wie bereits ausgeführt, sind es Handeln und Sprechen, die das zweite Zwischen qua Bezugssystem hervorbringen und durch ihren fortgesetzten Vollzug im Sein halten. Hier verbindet Arendt ihre phänomenologische Analyse mit ihrer politischen, wodurch ihre Begriffe manchmal in nicht einfacher Weise zwischen politischen und phänomenologischen Kate­gorien oszillieren: Gerade in der Gegenwart der totalökonomisierten Konsumgesellschaft fürchtet sie um ein Schwinden des Vollzugs von Pluralität (nachdem er von totalitären Regimen bewusst unterdrückt wurde). Dieser allein aber kann – auch in politischen Kate­gorien gesprochen – Öffentlichkeit erzeugen. Der Raum einer kritischen Öffentlich­keit ist damit nicht nur gefährdet, „es handelt sich vielmehr [in der Massengesellschaft] darum, daß in ihr die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden.“ (VA 66) Man kann sehen, wie politische und phänomenologische Ar­gumentation hier ständig ineinandergreifen. Auch Arendts Ausführungen zum Wirklich­keitsbegriff in diesem Zusammenhang zeigen, wie sehr sie diesen phänomenologisch ver­steht, d.h. ihn ganz radikal vom intersubjektiven Erscheinen her denkt:

So ist Realität unter den Bedingungen einer gemeinsamen Welt nicht durch eine allen Menschen gemeinsame ‚Natur’ garantiert, sondern ergibt sich vielmehr daraus, daß unge­achtet aller Unterschiede der Position und der daraus resultierenden Vielfalt der Aspekte es doch offenkundig ist, daß alle mit demselben Gegenstand befaßt sind. Wenn diese Sel­bigkeit der Gegenstände sich auflöst und nicht mehr wahrnehmbar ist, so wird keine Gleichheit der ‚Menschennatur’, und sicher nicht der künstliche Konformismus einer Massengesellschaft, verhindern können, daß die gemeinsame Welt selbst in Stücke geht; dieser Zusammenbruch vollzieht sich vielmehr zumeist gerade in der Zerstörung der Viel­fältigkeit, in der dasselbe sich inmitten der menschlichen Pluralität als ein Selbiges zeigt und hält. (VA 71f.)

Pluralität meint also, phänomenologisch expliziert: die Vielfalt der irreduziblen Per­spektiven auf eine gemeinsame Welt (einen gemeinsamen Gegenstand) als interagieren­de Artikulation und als Sichtbarwerden dieses je eigenen Perspektive-Seins und damit gleichzeitig als ständige Herstellung und Erhaltung einer gemeinsamen Welt (im Sinne des „zweiten Zwischen“). Dieses Bezugssystem konstituiert in mindestens ebensolcher Gewichtigkeit unsere Realität wie die gegenständliche Welt und wie die Bedingungsstruk­turen unserer Existenz.

Dass die Herausarbeitung dieser grundlegenden Struktur weit über „Pluralität“ im Sin­ne von herkömmlichem politischem „Pluralismus“ hinausgeht, sollte deutlich geworden sein; dass Arendt das Mensch-Sein von Bedingungsstrukturen her denkt, die sich nur über ihren erscheinungshaften Vollzug in der Welt bestimmen lassen, ebenso. Man kann das Pluralitätsgeschehen aber schließlich auch in Thesen formulieren, die nicht nur The­mengebiete der politischen Theorie, sondern auch der sozialen Ontologie anschneiden, sowie Diskussionen zum Selbst und zu personaler Identität:

1. These des Selbsterscheinens-im-Miteinander: Wer man ist, erscheint und entwickelt sich nur im Miteinandersein mit anderen.

2. These des „an-archischen“ Erscheinens: Was erscheint ist nicht kontrollierbar und kann, aber muss nicht mit dem Intendierten zusammenfallen. Es kann sich anderen deut­licher zeigen als mir selbst.

3. These des Entzugs: Das Erscheinen des Wer ist gleichzeitig ein Entzug in Hinblick auf propositionale und narrative Sprache.

4. Narrativitätsthese: Dennoch lassen das Sprechen und Handeln etwas zurück, das in eine Geschichte verwoben werden kann. Sprechen und Handeln „erzeugen“ Geschichten.

5. Die These des zweiten Zwischen: Das Erscheinen des „Wer“ benötigt und erhält ei­nen Erscheinungsraum. Das Medium seines Erscheinens ist ein intersubjektives Bezugs­gewebe.

6. Die Zweck-in-sich-Selbst und Wirklichkeitsthese: Das Erscheinen des „Wer“ im Mit­einandersein mit anderen wird als in sich sinnvoll erfahren und konstituiert Wirklichkeit, die immer nur geteilte Wirklichkeit sein kann.

In einer abschließenden Bemerkung zu diesem Abschnitt möchte ich noch in Erinne­rung rufen, dass Arendts Plädoyer für Pluralität bei aller philosophischen Tiefe, die ich versucht habe aufzuzeigen, einen ganz konkreten Hintergrund hat. Dieser liegt freilich nicht nur in Arendts genereller Kritik an der modernen (und postmodernen) Konsumge­sellschaft, sondern in der Erfahrung des Totalitarismus als Vernichtung jeglicher Plurali­tät und, ganz konkret, in Arendts Erfahrung, Flüchtling und Staatenlose zu sein. Die Rede von Wirklichkeitskonstitution durch Pluralität und Wirklichkeitsverlust bei ihrem Weg­fallen reicht bei Arendt daher weit über eine Konstitutionstheorie oder Ähnliches hinaus. Die Erfahrung, überflüssig gemacht zu werden und keinen Platz zu haben, geht vielmehr in existenzieller Weise einher damit, dass die Welt „unwirklich“ wird und endet damit, dass man in den isolierten Zustand der „Weltlosigkeit“ gerät: keinen Platz in der Welt zu haben und damit weltlos zu sein heißt, keinen Platz in einem Bezugsgewebe zu haben, in dem mein Sprechen und Handeln Relevanz hat. Diese Erfahrung, dass ich durch den Ver­lust meines Platzes, meiner Stimme, ja meiner Geschichte, de facto „niemand“ bin, ist ganz wesentlich für Arendts theoretische Konzeption, dass man „jemand“ nur im Vollzug von Pluralität in einem Erscheinungsraum sein kann.

3. Ethik der Pluralität

Pluralität zu aktualisieren heißt jedoch nicht, per se moralisch zu sein oder zu handeln. Eher gibt es eine gewisse Spannung zwischen der Logik der Pluralität und der Natur mo­ralischer Prinzipien. Deshalb möchte ich in diesem letzten Abschnitt eher von einer „Ethik der Pluralität“ bei Arendt sprechen. Arendt ist bekanntermaßen keine Moralphilo­sophin und steht moralischen Begründungen skeptisch gegenüber. Ihr Projekt ist viel­mehr „aus den Sachen selbst“, d.h. aus dem Pluralitätsgeschehen selbst heraus die Heil­mittel für dessen Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten zu finden. Dieser Ansatz hat ihre politische Theorie zwei Vorwürfen ausgesetzt: erstens, dass ihr die „moral foundati­ons“ abgehen würden (ein typischer Kritikpunkt der Kantianer der Kritischen Theorie: Benhabib, Wellmer, Habermas). Und zweitens, dass sie eine Ästhetisierung der Politik betreiben würde. Darüber hinaus gibt es Vorwürfe, die in ihrer härtesten Variante unge­fähr so lauten: Wenn es beim Handeln nur das Kriterium der „Größe“ gebe, dann werde aus dem Politischen ein unverantwortliches Spiel von “posturing little boys clamoring for attention” (Pitkin 1981: 338), das die brennendsten politischen und moralischen Fragen noch nicht einmal berühren und schon gar nicht lösen könne.

Ich möchte bezüglich dieser Debatte vorschlagen, Arendt etwas anders zu lesen, näm­lich wieder mithilfe einer phänomenologischen Betrachtungsweise – anstatt ihr einen fehlenden oder nicht ausreichenden Kantianismus vorzuwerfen, der Richtung Diskusethik führen würde. Ein phänomenologischer Ansatz kann vergleichsweise zeigen, dass man Arendt nicht mit moralischen Prinzipien zu Hilfe kommen und so den politischen Raum ordnen und zähmen muss. Stattdessen wird sichtbar, dass es in der Aktualisierung von Pluralität selbst ethische Momente gibt, die ihr inhärent sind.  

3.1 Intrinsische Ethik der Pluralität

Aktualisierte Pluralität hat ihre eigene „Logik“, die eine gewisse „Ethik“ (er)fordert. Ich nenne diese Ansprüche und Implikationen auch deshalb „ethisch“ (und nicht „moralisch“), weil sie nicht unter die klassische Kategorie normativer oder moralischer Prinzipien fallen, die z.B. Rechtfertigungspraktiken entnommen sind. Eher sind sie als proto-normativ zu bezeichnen, insofern sie das Sinnfeld konstituieren, wo diese normati­ven Rechtfertigungsprozeduren erst einhaken und Sinn und Relevanz bekommen können – wodurch also ein Argument erst „zählt“. Politische Freiheit, Vertrauen, gelebte Gemein­schaftlichkeit, Debattengemeinschaft als Zweck an sich selbst müssen zuerst erfahren werden, bevor sie in moralischen Argumenten stark gemacht werden können. Und um die Beschreibung und Verwirklichungsbedingungen dieser Erfahrungen geht es Arendt.

Darüber hinaus zeigt sie auf, welche Selbstbeschränkungen und welche Art von Schutz notwendig sind, damit das Pluralitätsgeschehen seine Integrität bewahren kann und nicht in etwas anderes umschlägt.  Wir haben gesehen, dass Arendt betont, dass Pluralität nur dann aktualisiert wird, wenn irreduzible „Wers“ im Modus des „Wir“ (auch des Aufeinan­dertreffens als „Wir“) erscheinen. Das ontologische Urfaktum der Pluralität lässt sich also nicht einfach in irgendwelchen Kollektivitätsformen verwirklichen, sondern verlangt nach ganz spezifischen Formen. Ein „Wir“, das seine Beteiligten zu einer Masse ver­schmelzen lässt, wird z.B. nicht in Frage kommen, auch kein passives Staatsvolk, das eine „Gesamtperson“ bildet. Arendt bezeichnet Formen, in denen das individuelle „Wer“ ver­flacht oder verschluckt wird, etwas provokativ, sogar als „unpolitisch“ oder „antipolitisch“. Sie ist also definitiv keine neutrale Beschreiberin kollektiver Formen. In diesem Sinne möchte ich behaupten, dass Arendt eine essentiell demokratische Form des „Wir“ konzipiert. Diese ist agonistisch, aber nicht antagonistisch10 zu verstehen, und sie hat intrinsisch ethischen Charakter. Mit ihrem Begriff des Politischen als Aktualisierung von Pluralität erarbeitet sie sich so etwas wie ein proto-normatives Instrumentarium, das aus der Sinn-, Selbstzweck-, und Freiheitserfahrung von Pluralität bzw. aus deren Entzug und Abwesenheit Kritierien für das „Wir“ entwickelt.

Es ist daher wichtig zu sehen, dass das Gelingen, die Artikulation von Pluralität inhä­rente Erfolgsbedingungen hat, die m.E. ethischer Art sind. Ohne selbst eine moralische Handlung zu sein, ist die Aktualisierung von Pluralität ein positives Phänomen, das kolla­biert oder das zerstört wird, wenn seine bedingenden Elemente unterdrückt werden und einander nicht mehr wechselseitig befördern. Ein authentisches „Wir“ darf die plura­len „Iche“ nicht verschlucken – d.h. es muss prinzipiell sensitiv für Alterität sein, es muss offen bleiben. Umgekehrt darf das Erscheinen des „Wer“ nicht die Beziehungen zu ande­ren „Wers“ verunmöglichen. Darüber hinaus ist jeder Beteiligte im Pluralitätsgeschehen ethisch aufgefordert, zu versprechen, zu verzeihen, zu vertrauen und damit das Wir zu stärken. Sich wie ein „posturing little boy“ aufzuführen, wird nicht dazu führen, dass gute Bedingungen für die Aktualisierung von Pluralität vorhanden sein werden. Das ist es um­gekehrt auch, was Arendt mit „care for the world“ meint: Es ist immer die Sorge um ein bestimmtes Wir, das unserer gemeinsamen Welt und unseren Handlungen korreliert. Da­für muss es nicht „eine“ Wahrheit geben, auch nicht einheitliche Standards, aber zumin­dest den Willen, auch in einem radikalen Gegeneinander den Anderen nicht zu vernich­ten, sondern die Debatte, das Handeln, die Welt als kontroversiellen, aber geteilten Ort aufrecht zu erhalten.

3.2 Leben, Wahrheit, Vernunft vs. Pluralität

Drei paradigmatische Bereiche, die mit der Logik der Pluralität in einem spannungsge­ladenen Verhältnis stehen und auch oft für Kritik an Arendts politischem Denken gesorgt haben, sind Leben, Wahrheit und praktische Vernunft. Ich möchte am Ende dieses Auf­satzes kurz auf diese Spannungen eingehen, von denen ich glaube, dass sie keine bloßen Oppositionen sind. Vielmehr rufen sie uns auf, zu berücksichtigen, dass Pluralität ein fragiles Phänomen ist, das leicht von anderen „Logiken“ übertrumpft wird. Insofern gilt es, die Verantwortung für den Pluralitätsvollzug nicht gegen, sondern im Lichte der not­wendigen Bedürfnisse und Forderungen von Leben, Wahrheit und Vernunft zu überneh­men.

Leben und Pluralität

Politics is not about “the maintenance of life” and “the safeguarding of its interests” (Arendt 1983: 155): “[I]n politics not life but the world is at stake” (Arendt 1983: 156).

In der Politik geht es um die Welt, nicht um das Leben. Mit Zitaten wie diesen und Bü­chern wie On Revolution (Arendt 1963) hat sich Arendt den eher berüchtigten Ruf erwor­ben, die „soziale Frage“ nicht nur für nicht relevant zu halten, sondern sogar für schädlich in Bezug auf die Verwirklichung von Pluralität. Damit hat sie unmittelbar den Eindruck erweckt, ihre Konzeption des Politischen sei nur etwas für die Elite, und ignoriere die wichtigste politische und moralische Frage: die nach Erfüllung der Grundbedürfnisse des Lebens und nach ökonomisch gerechter Verteilung. AutorInnen, die Arendt verteidigen wollen (Benhabib, Marchart), betonen, dass es sich bei der Zurückweisung des Sozialen weniger um Inhalte als um Einstellungen handle. Die Frage ist also: verfolge ich die sozia­le Frage mit Blick auf die Erhaltung von Pluralität (partizipativ), oder wird der Slogan „there is no alternative“ dazu benutzt, Menschen durch ökonomische Notwendigkeiten stillzuhalten und zu entpolitisieren.

Diese Differenzierung scheint mir wichtig und notwendig. Ich möchte noch einen zwei­ten Punkt hinzufügen, der auch in den menschenrechtlichen Forschungsbeiträgen von Peg Birmingham (2006) und Serena Parekh (2008) betont wird: Es ist nicht so, als ob wir uns vom Leben qua Leiblichkeit und Vulnerabilität schlichtweg distanzieren könnten. Die „menschliche Bedingtheit“ stratifiziert, phänomenologisch gesprochen, keine bestimmten sozialen Schichten, sondern verläuft durch uns alle. In diesem Sinn möchte ich Arendt eher als eine inklusive Theoretikerin von Leiblichkeit und Vulnerabilität lesen, die sich sehr wohl darüber im Klaren ist, dass der Vollzug von Pluralität schon eine Menge vor­aussetzt. Weder findet er jenseits unserer Leiblichkeit noch unserer Weltbezogenheit statt. In diesem Sinn gehören soziale Anliegen auf jeden Fall zu den ethischen Forderun­gen für einen politischen Pluralitätsraum hinzu. Was Arendt aber befürchtet, ist, dass die­se Anliegen jedes Mal den Trumpf davontragen, wenn es darum geht, Pluralität umwillen der Lebensbedürfnisse (Wohlstand, Sicherheit, etc.) einzuschränken. „Das Soziale/Gesell­schaftliche“, so Arendt, ist der Ort, wo wir rechnen können und rechnen müssen. Aber es ist deshalb auch der Raum, wo wir letztendlich immer einem Kosten-Nutzen-Zweckratio­nalitätsmodell verfallen werden. Denn Lebensbedürfnisse ernst zu nehmen und an die erste Stelle zu stellen heißt ja nicht, dass man sie nicht optimieren, rationalisieren, kalku­lieren kann.

Besonders das Auftreten von „Massen“ befördert diese Logik. Alles, was Individualität und Pluralität betrifft, erscheint hier schnell nur noch wie ein realitätsferner Luxus. Das Individuum spielt in diesem großen, globalen Gattungsleben kaum mehr eine Rolle. Es ist diesbezüglich beinahe schon redundant, auf das gegenwärtig vielgebrauchte Vokabular von „Fluten“, „Kräften“ und „Prozessen“ hinzuweisen, die alle, selbst anonym, unver­meidlich über uns hinwegrollen. Quasi-totalitäre Maßnahmen bieten sich förmlich an, um die Probleme „in den Griff“ zu bekommen. Arendt hat eine deutliche Warnung ausgespro­chen, dass eine solche Perspektive schneller als alles andere Pluralität, Natalität, Freiheit, Individualität vernichtet. Leben kann, auf das bloße „Überleben“ reduziert, sehr schnell „überflüssig“ gemacht werden. Aus diesen Gründen sollten wir die Sorge um basale Le­bensbedürfnisse und Pluralität nicht gegeneinander arbeiten lassen. Eher geht es darum, die Vulnerabilität des individuellen Lebens in den Mittelpunkt zu stellen.11 Zu diesem in­dividuellen Leben gehört notwendig die Entfaltung in einer Pluralität, in einem intersub­jektiven Kontext. Ohne diese konkreten Erfahrungen des Sprechens, Handelns, Urteilens vor und mit anderen (und alles was dazugehört) haben wir auch keinen Blick mehr für die größeren ethischen Probleme. Und können keinen „Sinn“ entwickeln für die Relevanz von Individualität in Pluralität, gegen eine Logik, die in Massen denkt und immer tendenziell monströs und entfremdend wird. Wir brauchen also diese Erfahrungen, die wir nur in ak­tualisierter Pluralität machen können, in direkten Kontakten. Die ethische Relevanz von aktualisierter Pluralität ist, dass sie einen Platz bereit und offen hält. Deshalb betont Arendt auch, dass es in der Politik um „Welt“ und nicht „Leben“ geht. „Welt“ ist für sie ein ethisch anspruchsvolles und das Leben umfangendes und verortendes Konzept. Doch die­se Welt muss immer intendiert werden, damit sie erhalten bleibt. Sie kann stets zusam­menbrechen. Aus diesem Grund ist das wechselseitige Spannungsverhältnis eine ethisch-politisch zu übernehmende Verantwortung: Die Logik der Lebensbedürfnisse bleibt nur integer im Raum der Pluralität. Die Logik der Pluralität baut auf individuellem und vulnerablen Leben auf, das sie auch nicht „loswird“.

Wahrheit und Pluralität

Eine weitere Herausforderung für die Konjunktion „Ethik und Pluralität“ ist das Thema „Wahrheit“. Um die Spannung in aller Kürze zu benennen: Wo Wahrheit ist, kann keine Pluralität sein, weil Wahrheit eine und eindeutig ist. Wo Pluralität ist, wird jede Wahrheit zur Meinung degradiert, jede episteme zur doxa. Man könnte von einer wechselseitigen Deformation sprechen, die wieder wechselseitige Limits impliziert: Eine Aktivität wie „truthtelling“ (parrhesia: die Wahrheit sprechen) wird gemeinsam mit ihrem Subjekt in der Arena der vielen deformiert; umgekehrt wird der Pluralitätsraum durch die zwingen­de Kraft der Wahrheit bedroht, sich zu vereinheitlichen und damit sich zu deformieren.

Wie beim Verhältnis zum Leben halte ich den tatsächlichen Bezug von Pluralität und Wahrheit für komplexer. Eine Macht, die auf Lügen aufbaut, kann den Anhalt in der Rea­lität nicht auf die gleiche Weise sichern, wie das die schlichte Wahrheit tut. Auf der ande­ren Seite sind unser Wahrheitsbezug und Wahrheitsstreben nicht die einzigen Beziehun­gen, die wir zur Welt unterhalten. Sie können zum Beispiel nicht die Freiheiten des reflek­tierenden Urteilens ersetzen, in denen wir uns zu Wahrheiten verhalten. Dies hat Arendt bekanntermaßen in dem Aufsatz „Wahrheit und Politik“ (Arendt 2013; vgl. auch Arendt 1983) ausgeführt, auf den ich hier nur kurz anspielen kann. Lügen, welches Tatsachen­wahrheiten aus der Welt schaffen kann als wären sie nie dagewesen, ist für Arendt eine klare Form des Handelns. (Daran ist ganz gut zu ersehen, dass Handeln ganz und gar nicht intrinsisch moralisch ist.) Aber auch hier baut Arendt sozusagen wieder eine Be­schränkung ein, die aus dem Handeln selbst kommt, und nicht aus einem moralischen Prinzip wie „Du sollst nicht lügen“. Stattdessen argumentiert sie, dass diese Fähigkeit sich gegen sich selbst wendet, wenn sie systematisch verwendet wird. Denn sie zerstört nach­haltig unseren Sinn, mit dem wir uns auf die Welt beziehen, und führt die Kategorie wahr/falsch ad absurdum – wie übrigens der paradoxe Ausdruck „alternative facts“ schön zeigt. Das Handeln als ein Vermögen, das sich auf Zukünftiges richtet, also auf das, was tatsächlich offen ist, wird auf fatale Weise missbraucht, sobald man damit Vergangenes manipulieren will (Arendt 2013: 84). Man kann die Welt mit systematischen Lügen defor­mieren. Aber der Preis ist, dass man seinen Fuß in der Realität verliert. Aus diesem Grund plädiert Arendt für folgendes Verhältnis zwischen Wahrheit und Pluralität: „Tatsa­chen sind der Gegenstand von Meinungen, und Meinungen können sehr verschiedenen Interessen und Leidenschaften entstammen, weit voneinander abweichen und doch alle noch legitim sein, solange sie die Integrität der Tatbestände, auf die sie sich beziehen, re­spektieren.“ (Arendt 2013: 57f.) Das ist auch der Prüfstein ihrer Legitimität. Das positive Verhältnis von Wahrheit und Pluralität beschreibt sie so: Vernunftwahrheiten erhellen menschliches Verstehen und Tatsachenwahrheiten müssen die Grundlage von Meinun­gen sein. Damit das möglich ist, muss es auch einen „disinterested pursuit of truth” ge­ben. Arendt hat also keinerlei Problem mit „Wahrheit“ in diesem Sinn. Ihr Bedenken gilt nur den Situationen, wo jemand mit Wahrheitsansprüchen auftritt, die die Diskussion ein für allemal beenden sollen.

Praktische Vernunft und Pluralität

Schließlich kommen auch die Anforderungen praktischer Rationalität mit Pluralität in Konflikt: Denn moralische Forderungen sind (meist) kategorisch und können durch plu­rale Perspektiven nicht relativiert werden. Das hat Arendt öfter den Vorwurf eingetragen, sie denke Vernunft nicht kommunikativ, wie Habermas dies tut. Vielmehr denkt sie aber, so würde ich erwidern wollen, Kommunikation nicht nur vernünftig, sondern auch vom Erscheinen her; und vor allem denkt sie den politischen Raum nicht unter diesem Para­digma. Eine „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ muss für Arendt also nicht „kontra­faktisch antizipiert“ (Apel) werden. Vielmehr sieht sie das Problem darin, dass es dem po­litischen Raum von vornherein nicht angemessen ist, ihn in Termini der vollkommenen Rechtfertigung und Rationalität zu denken.

Denn der „Zwangs des besseren Arguments“, der die vielen doxai in eine episteme überführen soll, wirkt immer latent pluralitätsvernichtend, harmonisierend, die politische Debatte beendend. Darüber hinaus gibt es in politisch strittigen Fragen eben oft nicht das eindeutig bessere, zwingende Argument, sondern verschiedene Perspektiven auf dieselbe Sache, mehr oder weniger abgewogene Urteile und Positionierungen. Es ist bei diesen ganzen Überlegungen immer wieder wichtig zu verstehen, dass es Arendt primär darum geht, dass die Debatte aufrecht bleibt, andauert – und dass sie diesem Geschehen auch philosophisch auf der Spur ist. Sie sieht darin den echten Kommunikationsmodus der Pluralität, der nur „ansinnen“ und überzeugen, aber nicht zwingen kann. Aus diesem Grund zieht sie auch Kants dritte Kritik seiner zweiten ganz klar vor, und den Modus des „reflektierenden Urteils“ dem des bestimmenden. Will heißen: Arendt geht es keineswegs darum, einem Irrationalismus das Wort zu reden; und auch nicht darum, Moral oder Normativität abzulehnen. Vielmehr legt sie das Augenmerk darauf, dass jede normative Begründung letztendlich in einen Diskussionsraum eintreten muss, der nicht eine philo­sophische Veranstaltung normativer Argumentation ist, sondern ein Voreinander-Er­scheinen in einem Bezugsgewebe. Gleichzeitig versucht sie, mit dem Pluralitätsgeschehen eine Erfahrung zu beschreiben, die in sich wertvoll ist, also sehr wohl ethische und nor­mative Ansprüche in sich birgt. Aber Arendt geht es eher darum, mit ihren Beschreibun­gen werthafte Erfahrungen sehen zu lassen und unsere Verantwortlichkeit dafür zu mobi­lisieren, als Prinzipien zu begründen und Rechtfertigungen daraus abzuleiten. Darin be­steht freilich ein methodischer Grundunterschied zu klassischen normativen Begrün­dungsdiskursen.

Schließlich gibt es noch ein letztes Argument, warum Pluralität nicht bloß eine relativis­tische Alternative auf derselben Ebene wie „absolute“ oder „gerechtfertigte“ Wahrheit ist: Praktische Vernunft und Wahrheit benötigen Sinn und Kommunikation, und zwar vor und jenseits des Aufkommens von Rechtfertigungen. Diese sind quasi immer schon in Sinn und Kommunikation eingebettet. „Wer es unternimmt zu sagen, was ist – legei ta eonta –, kann nicht umhin, eine Geschichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlie­ren die Fakten bereits ihre ursprüngliche Beliebigkeit und erlangen eine Bedeutung, die menschlich sinnvoll ist.“ (Arendt 2013: 89) Rechtfertigungsstrukturen können nur entste­hen, wenn eine solche Verständlichkeit und Greifbarkeit über Narrative zuerst etabliert wird. Und sie können sich nur erhalten und weiter plausibel bleiben, wenn sie in verschie­denen Interpretationen und Narrativen auch „Sinn machen“. Deshalb meint Arendt, dass für Menschen, in Gemeinschaft lebend, der unerschöpfliche Reichtum menschlicher Kommunikation unendlich bedeutungsvoller und sinnvoller ist, als je die „eine Wahrheit“ sein könnte. Ich lese dies nicht als eine oppositionelle Dichotomie, son­dern als einen Indikator für einen Überschuss, der durch „Wahrheit“ allein einfach nicht bereitgestellt werden kann. So wie im Fall der dringlichen Lebensbedürfnisse entsteht durch die Aktualisierung von Pluralität eine neue Dimension über diese einfachen, einli­nigen Weltbezüge (wie Bedürfnis und Wahrheit) hinaus, die uns Freiheit, Sinn und ein Sich-Verhalten-zu vermittelt, das eben divers, plural und individuell ist. Dieser entstehen­de Überschuss ist und bleibt aber auch auf das ihm zugrunde Liegende angewiesen. Des­halb müssen Vernunft und Wahrheit – ebenso wie die Lebensbedürfnisse – im Plurali­tätsraum vor Deformationen bewahrt und in ihrer Rolle zur Ermöglichung des Plurali­tätsgeschehens respektiert werden. Die vermeintlichen Oppositionen sind also wechsel­seitig bedingend für ein Gelingen von Pluralität. Sich frei, reflektiert urteilend, zur Welt zu verhalten ist kein Gegensatz zur Wahrheit, sondern findet auf Basis von rationaler und faktischer Wahrheit statt.

Literatur

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Arendt, Hannah 1998. The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press.

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Birmingham, Peg 2006. Hannah Arendt and Human Rights: The Predicament of Common Responsibility. Bloomington: Indiana UP.

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Levinas, Emmanuel 1998. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. München: Alber.

Loidolt, Sophie 2012. „Hannah Arendt und die conditio humana der Pluralität.“

In: Esterbauer, Reinhold, Ross, Martin (Hg.): Den Menschen im Blick. Phänomenolo­gische Zugänge. Würzburg: Königshausen & Neumann, 375–398.

Loidolt, Sophie 2017. Phenomenology of Plurality. Hannah Arendt on Political

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Parekh, Serena 2008. Hannah Arendt and the Challenge of Modernity: A Phe­nomenology of         Human Rights. New York/London: Routledge.

Pitkin, Hannah F. 1981. „Justice: On relating private and public.” In: Political Theory 9(3), 327–352.

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Wellmer, Albrecht 1996. „Hannah Arendt on Judgment: The Unwritten Doctrine of Reason.” In: May, Larry and Kohn, Jerome (Hg.): Hannah Arendt. Twenty Years Later.

Cambridge, MA: MIT Press, 33-52.

 

*Sophie Loidolt ist Professorin am Philosophieinstitut der TU Darmstadt und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

1 Diesen breiteren Ansatz habe ich in dem Buch Phenomenology of Plurality. Hannah Arendt on Political Intersubjectivity (Loidolt 2017) entwickelt, das im September 2017 erschienen ist.

2 Oliver Marcharts (2007: 38) Ausführungen zur „politischen Differenz“ (zwischen „der Politik“ und „dem Politischen“) und seine aufschlussreiche Unterscheidung zwischen einem „assoziativen“ Begriff des Politischen bei Arendt und einem dissoziativen Begriff des Politischen bei Carl Schmitt (Freund-Feind-Unterscheidung) legt die zwei grundlegenden Varianten dieses Diskurses dar.

3 Als Ausnahmen möchte ich die Arbeiten von Veronica Vasterling, Marieke Borren und James Mensch erwähnen.

4 Diese prägnante Beschreibung meines Projekts verdanke ich Oliver Marchart.

5 Einige der folgenden Gedanken habe ich bereits in dem Aufsatz „Hannah Arendt und die conditio humana der Pluralität“ (Loidolt 2012) entwickelt und greife hier darauf zurück.

6 Ich plädiere ich dafür, Arendts oft rätselhafte Rede von Grundbedingungen, die Grundtätigkeiten korrelieren, über Heideggers Existenzialen als einen quasi-transzendentalen Ansatz zu verstehen und greife dabei auf Martin Braun (1994) zurück. Meines Erachtens handelt es sich beim Zusammenhang von Grundbedingung und Grundtätigkeit um eine Vollzugsidentität: die Grundbedingung des Lebens etwa vollzieht sich nicht vor, neben oder hinter der Tätigkeit des Arbeitens, sondern in ihr und als sie (vgl. Loidolt 2017, Chapter 3).

7 Diese Differenz zwischen dem Inhalt unserer Äußerungen und dem Selbsterscheinen im Sprechen, das stets Entzugsmomente hat, hat Levinas (1998: 29, 67) ebenso aufgegriffen und mit dem Unterschied zwischen dem „Sagen“ und dem „Gesagten“ bezeichnet.

8 Der Weltbegriff bei Arendt ist komplex und hat mindestens drei Ebenen, die ineinandergreifen: zunächst ist „Welt“ der basale Erscheinungsraum, in den wir durch Geburt eintreten und durch Tod wieder verschwinden. In-der-Welt-sein bedeutet aber sowohl, auf Gegenständliches bezogen zu sein (die Bedingung der „Weltlichkeit“), als auch immer schon in das Bezugsgewebe einer intersubjektiven Welt eingelassen zu sein, in der ein politischer Raum als „zweites Zwischen“ beim Handeln und Sprechen entsteht (vgl. Loidolt 2017, Chapter 2.3).

9 Damit sei nicht gemeint, dass man sich je nach Geschmack aussuchen könne, in welcher Wirklichkeit man lebt. Vielmehr hält Arendt politische Urteile deswegen dem Typus der „reflektierenden Urteile“ (Kant) zugehörig, weil man sich darin auf Situationen, Sachverhalte, Gegebenheiten bezieht und sich zu ihnen verhält (anstatt bloß „Fakten“ festzustellen). Die Qualität der Herausbildung solcher politischen Urteile kann natürlich unterschiedlich ausfallen. Für Arendt ist auch hier das Kriterium der Pluralität entscheidend: wer sein Urteil so formt, dass er/sie dieses auch „an Stelle eines anderen“, d.h. in einer „erweiterten Denkungsart“ erprobt, erwirbt möglichst viele Perspektiven auf ein und dieselbe Sache (vgl. Arendt 1983, 241).

10 Damit spiele ich auf die radikale Demokratietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985) an, die entlang der Linien der Schmitt’schen Freund-Feind-Unterscheidung einen grundlegenden polemos oder Antagonismus im Herzen des Politischen bzw. des Sozialen (hier nicht unterschieden) verorten. Damit soll verhindert werden, dieses als monolithische Begründungsfigur zu verstehen. Zwar kann man mit Arendt diesem poststrukturalistischen Gestus im Sinne des Pluralitätsbegriffs einiges abgewinnen. Dennoch denke ich, dass es sich bei der Arendt’schen Pluralität nicht um eine Struktur, sondern die Pluralität von Subjektivitäten handelt (die keineswegs „souveräne Subjekte“ sind).

11 An dieser Stelle bietet es sich an, die Überlegungen Arendts mit denen Butlers (2012) in Verbindung zu bringen, die m.E. gar nicht so weit voneinander entfernt sind (wie Butler dies manchmal suggeriert).