header image

Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

Philosophie und Politik der Migration

 

Étienne Tassin

Für Miguel Abensour

 

Je mehr die Völker zivilisatorisch aufsteigen,

desto mehr sinken die Regierungen auf polizeiliches Niveau herab.1

 

 

Vorbemerkung der Redaktion

 

Wir veröffentlichen diesen Text nicht nur wegen seiner Aktualität und Brillanz, sondern auch in einem besonderen Gedenken an seinen Verfasser Étienne Tassin, der am 6. Janu­ar 2018 auf tragische Weise bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.

Tassin war Professor an der Université Paris VII - Diderot und unterrichtete politische Philosophie. Seine akademische Ausbildung führte ihn zu den Schriften von Jan Patocka, Maurice Merleau-Ponty, Simone Weil, Denis Diderot und Hannah Arendt, also zu Außen­seitern und Außenseiterinnen des europäischen Denkens, die zugleich die humanistische Tradition einer ambivalenten Aufklärung vertraten. Diderot erkannte diese Ambivalenz, und Tassin kommentierte sie in einer Neuausgabe von Le supplément au voyage de Bou­gainville et autres œuvres morales de Diderot (Agora, Presses Pocket, 1992). Tassin ge­hörte auch zu jenen ersten, die in den 1990er Jahren die Bedeutung des unabhängigen und spontanen politischen Handelns bei Arendt erkannten. Er beschrieb dieses Handeln in seinem profunden Werk Le trésor perdu. Hannah Arendt: l'intelligence de l'action politique (Payot, Paris, 1999) als einen verlorenen Schatz. Arendt inspirierte ihn zur Kritik eines liberalen Verständnisses von Politik (Kupiec in Critique de la politique: au­tour de Miguel Abensour hg. mit Anne Kupiec, Sens & Tonka, Paris, 2006), zur Kritik der Tradition der Nationalstaaten (Hannah Arendt. Crises de l’État-nation, pensées alterna­tives (hg. mit Martine Leibovici, Anne Kupiec und Géraldine Muhlmann, Paris, Sens & Tonka, 2008) und zur Erkenntnis, dass Politik nicht steuerbar ist (Le maléfice de la vie à plusieurs: la politique est-elle vouée à l'échec? Bayard, Montrouge, 2012). Diese Kritiken bestärkten ihn zur Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart und der Ent­wicklung eines Konzepts von Kosmopolitik (Un monde commun: pour une cosmo-politi­que des conflits, Seuil, Paris, 2003), das er auch in dem hier auf Deutsch veröffentlichten Text präsentiert.

Seine Kritik an der philosophischen Priorisierung der Theorie gegenüber der Praxis führte Tassin auch zu praktischem Engagement. Er war Mitglied der 1980 gegründeten „Jan Hus Educational Foundation“ zur Unterstützung tschechoslowakischer Kolleg/innen und arbeitete mit der Dramaturgin Camille Louis in der Schreibwerkstatt „La ‚Jungle’ et la ‚Ville’“ in Calais zusammen, deren Ziel die Kritik einer eurozentrierten Sichtweise und ein Perspektivwandel ist: Flüchtlinge werden aus Objekten zu Subjekten.

Wer Tassin kannte, war von seiner intelligence bienveillante, seiner wohlwollenden Klugheit, beeindruckt, wie Justine Lacroix in ihrem Nachruf in Le Monde schrieb (10.1.2018). Seine Großzügigkeit und Fürsorge für Studierende und Doktorand/innen war allseits bekannt - sie kamen aus der Tschechoslowakei, Haiti, afrikanischen und latein­amerikanischen Ländern - und ebenso seine Freundschaften, besonders mit seinem frü­heren Mentor Miguel Abensour und mit seiner Kollegin Martine Leibovici.

In Hannah Arendt.net veröffentlichten wir “The People Do Not Want.” Hannah Arendt Newsletter Research Notes, 3, 2007. http://www.hannaharendt.de/download/1_thepeo­ple.pdf

Siehe auch seine Beiträge im Arendt Handbuch zu „Condition humaine, „Person“, „Plu­ralität/Spontaneität“, „Souveränität“, „Totalitarismus“, „Wollen“ und „Globalisierung“. (Arendt Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, W. Heuer, B. Heiter und S. Rosemüller (Hrsg), Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 2011)


     ***

 

Vor zwanzig Jahren wurde ein Buch mit einem vorausschauenden Titel veröffentlicht: L‘­injustifiable2. Mit ihrer Analyse der damaligen Migrationspolitik beschrieb Monique Che­millier-Gendreau eine kritische Situation, die sich in den kommenden zwei Jahrzehn­ten weiter verschärfte. An ihrer Diagnose würde man heute leider nichts ändern können, au­ßer dass die Verschlechterung der nationalen Politik gegenüber den Migranten eine un­haltbare Würdelosigkeit erreicht hat einige Regierungen sinken in kurzer Zeit auf das Niveau einer Polizei herab und dass das nicht zu Rechtfertigende jetzt für die gesamte europäische Einwanderungspolitik gilt. Die Autorin stellte durch ihre Betrachtung der von ihr so genannten „europäischen Problematik“ die Existenz eines schon damals sicht­baren Paradoxes fest: Die Erweiterung der Rechte der Bürger innerhalb des europäischen Raums geht Hand in Hand mit einer drastischen Minderung der Rechte der Nichteuropä­er und der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einher, so dass von einem „Nie­dergang der Grundrechte der Ausländer in Europa“3 gesprochen werden kann. Da die Aufhebung der Binnengrenzen, die die Mobilität innerhalb des europäischen Raumes för­dern, von Maßnahmen begleitet wurde, die eine „Verstärkung der Kontrollen sowie eine Verbreitung des Argwohns gegenüber den Anderen“ bewirkten, „diente die Freizügigkeit im europäischen Raum aufgrund der befürchteten Konsequenzen als Vorwand für eine Rückkehr zu einer einzelstaatlichen Sicherheitsgesetzgebung und zu Sicherheitsvorkeh­rungen4. Das Recht auf Asyl, das Recht auf Verteidigung und Rechtsbehelf, die Familien­rechte und die wirtschaftlichen sowie sozialen Rechte leiden alle unter diesem einzelstaat­lichen Sicherheitswahn, denn die europäischen rechtlichen Garantien sind mit der „zwanghaften Ansteckung der Schließung der Grenzen“5 unvereinbar. Schließlich wies die Autorin darauf hin, dass die Verschärfung der repressiven Maßnahmen automatisch zu mehr Menschenhandel führt und die Rolle der Schleuser verstärkt.

Diese Analyse war präzise, scharfsinnig und erhellend. Es lässt sich vermuten, dass das Schlimmste hätte verhindert werden können und das Beste für die Aufnahme der Migran­ten organisiert worden wäre, wenn die für die Einwanderungspolitik Verantwortlichen dieser Analyse die nötige Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Auch muss man sich die Fra­ge stellen, warum die französischen Regierungen der letzten zwanzig Jahre in dem Irrtum verharrten, die Migrationspolitik auf bloß polizeiliche Repressionsmaßnahmen gegenüber ausländischen Bevölkerungsguppen zu reduzieren. Damit stellt sich die Frage, woher die­ser Sicherheitswahn der Schließung der Grenzen, diese Angst vor den Migranten kommen und woher der Widerstand gegen die Einsicht, dass die Migration jetzt Teil der Realität unserer heutigen Welt ist, aus der man eine ganz einfache Schlussfolgerung ziehen muss: Wenn Europa und Frankreich am Puls ihrer Zeit sein wollen, müssen sie eine Aufnahme­politik entwickeln und die Migranten unterstützen statt sich in defensiver und ängstlicher Weise auf ihre Identität und nationale Souveränität zu konzentrieren, die beide veraltet, inkonsistent und krankhaft sind. Die gegenwärtige Lage bietet nur eine Alternative: ent­weder wiederholt man eine Vergangenheit, die uns zur aktuellen Krise geführt hat, oder man schaut auf eine Zukunft, die uns einen Ausweg aus der Krise ermöglichen wird.

Heute können wir dank einer einfachen Rechnung schätzen, dass in den kommenden 25 Jahren 16 Millionen Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten versuchen werden, Europa zu erreichen.6 Und nach Alexandre Casella, der im UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge arbeitete, wird die Bevölkerung Europas im gleichen Zeitraum „um mindes­tens 20 Millionen Menschen sinken“. Für ihn ist in Anbetracht der bevorstehenden Mi­grationen die Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigran­ten obsolet; daher sei nur ein Zusammenschluss des Hochkommissariats für Flüchtlinge und der Internationalen Organisation für Migration in einer neuen Organisation, einer Organisation für den Transfer von Bevölkerungen, in der Lage, die Verantwortung der in­ternationalen Gemeinschaft gegenüber den Flüchtlingen wahrzunehmen. Man kann noch hinzufügen, dass die bevorstehenden ökologischen Veränderungen der Welt, unter ande­rem der Anstieg der Meeresspiegel, die Klimaerwärmung oder die Erschöpfung der aqua­tischen Ressourcen, und die Bevölkerungswanderungen noch viel stärker werden. Diese Wanderungen finden nicht nur in Richtung Europa statt, sondern auch zwischen den Ländern des Südens, die schon 60% der Wanderungsbewegungen auffangen. Wir sind in ein Zeitalter der verallgemeinerten Migrationen eingetreten. Sie stellen ernstlich die na­tionalstaatlichen Strukturen in Frage, auf denen die Welt errichtet wurde, die wir nun verlassen.
Es ist also Zeit, das Migrationsphänomen zu hinterfragen, um die Hindernisse zu besei­tigen, die einem Verständnis der Bedingungen des Migrantendaseins im Weg stehen. Es ist Zeit, (1) sich zu fragen, was ein Flüchtling ist und wer die Flüchtlinge sind; (2) darüber nachzudenken, wie eine Migrationspolitik aussehen sollte und wie eine politische Ent­scheidung zugunsten der Gastfreundschaft gegenüber den Flüchtlingen zu begründen wäre, die keine einfache moralische oder rechtliche Verpflichtung darstellt, und den Exilierten gegenüber vernünftig wäre; (3) und unvorbelastet die kosmopolitische Richtung zu bedenken, die uns durch die Globalisierung der menschlichen Tätigkeiten auferlegt wird. Das Verständnis der Migrationen als entscheidendes politisches Phänomen lädt uns nachdrücklich dazu ein, diese Orientierung in den Begriffen einer Xenopolitik zu formulieren, die in der Lage ist, die Zukunft einer Welt zu bewahren und vielleicht sogar zu befördern7, welche ernstlich zu einer Nichtwelt zu werden droht.

 

Der Flüchtling: Was ist ein Migrant?

Ein Migrant ist eine Person, die dazu gebracht wurde, ihr Heimatland vorübergehend oder dauerhaft zu verlassen und in ein anderes Land einzureisen. Für Politiker und Medi­en ist es aber immer üblicher geworden, das Wort „Migrant“ zur Bezeichnung der „Wirt­schaftsmigranten“ zu benutzen, während das Wort „Flüchtling“ allein auf die „politischen Flüchtlingen“ beschränkt wird. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich eine uneinge­standene, aber eindeutig akzeptierte normative Unterscheidung, für die es wie selbstver­ständlich die „politischen“ Migranten gibt, die aus Kriegsgebieten und diktatorischen Re­gimes fliehen - aus dem Sudan, aus Eritrea, Afghanistan, aus dem Irak und aus Syrien - und die man aufnehmen kann, und die Migranten, die abzulehnen sind, weil sie aus „wirt­schaftlichen“ Gründen fliehen und in Europa die in ihrem Heimatland kaum oder gar nicht angebotenen Ressourcen und Arbeitsplätze suchen. Sie stammen vor allem aus den zentralafrikanischen Ländern. Dieser Statusunterschied konnte noch Mitte des vorigen Jahrhunderts sinnvoll sein. Heute ist er nur noch ein Lügengebilde, um das zu verbergen, was die wirtschaftliche Globalisierung in der internationalen Form der Organisation von Arbeit geschaffen hat, nämlich eine doppelte Art von Verlagerung: die Verlagerung der Fertigungsindustrien in Weltregionen mit geringeren sozialen Kosten und die Verlage­rung der Bevölkerung dieser durch den Mangel an lokalen Strukturinvestitionen verarm­ten Regionen in die wohlhabenden Wirtschaftszentren. Es ist verständlich, dass ein Teil dieser Bevölkerung, deren Produktionsverfahren, kollektive Organisationsformen und Sitten sowie Bräuche von der wirtschaftlichen Globalisierung so durcheinander gebracht wurden, dass sie jetzt für eine soziale Integration ungeeignet ist und in die Länder aus­wandert, in denen man noch Arbeit, Lebensqualität und öffentliche Dienstleistungen fin­den kann (Beschäftigung, Pflege, Erziehung, Kultur, Rente etc.). In erster Linie gehören zu diesen Ländern natürlich die europäischen Länder, auch wenn das immer illusorischer wird.

Ein Großteil der europäischen Staaten sind alte Kolonialmächte, insbesondere Frank­reich, Großbritannien, Portugal, die Niederlande und, in geringerem Maß, Deutschland und Italien. Es ist also logisch und unvermeidlich, dass die Bevölkerungen dieser ehema­ligen Kolonien oder Protektorate nach Europa gehen wollen. Außerdem kann man fest­stellen, dass die drei Länder, die am meisten die Auswirkungen dieser postkolonialen Mi­grationen verkraften, also Griechenland, Deutschland und Italien, über eine geringere ko­loniale Expansion verfügten. Daher sollte es genauso logisch sein, dass die Migrationsbe­völkerung von dieser Vereinigung alter Kolonialmächte mit Wohlwollen und Interesse aufgenommen wird, da sie die Nachkommen von ehemals ausgebeuteten Männern und Frauen sind und heute auf andere Weise, z.B. mittels Schulden, immer noch versklavt werden. Es geht sicherlich um eine moralische Verpflichtung, die leider dazu verurteilt zu sein scheint, unhörbar zu bleiben. Vielleicht geht es auch um eine historische Verpflich­tung; doch hat sie überhaupt einen Sinn für unsere modernen Technokraten?8 Die euro­päischen Länder sollten sich zumindest bewusst sein, dass es um eine funktionale Nütz­lichkeit geht: Die sogenannten Wirtschaftsmigranten sowie die sogenannten politischen Flüchtlinge bringen dynamische Kraft, Fachkompetenzen und intellektuelle, kulturelle und soziale Fähigkeiten mit nach Europa, sie lösen das Problem der Alterung der aktiven Bevölkerung und der Auflösung der religiösen Traditionen. Und schließlich geht es vor al­lem um eine politische und kosmopolitische Herausforderung. Die EU versteht sich als eine Festung: Sie errichtet Mauern an Außengrenzen, die aber unbestimmbar sind; sie überlässt privaten Firmen (z.B. Frontex) die Sorge um die Durchführung von Missionen einer untergeordneten Migrationspolizei, um unbefugten Personen den Zugang zum Ge­biet der EU zu verweigern, Zuwiderhandelnde zu inhaftieren und illegale Einwanderer auszuweisen; sie vervielfacht die Hindernisse für den Erhalt des Asyl- oder Flüchtlings­status; sie erschwert oder verhindert die Aufnahmeverfahren (mit der bemerkenswerten Ausnahme Deutschlands im Herbst 20159), begrenzt die Anzahl von Orten der Gast­freundschaft, der Zuflucht oder des Asyls, stigmatisiert die Exilierten usw. Durch diese „Politik“, die, wie ich es hier zeigen möchte, genau das Gegenteil einer Politik ist, verzich­tet die EU auf einen unschätzbaren Reichtum, dessen Nutzen - um es so ausdrücken, dass man gehört wird - viel größer ist als dessen vermutete Kosten.

Aber warum verzichtet sie überhaupt darauf? Mit diesen würdelosen, aber auch kost­spieligen und kontraproduktiven Maßnahmen erliegen wir einer irrationalen und perver­sen Ideologie. Und warum haben all die verschiedenen Regierungen der französischen Republik seit Anfang der siebziger Jahre neue repressive Methoden gegenüber der Mi­granten entwickelt? Wir stehen hier vor einem Rätsel. Denn ein Migrant ist weder ein Übel noch ein Laster, eine Bedrohung, eine Gefahr, ein Behinderter oder ein Opfer. Unse­re alltägliche Sprache aber, die von Medien und Politikern beeinflusst wird, beschreibt die Migranten in dreierlei Absicht, der Verteufelung, Kriminalisierung und Viktimisierung. Gegen diese dreifach verkürzten Sichtweisen muss man sich also bemühen, zu verstehen und wahrzunehmen, was ein Migrant ist.

Der erste Schritt besteht darin, das Wort „Migrant“ aufgrund seiner unsachgemäßen Verwendung zu relativieren. Wir sollten alle Menschen, die ihre Heimat und ihr Zuhause, den Ort, wo sie aufgewachsen sind, verlassen mussten, „Flüchtlinge“ nennen; wir sollten aufhören, die Worte „Migrant“ und „Flüchtling“ auf stigmatisierende Weise zu differen­zieren. Denn die Einen ebenso wie die Anderen mussten ins Exil gehen. Die Frauen und Männer, die aus wirtschaftlichen Gründen ins Exil gehen mussten, hatten sich wie die politischen Flüchtlinge in einer Zwangslage befunden, in der ihre Freiheit genauso be­droht war. Ein Leben ohne Arbeit, ohne Ressourcen, ohne Zukunft, ohne persönliche Ent­faltung, ein Leben, das zu einer Existenz im Elend und zur Stagnation verurteilt, die das Elend begleitet, ein Leben, das nur noch ein Überleben ist, ist eine Ungerechtigkeit und nicht weniger gewalttätig und unerträglich als das politische Leid einer versklavten Exis­tenz, deren Freiheiten geopfert wurden, die der Polizeigewalt, der militärischen und reli­giösen Gewalt und dem Druck von militärischen, tyrannischen Staaten und Terrormilizen ausgesetzt ist. Das Leid dieser Flüchtlinge besteht nicht nur darin, dass sie ausgereist sind; Ihr Unglück besteht darin, dass sie durch defekte Gesellschaften und korrumpierte Formen der Politik als Folgen der europäischen Kolonisation, der wirtschaftlichen Globa­lisierung und der Industrie der Humanitären Hilfe zu einer verstümmelten Existenz ver­urteilt wurden. Und, selbst wenn die Ursachen des Exils nicht immer gleich sind, sondern in jedem Fall eine andere Färbung haben, wenn also die Ursachen hinsichtlich der Zu­kunft unvergleichbare Schicksalswege vorzeichnen, lassen sie niemals vergessen, dass alle Männer und Frauen, die flüchten mussten, um in einem anderen Land Asyl zu finden, et­was Gemeinsames haben: Ihr Exil ist ihnen aufgezwungen und wird, sogar unter Gefüh­len der Entsagung, von ihnen erlitten.

Daran anschließend müssen wir uns der genauen Bedeutung des Wortes „Exil“ wid­men. Flüchtling oder Exilant ist derjenige, der aus seiner Situation herausgesprungen ist (ex-salire). Freiwillige Exile gibt es natürlich auch. Aber selbst diese Wahl zeigt, dass es eine Ausgangssituation gibt, die keine zufriedenstellende Selbstverwirklichung ermögli­chen konnte und diese Verwirklichung daher woanders gesucht wurde. Der exilierte Mi­grant hat sich nicht nur von seiner ursprünglichen Welt entfernt, er hat sich auch von sich selbst entfernt. Buchstäblich existiert er, wenn existieren wirklich „sich von sich selbst fern halten“ bedeutet (ex-sinistere): gleichzeitig in die Welt und aus seiner eigenen Welt, aus sich selbst geworfen zu werden, auf der Suche nach einer verlorenen Welt zu sein. Denn grundsätzlich ist jede Existenz ein Exil, selbst wenn es sich hinter der Einrichtung des Lebens versteckt, die das Risiko maskiert und den Schmerz verringert. Die Existenz ist nämlich eine kompliziertere Sache als sie auf dem ersten Blick zu sein scheint. Es exis­tiert das Wesen, das aus sich selbst in die Welt geworfen wird, während es gleichzeitig aus der Welt geworfen und auf sich selbst zurückgeworfen wird.10 Die Welt ist für die Existenz gleichzeitig das, was sie aufnimmt und was sie auswirft; und die Existenz ist für die Welt gleichzeitig das, was ihr eine Möglichkeit bietet, und das, was sich dieser Möglichkeit ent­zieht. Das Exil hat also zwei Seiten: Auf der einen Seite ist es Verlust, Abfall, und Berau­bung, und kann bis zu Trostlosigkeit führen; auf der anderen Seite ist es Suche nach sich selbst und Erschaffung von Welt, Migration hin zu einem bevorstehenden Schicksal, Er­findung dieser Zukunft, Versprechen eines Morgen und schon die Verwirklichung dieser Welt durch das Bereisen der Welten. Der Sprung aus sich selbst in die Welt, der eine Ver­treibung aus der Welt ist, ist dann ebenfalls das Versprechen einer Welt; oder besser ge­sagt besteht dieser Sprung aus dem Versprechen von kommenden Welten, obwohl er die­ses Versprechen durch das Überqueren von Grenzen schon einlöst. Die Welten kommen durch Wanderungen und Übertretungen. Eine Welt ist immer eine Welt von Exilanten, sozusagen ein Asyl von Exilanten, so wie ein Exilant immer ein Exilant der Welt ist, der sich Welten als Asyl erfindet. Ohne Exil und seine Existenzen gibt es weder Welten noch Bewohner.

Denn wer migriert, ins Exil geht, ist jemand, der sich selbst und seine Welten durch die Überschreitung von Grenzen erfindet. Die Welten sind nicht jene geographischen Gebie­te, die durch Grenzen getrennt werden, als ob die physischen und geistigen Gebiete vor den Bewegungen bestehen würden, von denen sie sich speisen. Nein, es sind im Gegenteil die Migrationen, die diese Gebiete entwerfen, durch die Universen des Geistes reisen und das Vorgestellte in geometrische Bezüge stellen, die entscheiden, welche Grenzen über­schritten werden müssen, damit die Welten sich festigen können. Durch Exil und Migra­tionen werden Welten zugleich mit ihren Einwohnern geboren; dadurch dass sie aus ih­rem Selbst geworfen sind und sich in das weltliche Äußere richten, erhalten die Wesen Zugang zu sich selbst und kommen zu anderen „Selbsten“ und geben sich gleichzeitig Welten, zu denen sie gehören und von denen sie angenommen werden. Wege, Pfade, ver­schlossene Türen und Grenzen, Trennungen und Durchgänge zwischen Gebieten und Sei­tenwegen kristallisieren sich schließlich durch die Wanderung und die Spuren dieser Wanderung heraus. Die Länder und das Bewusstsein, das sie brauchen, um einen Halt (real oder imaginär) zu finden, werden dank der Migrationen geboren. Erst später kom­men die Grenzen, die die Kolonialreiche vernachlässigt haben. Diese Grenzen und die Überschreitungen dieser Grenzen bringen Wesen, Welten und die Fremdheit zur Welt und ihre Beziehungen zueinander hervor, bis man eines Tages sagen kann: Ich komme aus dieser Welt da und nicht aus jener Welt dort. Bis man sich bald in der einen Welt zu­rückgewiesen und zur anderen Welt dort zurückgeschickt sieht. Die Ausweisung ist die bedauernswerte Verleugnung der Migration, die doch eine Erfindung der Länder war. Vor unseren Welten gab es die Migrationen, die sie errichtet haben, vor unseren Identitäten gab es die Überschreitungen, deren Identitäten nichts anderes sind als verspätete und schon morbide Kristallisationen [einer Politik] der Zuweisung von Wohnorten.

Geboren werden heißt in die Welt kommen; die Welt verlassen bedeutet aus ihr ver­schwinden. Das Leben braucht die Welt. Der Tod ist keine Trennung von Geist und Kör­per, sondern die Trennung von Körper und Welt. Bevor ein Lebewesen geboren wird, muss es erst einmal von der Welt angenommen werden: Das Wesen, das außerhalb seiner selbst in die Welt geworfen wird, braucht diese Welt, in die es kommt. Aber, wie entstand die Welt selbst? Wie wurde sie sie selbst? Sie wurde aus Migrationen, Exil und Über­schreitungen geboren, die ihrerseits die Länder, Grenzen und die sie bewohnenden Völ­ker hervorbrachten. Die Migranten irren nicht auf der Erdoberfläche umher, sie verletzen nicht unsere Grenzen, sie verstoßen nicht gegen die schöne geopolitische Disposition der Nationen. Im Gegenteil, sie bauen eine Welt auf, wo vorher nur ein Globus war, sie teilen sie auf und machen Löcher in Trennungslinien, die zu Kreuzungspunkten und Lebensräu­men werden, wo dann neue Welten entstehen und Völker sich begegnen. Je zahlreicher die Migranten, die Exilierten und Überschreitungen sind, desto zahlreicher sind die Wel­ten. Denn die Migranten füllen nicht nur unsere Welt, sie machen sie auch breiter. Und diese Welt ist in der Lage, die Flüchtlinge der Welt aufzunehmen, die schon aufgrund der bloßen Tatsache, dass sie existieren, das Recht auf Asyl haben. Andererseits, sobald die private Aneignung dieser Welt geschah, sobald man sie in Ländergrenzen einfriedete, hin­derte diese durch rivalisierende Souveränitäten parzellierte Welt die Migranten daran, zu existieren. Sie weist sie zu den Grenzen zurück, vertreibt sie aus „unseren“ Gebieten und schickt sie zu „ihren“ Gebieten und ihrer vermuteten Herkunft zurück. Aber es ist halt so: diese Herkunft ist nicht der Ausgangspunkt der Migrationen, sie ist im Gegenteil ein nachträgliches Konstrukt, die Folge der Verbote, Verhaftungen und Abschiebungen. Das Verbot, ein Land zu betreten, verwandelt die Grenzen in Mauern; die Verhaftung der Übertretenden verwandelt Zufluchtsorte in Gefängnisse; die Ausweisung der Exilierten verwandelt ihre Existenzen in Strafen.

Erst spät, nach langen Jahren der Verschlechterung, die wir üblicherweise Geschichte und Fortschritt nennen, entwickelte sich die Krankheit der Nationen. Die Nationen wur­den zu einem späten Zeitpunkt von einer kranken Welt erfunden, die durch die Verurtei­lungen zur „gerichtlichen Anweisung des Aufenthaltsortes“ und Identitätslähmung ge­spalten und zu Kriegen innerhalb der Gemeinschaft verdammt wurde. Die Größe der eu­ropäischen Gemeinschaft liegt darin, dass sie nach zwei Weltkriegen und der Banalisie­rung der Vernichtung von Menschen versuchte, diese Krankheit zu behandeln. Aber die Union steckte sich an dieser Krankheit an, die sie heilen wollte.11 Und dann, als die Zeit der Migrationen wiederkam, als die Welt ankündigte, dass die Zeit des Exils, der Vernich­tungskriege und der Abschiebungen, der verhängten oder erzwungenen Umsiedelungen, der sogenannten „Natur“-Katastrophen zurückgekehrt sei (man sollte sie aber eher an­thropozäne Katastrophen nennen, da der Einflussfaktor immer der Mensch ist), fing das Wort „Migrant“ an, das Gegenteil von dem zu bezeichnen, was es wirklich bedeutet: etwas Übles, eine Gefahr, eine Krankheit. Und für die Herrschaftsapparate, in denen schwache und erbärmliche Vorstellungen an die Stelle politischen Denkens getreten waren, ist es jetzt so, dass der Exilierte, der doch nur ein Opfer ist, die Wurzel des Problems ist; für sie ist der Flüchtling ein Krankheitserreger, obwohl er nur das Gegengift ist; er ist der Dä­mon, den man exorzieren muss und nicht mehr der Daimon der neuen Menschheit und des Bewusstseins der kommenden Welt. Und dann, so müssen wir noch einmal feststel­len, ist das, was wir fälschlicherweise Migrationspolitik nennen, tatsächlich nichts ande­res als eine Anti-Exilierten-Verwaltung, eine polizeistaatliche Ordnung, die die Existenz jener Männer und Frauen leugnet.

Die Gastfreundschaft: Was ist Migrationspolitik?

Es ist nicht verwunderlich, dass die gerichtliche Zuweisung des Aufenthaltsortes, die ausnahmsweise durch den Ausnahmezustand ermöglicht wurde, jetzt dank unserer Re­gierung zum allgemeinen Gewohnheitsrecht gehört: Die Tatsache, dass die Sicherheits­verwahrung von Individuen an einem Ort eine Verwaltungsmaßnahme und keine gericht­liche Maßnahme ist und dass Menschen der regelmäßigen Polizeikontrolle unterzogen werden, zeigt uns deutlich, welche Vorstellung unsere Regierungen von der Sicherheit der Personen haben und von der Freiheit, die sie als menschliche Wesen bestimmt. Diese Zu­weisung verbindet zwei Arten polizeilicher Kontrollen: die Identifizierung und die Verhaf­tung. Man muss unter allen Umständen sagen, wer man ist, d.h. die eigene Identität of­fenlegen; und man muss jederzeit an einem Wohnort den Polizeikräften zur Verfügung stehen. Die Republik in Bewegung (La république en marche) verhaftet genau diejenigen, die sich beispielhaft in Bewegung setzten, die Exilierten. Diese Regierung behandelt die „illegalen“ Exilierten nach zwei Prerogativen, die ein Angriff auf die Menschenrechte dar­stellen: Sie müssen ihre Identität offenlegen, damit die Polizei sie in ihr „Herkunftsland“ oder, wenn das nicht möglich ist, an den Ort, an dem sie europäisches Gebiet betreten ha­ben, zurückschicken kann gemäß dem Dublin-Verfahren, das den EU-Eintrittsländern, die oft die ärmsten sind, die Verantwortung für die „Eindringlinge“ übertragt. Außerdem besteht für sie die Gefahr, dass sie in Abschiebehaftanstalten festgehalten werden (in Frankreich den CRA, Centres de rétention administrative), die eine erzwungene Domizi­lierung darstellen, wo sie als Flüchtlinge ohne Wohnsitz ihrer Rechte beraubt sind. Das sind die zwei Seiten derselben Medaille: Die Identifizierung bedeutet eine gerichtliche Zu­weisung des Aufenthaltsortes und umgekehrt. Denn es ist so, dass man hier zwei soziale Probleme zugleich bekämpfen muss, die ein einziges Übel darstellen: Die Obdachlosen, die keinen festen Wohnsitz haben, und die illegalen Einwanderer, die keine feste Identität haben. Aus Sicht der Polizei stellt die Verweigerung hinsichtlich der nationalen Identifi­zierung und des Aufenthaltsortes zugleich eine politische Krankheit dar, eine soziale Be­drohung und ein kulturelles Unglück.

Diese „police des populations“, die nur als das öffentliche, zugleich aber sehr betrübli­che Gesicht fungiert für die gerichtliche Zuweisung von Aufenthaltsort und Identität in­nerhalb der Einwanderungs- oder Migrationspolitik, hat eben nichts mit Politik zu tun. Noch schlimmer: Sie ist in ihrem Wesen anti-politisch. Denn was konnten wir anderes von einer Biopolitik, wie sie Foucault nannte, erwarten, jener angeblichen Politik, die sich in eine ökonomische Verwaltung der Lebenden und ein rationales Kalkül zur Unter­drückung des Lebens verkehrt hat? Die Beziehung der Staaten zu den Migranten ist ein praktischer Beweis der Unangemessenheit einer Politik mit ihrer altertümlichen Organi­sation der geographischen Unterteilungen mit ihren Grenzen zur Abtrennung von Gebie­ten, der demographischen Unterteilungen mit den Nationalitäten zur Abgrenzung von Be­völkerungen und der politischen Unterteilungen mit ihren Souveränitäten zur Abgren­zung von Mächten. Denn die Grenzen können verschwinden, die Völker sich vermischen, und die Behörden sich verstreuen. Das ist einfach eine Tatsache und weder eine Angst noch ein Wunsch. Die Politik unserer Zeit muss mit durchlässigen Grenzen umgehen kön­nen, die man nicht mehr benutzen kann, um Länder zu umschließen. Genauso muss sie mit postnationalen Bürgerschaften umgehen, die sich nicht mehr auf die Rechte von Geburt und Geburtsland beziehen können, und mit Behörden, deren Zuständigkeiten in Bereiche oberhalb und unterhalb der Gebietsgrenzen und nationalen Aufteilungen fallen. Die Migrationen haben mit den ökologischen Naturphänomenen etwas gemeinsam: Sie überschreiten die Grenzen, treffen die Bevölkerungen ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit und zwingen die Behörden, ihre relative Inkompetenz angesichts dieser Grenzenlosigkeit anzuerkennen und miteinander zu kooperieren, um die Möglichkeiten zu vergrößern, mit diesen neuen transnationalen Gegebenheiten erfolgreich umzugehen.

So ist unsere Lage seit Jahrzehnten; in den kommenden Jahren wird sie sich weiter zu­spitzen. Sie stellt uns vor eine einfache Alternative: Entweder eine Politik zu verfolgen, die sich zum Rückzug der Nationalstaaten auf Formen des Regierens am Anfang dieser Globalisierung reaktiv verhält, ohne indessen die Globalisierung kontrollieren oder len­ken zu können, so wie sie aufgehört hat, für die alte Ordnung, in der sie entstand, sinnvoll zu sein. Oder eine Politik einzuschlagen, die jene pluralen Orientierungen, welche die Be­völkerungsbewegungen, die territorialen Neugestaltungen und Neuordnungen der Autori­sierungen und Machtausübung nahelegen, als Gelegenheiten erfinderisch nutzt.Überall auf der ganzen Welt tritt ein transduktives Netzwerk vielfältiger Foren des Aufstands, der Proteste und des Experimentierens in Erscheinung. Diese Welt ist nicht das „Menschen­geschlecht“, sondern die nicht reduzierbare Vielfalt von Emanzipationsakten. Dies er­schreckt die Alten, die an den herkömmlichen Formen der Staatsgewalt hängen. Und es regt weniger Alte an, die darin die chaotischen Auswirkungen der transnationalen Börsen und Banken erkannten, die sie für die neue Ordnung der Welt halten und darin die Mög­lichkeiten sehen, die Macht zu erlangen und den Staat wie eine Bank oder ein transnatio­nales Unternehmen zu führen. Und da lautet die Alternative folgendermaßen: Wir stehen entweder vor dem Wiedererwachen der alten Staatenwelt, die im Finanzsektor sich selbst umgebracht hat, vor identitären Bewegungen, Nationalismus, Souveränitätsdenken und Autoritarismus; oder wir stehen vor der Aneignung unserer neuen Welt durch neue Wirt­schaftskräfte, für die die Staaten nur eine Achtung gebietende Fassade sind, die sich den Normen einer alten Ordnung anpasst. Bleibt aber noch der Autoritarismus, der offen­sichtlich vom Identitarismus, Nationalismus und dem Souveränismus abgekoppelt ist. Diese allerdings dienen nur noch der notwendigen Illusion zur Rechtfertigung einer re­pressiveren „police des populations“ und von Zwangsmaßnahmen, die die Realität ver­leugnen. Und, um es in der Art und Weise von Kindern, ehemaligen Aktivisten oder Hol­lywoodfilmen auszudrücken: Die Finanzspekulanten benutzen den Staat als Apparat für Respekt und Ordnung, damit sie die Einschränkungen und Repressionsmaßnahmen aus­üben dürfen, die sie brauchen, um ihre Dominanz und Interessen bewahren können. Ist es denn so, dass sich der Staat, die Gesellschaft und die Welt in Bewegung gesetzt haben?

Der aktuelle Staat ist in zwei Teile zerschnitten. Auf der einen Seite ist er einer neuen Weltwirtschaft unterworfen und hat aufgehört, die politische und wirtschaftliche Vertei­digung der öffentlichen Dienstleistungen und die Sozialpolitik zu unterstützen. Er hat die Völker im Stich gelassen, da er keine andere Unterstützung braucht als die der kommerzi­ellen Bourgeoisie und der gehobenen Mittelklasse. Auf der anderen Seite erwartet man von ihm die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung und die Förderung des nationa­len Wohlergehens. Deswegen ist seine „police des populations“, die jetzt der Hauptgrund seiner Existenz ist, noch repressiver und deswegen hat er deren Durchsetzungs- und Re­pressionskapazität verstärkt. Zur Erfüllung seiner Aufgabe braucht er die Argumente der Fremdenfeindlichkeit: Er unterstützt sie de facto, während er sie in offiziellen Reden an­prangert. Und da er zum Erreichen seines Ziels zu Zeiten des Ausnahmezustands eine un­terwürfige Polizei und Administration braucht, gehören jetzt die Sondermaßnahmen des Ausnahmezustands fest zum allgemeinen Recht. Dies führt zu einer sogenannten „Migra­tionspolitik“ bzw. zu einer Reihe von Polizei- und Verwaltungsmaßnahmen, für die weder die Migranten und ihre Migrationen noch ihre Ankunft im Staatsgebiet, ihr Empfang, ihre Lebensbedingungen vor Ort oder ihre Verschiebungen innerhalb Europas wichtig sind. Man kümmert sich nicht um die Notwendigkeit, ihnen Asyl und Zuflucht zu gewähren, auch nicht um ihre Niederlassung in Frankreich oder ihre Weiterreise. Man respektiert ihre Menschen- und sozialen Rechte oder die Pflichten des Staates gegenüber diesen Menschen nicht. Während Minister, Präfekten, nationale und lokale Verantwortliche nur über Würde, Menschlichkeit, Respekt und Rechte sprechen, hat man gar kein Problem damit, im gleichen Satz und im Namen des republikanischen MottosFreiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ die Zahl von illegalen Eindringlingen, Verhaftungen, Migranten in Ab­schiebehaftanstalten (CRA) oder abgeschobenen Menschen zu nennen, die Zahl der auf die MigrantInnen zurückgeführten Vergehen und Verbrechen, die Zahl von Arbeitslosen dank der illegalen Arbeitskräfte, die Zahl von Bereitschaftspolizisten (CRS), die für den Schutz der Anwohner eingesetzt werden, oder die hohen Kosten der Repression usw. Ja, die Repression kostet viel. Sie kostet sogar sehr viel. Es wäre interessant, den Rechnungs­betrag für das Tränengas, das allein zur Repression der Migranten in Hauts-de-France im Norden Frankreichs verwendet wurde, zu erfahren. Ist dies überhaupt eine Politik?

Man kann die Dinge auch anders sehen. Es genügt, statt der Sichtweise der Staatsge­walt, der Regierungen und der angeblichen Nationen die Sichtweise der tatsächlichen Freiheit, der tatsächlichen Gleichheit und der tatsächlichen Brüderlichkeit einzunehmen, kurz die Sichtweise der exilierten Völker mit ihrem Leben, die ständig die symbolischen oder realen alten Grenzen der sozialen und nationalen Ordnungen hinterfragen. Dann wäre man in der Lage, eine politische Chance wahrzunehmen. Das ist sicherlich keine Chance für die Migrationspolitik, die sich immer als hoheitliche Macht wahrnimmt und Schwierigkeiten hat, sich von der „zwanghaften Ansteckung des Sich-Abschottens“ zu be­freien; aber dies wäre eine Chance für eine Migrationspolitik, die Abstand von ihrem eige­nen nationalen Interesse nehmen würde und sich als Kosmopolitismus der Überschrei­tungen verstehen würde. Sie würde die Sichtweise der Polizei durch die Sichtweise der Polis ersetzen; sie würde aufhören, die Eindringlinge zu zählen und die bewaffneten Truppen, und stattdessen dem Leben und der erträumten Zukunft der exilierten Men­schen ihre Aufmerksamkeit widmen. Statt Flüchtlingslager und illegale Inhaftierung wür­de sie Flüchtlingsheime und eine gesellige Xenopolitik bevorzugen; statt Einsatztruppen (Compagnies Républicaines de Sécurité) Solidaritätstruppen (Compagnies Républicaines de solidarité); an die Stelle des Solidaritätsdelikts würde sie das Feindseligkeitsdelikt set­zen, und statt die Wandernden zu verhaften, würde diese Politik sie unterstützen und ih­nen bei Verwaltungsverfahren helfen usw. Dann würden wir uns wirklich in einer Welt in Bewegung befinden.12 Man könnte fast glauben, dass es zu einer echten Migrationspolitik nur nötig sei, Maßnahmen umzudrehen, die vom Staat und von der EU zugelassen, gerechtfertigt und empfohlen werden. Als ob es genug wäre, genau das Gegenteil von dem zu tun, was unsere Regierungen machen… Tatsächlich aber sollte sich diese Politik von einer grundlegenden Erfahrung her verstehen, deren politische Bedeutung vernachlässigt wurde, obwohl sie der lebendige Kern eines Kosmopolitismus ist: der Erfahrung der Gastfreundschaft. Aber inwiefern ist die Gastfreundschaft das Prinzip eines effizienten Kosmopolitismus?
Gastfreundschaft muss dem Fremden bzw. einem Menschen, Frau oder Mann, der nicht von hier ist, gewährt werden. Er kommt nicht aus unserem Land, ist kein Teil unse­rer Gemeinschaft, unserer Familie. Ohne die Fremdheit und das Fremdsein kann der Be­griff Gastfreundschaft nicht existieren. Nur dem Fremden kann man Gastfreundschaft ge­währen, wie auch immer diese Fremdheit in Erscheinung tritt, in Gestalt des Armen, des Ausländers, des Abnormalen oder des Monströsen. Die Fremdheit des Fremden offenbart etwas Unbekanntes, das uns verängstigt und dem wir mit Misstrauen begegnen. Der Mensch, den wir aufnehmen, ist auch der Mensch, vor dem wir Angst haben. Aber ist es nicht genau diese Angst, die die Gastfreundschaft definiert? Denn nur der Empfang eines Menschen, den wir fürchten, verdient es, Gastfreundschaft genannt zu werden. Benvenis­te hatte es schon bemerkt: Zur Umkehrbarkeit des französischen Wortes „l‘hôte“, das so­wohl den Empfangenden (den Gastgeber) als auch den Empfangenen (den Gast) bezeich­net, gesellt sich die Verbundenheit des hostis mit seinem Gegenteil bzw. mit dem hospita­lis (der Feind ist auch der Gastgeber), somit die Verbundenheit der Gastfreundschaft mit der Feindseligkeit (l‘hospitalité avec l‘hostilité).13 Jemandem die Gastfreundschaft zu ge­währen bedeutet also gleichzeitig, dass man die Fremdheit des Anderen anerkennt und die möglichen schädlichen Konsequenzen dieser Fremdheit unschädlich macht, indem man dem Anderen zeigt, dass er wirklich aufgenommen wird. Nicht, dass dieser fremde Mensch integriert wird, sondern, dass er und dessen Fremdheit von der Gemeinschaft, mit der er eine friedliche und konstruktive Beziehung unterhält, aufgenommen werden. Wenn man jemandem Gastfreundschaft gewährt, zeigt man damit, dass eine gemeinsame Zukunft mit dem oder der Anderen, mit dem oder der wir nichts gemeinsam haben, mög­lich ist. Wenn der potenzielle Feind unser Gast wird und ihn mit dem ihm gebührenden Respekt empfangen, verhindern wir, dass unsere Beziehung von Anfang an nur von Angst, Gewalt, Vorurteil und Ideologie geprägt wird. Man bildet die Grundlage einer ge­meinsamen Welt, in der die Realität des Anderen meine Realität vergrößert. So ist die Be­ziehung, die man mit Ausländern unterhalten möchte. Diese Beziehung kann in zweierlei Form erfolgen, man muss sich entscheiden.
Der Fremde, der von seiner Andersartigkeit und seiner Fremdheit geprägt wird, ermög­licht uns gleichzeitig, uns mit dem Außergewöhnlichen vertraut zu machen und das Be­kannte und das Unbekannte miteinander zu verbinden. Die Andersheit des Fremden zeigt sich durch ein verständnisvolles und kooperatives Verhalten.14 Aber diese Fremdheit des Fremden kann auch Misstrauen und schnell ein feindseliges Verhalten auslösen. Da man sie als anormal, fehlerhaft und störend wahrnimmt, muss man sie überwachen, korrigieren, regulieren und normalisieren, so glaubt man, und erlegt diese Kontrolle dem Ausländer als Bedingung seiner Annahme auf. Da die Fremdheit als Gefahr wahrgenommen wird, bemüht man sich, diese Gefahr und dann die Fremdheit, die zum Fremden gehört, zu beseitigen. Vor unseren Augen scheint jetzt der Fremde feindlich zu sein, er ist unserer Feind, den wir bekämpfen, einsperren oder abschieben, schwächen und vernichten müssen. Dies ist das Schicksal der meisten Migranten in Europa: ihnen wird der Zugang zu unserem Gebiet verboten. Wir vertreiben sie, sperren sie ein, schieben sie ab. Wir zerstören ihre prekären und provisorischen Unterkünfte und Lager, schaffen das Recht auf Asyl ab und bietet ihnen keine Zufluchtsorte an. Wir begehen definitiv einen moralischen Fehler, auch wenn die Moral nicht in der Verantwortung der Republik liegt. Aber wir begehen auch und vor allem einen politischen Fehler, der eine öffentliche Angelegenheit ist. Für diesen Fehler ist die Republik in vollem Umfang rechenschaftspflichtig. Warum?

Da die Gastfreundschaft weder etwas Natürliches noch Moralisches ist, geht es bei ihr weder um Wohltätigkeit noch um Hingabe, Strategie oder Aufopferung. Sie ist reine Ver­standesangelegenheit und vernünftige Politik. Sie besteht in der Schaffung einer Bezie­hung, die Krieg verhindert und die Voraussetzungen für Frieden schafft: die Gründung ei­ner Gemeinschaft der Einzelnen, die die Gestaltung einer gemeinsamen Welt jenen er­möglicht, die nichts miteinander gemein haben und wechselseitig zum Wohl ihres ge­meinsamen Interesses übereinkommen. Die Gastfreundschaft ist die Bedingung und der Zweck jeder Politik. Sie ist die Bedingung der Politik, weil mit ihr ein Band mit dem Fremden geknüpft wird, denn jegliche Politik beruht auf dem Bezug zu dem Fremden, der Schaffung einer gemeinsamen Welt mit ihm. Die politische Gemeinschaft ist weder eine Familie noch eine Stammes- oder Religionsgemeinschaft, noch eine Wirtschaftsgesell­schaft: Sie ist zu allererst ein Gebilde aus fremden Welten. Sie ist der Zweck jeder Politik, da die Politik auf nichts anderes abzielen sollte als die Errichtung und Wiederbelebung ei­ner vorrangigen Gastfreundschaft, die allein dazu fähig ist, den Krieg aller gegen alle, den Krieg zwischen Individuen, Gemeinschaften und Staaten zu verhindern. Eine Politik, die dazu bestimmt ist, eine gemeinsame Welt zu etablieren, kann sich dann entfalten, wenn die Unterschiede nicht zu Trennendem oder kriegerischen Konflikten werden. Nur die Gastfreundschaft, diese politisch geniale Einrichtung, ist in der Lage, die Verschlechte­rung der Beziehung zwischen Nationen zu verhindern.

Der Migrant, der Exilierte, ist ein Mensch, der Grenzen überschreitet. Es ist per defini­tionem derjenige, dem wir eine Art von Politik verdanken, eine Xenopolitik, die wir mit ihm und dank ihm entwickeln können. Diese Xenopolitik ist letztlich nur der andere Name für eine Weltpolitik, eine Kosmopolitik, wie sie unsere Gegenwart benötigt. Denn von der Gastfreundschaft, die wir den Flüchtlingen gewähren, hängt die Politik der Bezie­hungen von Völkern und Staaten untereinander ab. Wenn wir ihnen Gastfreundschaft ge­währen, kann Politik beginnen. Wenn wir sie ihnen verweigern, ist der Krieg bereits er­klärt worden. Dieser Krieg ist die Ablehnung der Politik, er ist ihre Beendigung. Wer nicht im Flüchtling den Menschen sieht, der am meisten unsere Gastfreundschaft braucht, wer ihn der Polizei übergibt und mit der Verletzung von dessen Freiheit zugleich dessen Gleichheit verletzt, die er für sich in Anspruch nimmt, wer die Unterkünfte der Flüchtlinge zerstört und sie aus ihren Zufluchtsorten vertreibt, die diese wandernden Menschen zusammen aufgebaut haben - egal, ob er Bürgermeister, Präfekt, Minister, Regierung, Staat oder Europäischen Union ist, damit hat er bereits der Politik entsagt. Selbst wenn er die repressiven und destruktiven Maßnahmen, die er fördert, „Politik“ nennt, sind wir doch alle in der Lage zu erkennen, dass diese Verweigerung der Gastfreundschaft  den Widerruf der Politik bedeutet, die in der Unterwerfung des Staates unter die gewinnorientierte Wirtschaft und die „police des populations“ besteht.

 

Die Gemeinschaft: Was ist Xenopolitik?

Welche Politik ist heute in der Lage, die von der Globalisierung hervorgerufene Verän­derung der Welt zu akzeptieren? Sicherlich nicht die nationalistische und auf Souveräni­tät gestützte Politik der vergangenen Jahrhunderte, die aufgrund ihrer Sorglosigkeit, ih­rer Zwangsvorstellung der nationalen Identität, der nationalen Souveränität und der na­tionalen Sicherheit zu den Katastrophen führte, die das zwanzigste Jahrhundert erlebt hat. Identität, Souveränität und Sicherheit sind die drei epistemologischen und prakti­schen Haupthindernisse für das Verständnis und die Wahrnehmung der politischen Ver­antwortung in der heutigen Welt. Um die Herausforderungen ermessen zu können, sollte man zwei begriffliche Vorkehrungen treffen und miteinander verbinden.

Die erste besteht darin, die Globalisierung (la globalisation), die den ganzen Planeten mit einer neoliberalen, einzig am Profitprinzip ausgerichteten Wirtschaft überzieht, zu unterscheiden von der auf die Welt bezogenen Politik (la mondialisation), deren Sorge den miteinander geteilten Praktiken, Welt zu schaffen, gilt.15 Aus dieser Sicht ist die „mondialisation“ das beste Gegenmittel gegen die „globalisation“, da sie deren Logik um­kehrt. Während die „globalisation“ zu einer globalen Vereinheitlichung bzw. zu gleichen Kapitalzuweisungen, gleichen Produktions-, Verteilungs- und Verbrauchsmuster von Gü­tern führt, die die Praktiken und homogenisierten Verhaltensweisen horizontal und verti­kal verlagern und hier und dort die lebendigen Welten schädigen oder zerstören, bezeich­net die „mondialisation“ im Gegenteil eine Pluralisierung von lokalen, situierten und ein­zigartigen Erfahrungen, die mit ähnlichen Erfahrungen überall auf der Welt in einem Re­sonanzverhältnis stehen und dazu beitragen, verschiedenartige Welterfahrungen mitein­ander zu verknüpfen. Diese Welterfahrungen werden zwar unterschiedlich gelebt und ge­testet, aber sie werden durch das gleiche Interesse an der Welt bewegt und führen daher ipso facto zur Gestaltung pluralistischer Welten, die eine gemeinsame, parzellierte aber gerecht aufgeteilte Welt ermöglichen, die von der gleichen transnationalen Sorge getragen wird, selbst wenn diese Welten widersprüchlich zu sein scheinen. Diese Dimension um­fasst auch die Migrationen von Flüchtlingen und die Umweltprobleme, sie sind sogar Be­dingungen ihrer Weiterexistenz und führen zu einer allgemeinen und miteinander geteil­ten Beständigkeit. Die sehr problematische, oft schmerzhafte und manchmal spannende Beziehung der grenzüberschreitenden Migranten zur Welt macht das dauerhafte Exil zu einem privilegierten Knotenpunkt vielfältiger konstitutiver Ansätze einer gemeinsamen Welt, die von der Besessenheit einer Ab- und Ausschließung befreit. Kurz zusammenge­fasst könnte man sagen, dass die Migranten gleichzeitig in drei verschiedenen Welten le­ben16: in den Welten vor ihrem Exil, den verlorenen und fantasierten Welten, in denen das Leben für sie anfing; in den Welten, die sie durchfuhren, die Länder, die sie durch­wanderten, die öfter als ihre Herkunftsorte Orte des Leidens waren, eine enttäuschende und oft unwirtliche Welt, aber auch manchmal eine Welt voll schöner Begegnungen; und schließlich in den geträumten Welten, einem gelobten und anvisierten Land, das Entfal­tung, Widerherstellung von Glück und Familienzusammenführung ermöglichen könnte, das die Flüchtlinge aber oft nicht erreichen oder das gar nicht existiert. Diese drei Welten, selbst mit ihrem Anteil an Ablehnung und Trostlosigkeit, bauen eine plurale Beziehung zu einer pluralen Welt auf, sie verwandeln die erfahrene Welt in eine gemeinsame Welt und in eine miteinander geteilte Erfahrung und geben ihren Subjekten den Halt und die be­freite Existenz, dank derer sie die schwierigen Zeiten überstehen konnten. Die so vielfälti­gen, geteilten und umgrenzten Universen des Exils und der Migrationen bilden also eine Welt der Welten. Und die Grenzen trennen, wie es Michel Agier so gut beschrieb, weniger die Welten als dass sie für sich selbst einzigartige Welten schaffen, die Orte des Lebens und der Erfahrungen sind, die der schwierigen aber fruchtbaren Beziehung zur Fremdheit des Fremden ausgesetzt sind.17 Im Gegensatz dazu ist der Globus der kapitalistischen Ge­schäftigkeit, dessen Regionen alle ähnlich und dessen Erfahrungen alle undifferenziert sind, einfach unweltlich. Daraus kann keine neue Welt entstehen, jegliche Welt wird dort zerstört oder zerstörbar. Wir müssen die eigentlich weltliche Bedeutung der Migrationen verstehen, um nachzuvollziehen, inwiefern die Ökologie die politische Frage ist; und um andererseits zu verstehen, inwiefern die wirtschaftlich homogenisierende Globalisierung der Verhaltensweisen, die wir fälschlicherweise als weltweit (mondial) bezeichnen, Teil ei­ner Polizeiregierung ist und alles andere als weltlich oder zivil ist.
Daraus folgt die zweite begriffliche Vorkehrung. In der Regel bezeichnet man mit Kos­mopolitik die Orientierung auf eine Universalität, die bekräftigt, dass die Vereinheitli­chung der Welt die Bedingung des Weltfriedens ist. Man glaubt, dass diese Vereinheitli­chung entweder durch internationale Übereinkommen und Verträge vielleicht erreicht werden kann, oder dank der Autorität einer Organisation der Vereinten Nationen, die da­für zuständig ist, Konflikten, bevor sie ausbrechen, zuvorzukommen, sie einzudämmen, wenn sie entstanden sind, die Welten zu heilen und wiederaufzubauen, wenn sie ihre zer­störerischen Kräfte entfaltet haben. Dies ist eine internationalistische Perspektive: Die Politik wird dabei den Staaten als Garanten nationaler Identitäten und Souveränitäten anvertraut. Doch es ist aber eine mangelhafte Perspektive: Die UNO hat niemals Kriege verhindert, hat niemals die zerstörerischen Auswirkungen von Kriegen gemindert und niemals vermocht, Nachkriegswelten auf nachhaltige und demokratische Weise wieder aufzubauen.18 Die Berücksichtigung der Migrationen und Bewegungen von Flüchtlingen bringt uns aber dazu, ein anderes Verständnis von Kosmopolitismus zu entwickeln, das die Mischung der Völker den Verhandlungen zwischen Staaten vorzieht, die Interaktionen an den Grenzen der Errichtung von Mauern, den Erfahrungsaustausch der Stigmatisie­rung von Ausländern und das Glück der kulturellen und ethnischen Mischung der Säube­rung von Identitäten; vor allem müssen wir dem ideologischen Einfluss von zwei phantas­tischen, geläufigen und kontraproduktiven Konzepten entgehen: der Souveränität und der Nationalität. Dieses andere Verständnis von Kosmopolitismus, das unsere Zeit ver­langt, beruht auf der Herstellung einer politischen Verbindung mit dem Fremden. Dies ist keine ethische Entscheidung, sondern logische Notwendigkeit und politische Vernunft. Wenn sich Welt an den Grenzen entfaltet - denn eben dort begegnen sich konkret die Welten - dann wird der Kosmopolitismus von der Politik der Gastfreundschaft als eine Xenopolitik definiert, als eine Politik der Fremden, die nicht für sie, sondern mit ihnen zusammen entwickelt wird. Es ist eine komplizierte, riskante und mutige Politik, die nicht nur die Fremden aufnimmt, sondern ihnen auch eine geteilte aktive Mit-Bürgerschaft an­bietet. Diese Xenopolitik betrachtet die Grenzen als Durchgangsorte, Kreuzungspunkte und als Orte gemeinsamer Erfahrungen und möchte sich nicht durch den Bau unüber­windlicher Mauern gegen sie wenden oder sie zerstören, denn eine Grenze kann nur Staa­ten trennen, indem sie sie aneinander bindet und miteinander verknüpft. Im Gegensatz zu Mauern versammelt sie die von ihr getrennten Völker und schafft für die Menschen, die die Grenzen überschreiten, ein Testgebiet von Welten, in dem sie deren Unterschiede dank der Auseinandersetzung zwischen kulturellen Codes und deren Übersetzung von verschiedenen Sprachen wahrnehmen können. Eine Xenopolitik lebt durch diesen Aus­tausch, bereichert sich durch dieses Teilen und verkompliziert sich durch die Konflikte, die die Grenzen materialisieren. Gewiss, wenn sie Welten gestaltet, verkompliziert sie auch die Existenzen, aber sie findet auch jenseits von Leiden und Verlust die schöpferi­schen Tugenden des Exils wieder. Das Gegenteil von Enteignung ist Befreiung, nicht An­eignung. Die verlorenen Heimatländer können nicht wiedergefunden werden, aber sie werden auf eine andere Weise wirklich; von der Ideologie des Bodens und der Verwurze­lung befreit, werden sie dazu in der Lage sein, eine performative und vorübergehende Ge­meinschaft zu gestalten, deren Merkmal das gemeinsame Handeln ist, wenn es auf keiner früheren Zugehörigkeit oder vorurteilsbelasteten Identität beruht.

Indem sie so den traditionellen Gegenstand der Politik verkomplizieren, laden Vol­k-Nation, ihre traditionelle politisch-administrative Struktur eindeutig erschütternd, und Staat-Nation sowie die grenzüberschreitenden Bewegungen der Exilierten dazu ein, in ei­ner performativen Konzeption von Grenze eine kosmopolitische und eine xenopolitische Perspektive miteinander zu verbinden. Diese Perspektive zielt nicht auf die Gestaltung ei­nes politischen Gesamthorizonts ab, bei der dem wirtschaftlichen Gesamthorizont eine äquivalente Globalisierung der politischen Institutionen an die Seite gestellt würde. Sie will vielmehr auf der im gewissen Sinn Weltbühne einen Platz für die verschiedenen loka­len politischen Bühnen finden, wenn man darunter einen Horizont von Welten kollekti­ver, einzigartiger und vielfältiger Erfahrungen versteht, die miteinander in eine Resonanz einschwingen können und eine gemeinsame Welt bilden durch Echos, Wiederaufnahmen von Themen, gegenseitigen Austausch, zufällige und flüchtige Gestaltungen gemeinsamer und geteilter Kämpfe, gleichermaßen Improvisationen und Chorus. Während die wirt­schaftliche Globalisierung grundsätzlich versucht, die nationalen Identitäten durch die weltweiten Ströme zu überschreiten, obwohl sie diese Identitäten immer noch als politi­sche Struktur benutzt, denn sie ermöglichen es, Nationalstaaten in den Dienst der natio­nalen und internationalen Polizei zu stellen, geht die „mondialisation“ aus einer Summe von politischen Besonderheiten hervor, die zu situierten und zielgerichteten bürgerschaft­lichen Engagements führen; und diese Engagements sind nur durch Treffen und Begeg­nungen fähig, einzigartige und mitteilbare Welterfahrungen zusammenzubringen und so Schritt für Schritt auf zerbrechliche, ungeplante und sogar unorganisierte Weise eine me­tastabile Gemeinsamkeit zu weben, eine Gemeinsamkeit nicht von vereinten Nationen, sondern eines transnationalen Protestbürgersinnes.

So kann man verstehen, dass diese Kosmopolitik der Konflikte nicht von einer Xeno­politik der Welten getrennt werden kann. Die Verbindungen jener getrennten Menschen, die sich in ihrem zivilbürgerlichen Kampf trotzdem um die Welt jenseits der Staaten und Nationen kümmern, finden eben an den Grenzen statt, wo die Grenzlinien als Orte des Austauschs und gemeinsamer Bewährungen von Fremden und für Fremde wahrgenom­men werden. Man versteht auch, dass die Flüchtlinge par excellence die Akteure dieser Weltpolitik sind, nicht nur als Empfänger sozialpolitischer Maßnahmen, die sowieso Teil einer staatlichen Politik sein sollten: sich um die Migranten kümmern, die Hilfsmaßnah­men der Gastfreundschaft entfalten, ihre Eingliederung in das Gemeinschaftsgefüge ge­währleisten usw., sondern auch als überraschende, störende und innovative Akteure: als Erfinder neuer Formen eines postnationalen zivilbürgerlichen Handelns, als Träger neuer Formen des Bürgersinns und neuer sozialer Bindungen, die von den Obsessionen eines Strafsystems mit dessen Bevorzugung nationaler Zugehörigkeit befreit sind. Die Flücht­linge, die nur in Ausnahmefällen eine Gefahr darstellen und nur sehr selten die Rolle von Krankheitserregern spielen, sind niemals nur die Opfer gewaltsamer Konflikte, abscheuli­cher Diktatoren und einer globalisierten Finanzwirtschaft, die ihre die Alltagswelt zerstö­ren; sie sind immer auch Akteure, und ihre einzigartige und kollektive Art und Weise Ak­teure zu sein gestaltet unser Verständnis von Politik neu. An den Grenzen, in improvisier­ten und prekären Zwischenaufenthalten, in Lagern, die an den Überlaufpunkten der Exil­wege provisorisch installiert werden, in den verstreut besetzten Häusern, aber auch in rie­sigen dauerhaften Flüchtlingslagern werden andere Beziehungen erfahren und andere Hoffnungen gehegt, begegnen sich andere Wünsche, werden andere Formen der Kollekti­vität erfunden, stellt man sich eine andere Zukunft vor als jene Zukunft, um die in unse­ren armseligen Wahlkampagnen gefeilscht wird. Es ist dies Andere - andere Personen, andere Sichtweisen, andere Erfahrungen, andere Wünsche, andere Geschichten, andere Projekte, dem wir unsere Aufmerksamkeit widmen sollten, dem ernsthaft Aufmerksam­keit geschenkt werden muss, wenn man wahrnehmen will, was hier über unsere Zukunft entschieden wird und was die Regierungen und die internationalen Ämter für die Steue­rung von Migrationströmen und Vertriebenen nicht kennen oder missachten.19 Eine Xe­nopolitik ist keine Politik für die Ausländer, sondern nur die Kehrseite der polizeilichen Repression, in der sich das staatliche Denken und Handeln gegenüber den Migrationen erschöpft. Eine Xenopolitik ist eine Politik mit den Flüchtlingen, ein gemeinsames Han­deln, die alltägliche Herstellung einer Mitbürgerschaft, aus der Bindungen zwischen Men­schen, Gemeinschaften und Welten entstehen: Orientierungen im Sinne des Politischen, des Bürgerschaftlichen und der Weltlichkeit, die bei Emanzipationskämpfen immer ent­scheidend sind, sie sind die Raison d’être von Politik.20
Man muss kein Prophet sein, um ohne Übertreibung zu behaupten, dass eine geistige Umstellung reicht, was Miguel Abensour auf seine Weise eine „utopische Umstellung “21 nannte, um in den Exilen unserer Zeit Zeichen einer unvermeidlich erscheinenden politi­schen Revolution zu erkennen, deren Ausmaß wir einschätzen müssen, um sie nutzen zu können. Die Chance, die damit aufgezeigt wird, ist die Chance eines äußerst lebendigen demokratischen Erfindungsreichtums, wie sie sich in der Vergangenheit der Menschheit vielleicht nur zwei oder drei Mal geboten hat, die Chance einer „mondialisation“ der De­mokratie, die nicht in einer globalen Vereinheitlichung der Regelungen der Macht zu ei­nem planetarischen Regierungsapparat nach Art der UNO besteht, sondern vielmehr in der Stärkung von heterogenen Feldern demokratischen Experimentierens jenseits von Grenzen und Souveränitäten, einem transversalen und transitiven Experimentieren der Völker, die einen Neuanfang unternehmen und aktiv und kreativ sind. Lasst uns lernen, die Weltenerfinder an unseren Grenzen zu sehen und zu hören! Lasst uns lernen, mit ih­nen und nicht gegen sie zu handeln! Möge endlich eine Politik beginnen, die sich der Ge­genwart zuwendet...

 

Aus dem Französischen von Zoé Locher

 

1 Jules Barbey d’Aurevilly: Pensés détachées, Paris, Alphone Lemerre, 1889, Pensée XXX, S. 21.

2 Das nicht zu Rechtfertigende. Monique Chemillier-Gendreau: L’injustifiable. Les politiques françaises de l’immigra­tion, Paris, Bayard, 1998.9

3 Ebd., S.162.

4 Ebd., S.165.

5 Ebd., S.168.

6 Siehe dazu den Artikel vom 06.06.2017 in der Schweizer Zeitung Le Temps von Alexandre Casella: https://ww­w.letemps.ch/opinions/2017/06/06/migration-leurope-vatelle-mur

7 Der Begriff Xenopolitik stammt aus dem Buch von Sophie-Anne Bisiaux: Commun parce que divisé. Le monde à l’épreuve de l’étranger, Paris, Editions Rues d’Ulm, 2016. Die Autorin definiert Xenopolitik als Ausländerpolitik (die für die Ausländer, aber vor allem mit ihnen entwickelt wird), als „Politik, deren entscheidende Dimension die Verbindung zum Äußeren (exteriorité) und zum Anderssein (extranéité) ist. Ohne diese Verbindung wäre jede „Gemeinschaft in ihrem Eingeschlossensein, ihrer Unbeweglichkeit und ihrer Lückenlosigkeit festgefahren“, S. 18.

8 An der Schnittstelle zwischen moralischer Verpflichtung und kolonialer Schuld könnte man, wie mir Marie-Caro­line Saglio-Yatzimirsky vorschlug, noch eine andere Verpflichtung hinzufügen, die die ehemaligen Kolonial­reiche an ihre ehemaligen Kolonien bindet, nämlich die Erledigung bzw. die Übernahme einer Arbeit, die auf­grund der Ausbeutung der Rohstoffe vernachlässigt wurde. Man müsste in diesen Ländern ausreichende Infra­strukturen schaffen, um den notwendigen Technologietransfer sicherzustellen. Es mag verwundern, dass die Idee einer na­tionalen Unternehmung (die einen Teil des öffentlichen Haushalts betroffen hätte) keine größere und systematis­chere Aufmerksamkeit in Frankreich hinsichtlich der Tilgung der Staatsschulden erregte.

9 Es ist nicht wichtig zu wissen, ob Frau Merkel hier aus Treue zu den europäischen Werten oder aus einem politi­schen Kalkül mit Blick auf einen Ausgleich einer sehr niedrigen Geburtenrate gehandelt hat. Dieser politische Pragmatismus hat seine Gründe, die die Prinzipien nicht entehren.

10 Für eine Analyse dieser Existenzbedingung erlaube ich mir, auf E. Tassin: Le maléfice de la vie à plusieurs, Paris, Bayard, 2012 hinzuweisen, Kap. 9.: „Diogène et les cosmopolites. Condition migrante et cosmocitoyenneté“, S. 265.

11 Siehe E. Tassin: „L’Europe cosmopolitique : l’épreuve du non européen“, in: Jean-Marc Ferry, L’idée d’Europe. Prendre philosophiquement au sérieux le projet européen, Paris, Presse universitaires Paris Sorbonne, S. 242-259 ; Camille Louis und Etienne Tassin: „L’Europe au prisme de son rapport aux autres“, in Noèsis, vol. 30 : Europe, Nice, Herbst 2017 (http://crhi-unice.fr/revue-noesis).

12 Siehe C. Louis und E. Tassin: „La république et les exilés: de deux marches contraires“, https://

blogs.mediapart.fr/edition/la-jungle-et-la-ville/article/100617/la-republique-et-les-exiles-de-deux-marches-con­traires.

13 E. Benveniste: Le vocabulaire des institutions indo-européennes, Paris, Minuit, 1969, vol. I., Economie, parenté, so­ciété, Kap. 7, S. 87f.

14 Siehe B. Boudou: Politique de l’hospitalité, Paris, Ed. du CNRS, 2017.

15 Siehe E. Tassin: „La mondialisation contre la globalisation : un point de vue cosmopolitique“, in: Sociologie et So­ciétés, vol. XLIV, n°1, Frühling 2012, Presses université de Montréal (Québec), S. 143-166.

16 Siehe E. Tassin: „La traversée des apparences. Notes sur les paysages de la migration“, in: Carnets du paysage n°23 : „Paysages en migrations“, Actes Sud / ENSP, oct. 2012.

17 M. Agier: La condition cosmopolite. L’anthropologie à l’épreuve du piège identitaire, Paris, La Découverte, 2013. Siehe auch von dem gleichen Autor Le couloir des exilés. Etre étranger dans un monde commun, Bellecombe-en-Bauges, Editions du Croquant, 2011.

18 Siehe E. Tassin: Un monde commun. Pour une cosmopolitique des conflits, Paris, Seuil, Coll. “La couleur des idées”, 2003, aber vor allem das Buch von Monique Chemillier-Gendreau: De la guerre à la communauté universelle. Entre droit et politique, Paris, Fayard, 2013.

19 Siehe C. Louis und E. Tassin: „Témoigner de la puissance d’agir“, in: Hippocampe n° 25, Lyon, Univers, Mars/Avril 2016, https://blogs.mediapart.fr/edition/la-jungle-et-la-ville/ar­ticle/141016/temoigner-de-la-puissance-dagir

20 Siehe C. Louis: „Hôtel City Plazza. Ce que peut encore dire hospitalité“, erscheint bei Plein Droit, revue du GISTI (www.gisti.org/plein-droit).

21 M. Abensour: „La conversion utopique: l’utopie et l’éveil“, in: L’homme est un animal utopique, Utopiques II, Paris, Sens & Tonka, 2013, S. 13f.