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Ausgabe 1, Band 9 – November 2018

 

 

Editorial

 

Pluralität ist ein zentraler Begriff in Arendts Denken, dessen Tragweite leicht übersehen wird. Denn im Denken des Liberalismus, der auf Individualität und individueller Autono­mie beruht, spielt Pluralität keine qualitative, sondern nur eine quantitative Rolle im Sinn einer Vielfalt, die man messen kann. Für Arendt ist dagegen „das Faktum menschlicher Pluralität die grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens“, das sich als Gleichheit und als Verschiedenheit manifestiert, zwar erfahrbar, aber nicht messbar. Es ist gerade diese unendliche Verschiedenheit, die im Handeln und Sprechen zum Ausdruck kommt, die für Arendt von so entscheidender politischer Bedeutung ist und ständig von der Übermacht der Informationen bedroht wird. Sie bedarf daher einer besonderen politi­schen Sensibilität zu ihres Schutzes und ihrer Wahrnehmung und verleiht dem politi­schen Miteinandersprechen und Handeln erst die tiefgehende Signatur, durch die sie un­auslöschlich Teil des geschichtlichen Gedächtnisses wird.

Aus dieser Beschreibung von Pluralität folgt für Arendt ein starker Begriff von Freiheit, Politik und Verantwortung, der heute angesichts von Populismus, Nationalismus und Re­trotopia (Bauman) noch mehr als durch einen apolitischen Liberalismus in Frage gestellt wird. In „Karl Jaspers: Bürger der Welt“ entwarf Arendt 1957 die kosmopolitische Per­spektive einer Pluralität von „Bürgern vieler Nationen und Erben vieler Vergangen- heiten“. Heute kehrt angesichts der Herausforderungen der Globalisierung, des Kriegs im Nahen Osten, der Flucht Vieler vor Hunger und Krieg und der Attraktivität autoritärer, vermeintlich einfacher Lösungen das wieder, was Arendt vor 60 Jahren als „politische Apathie“ angesichts der „ungeheuren Gefahren und untragbaren Lasten der ‚Weltpolitik’ mit der Folge eines isolationistischen Nationalismus und einer verzweifelten Rebellion gegen moderne Technik“ beschrieb. Was Arendt dem entgegensetzte, klingt sehr aktuell, nämlich dass wenn nicht „gegenseitiger Hass und ein gewissermaßen univer­sales Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-fallen“ zunehmen sollen, „in gigantischem Ausmaß ein Prozess gegenseitigen Verstehens und fortschreitender Selbsterklärung einsetzen“ muss. Wohl gemerkt, „Verstehen“ und „Selbsterklärung“: Sie haben nichts mit Lager­kämpfen, der Überwältigung der Anderen durch Diskussion oder gar mit Dogmatismus zu tun. Sie bedürfen, so Arendt, an erster Stelle des Verzichts auf Souveränität und auf die bindende Autorität partikularer Traditionen. Nicht im Rückzug und der Abschottung, sondern in der Öffnung und der Begegnung mit dem Verschiedenen und Einzigartigen liegt die Perspektive Europas, nicht im Nationalismus, sondern in der Perspektivenvielfalt des Kosmopolitismus.

Die Autoren und Autorinnen dieser Ausgabe gehen verschiedenen Aspekten der Plura­lität nach. Im Gedenken an den überraschend verstorbenen, geschätzten Kollegen Éti­enne Tassin  veröffentlichen wir einen seiner letzten Essays, der sich mit der gegenwärti­gen französischen Migrationspolitik befasst. Er schlägt eine zu schaffenden Xenopolitik vor und wirft dabei die Fragen auf, wer die Flüchtlinge sind, wie eine politische Entscheid­ung zugunsten der Gastfreundschaft gegenüber den Flüchtlingen zu begründen wäre, die keine einfache moralische oder rechtliche Verpflichtung darstellt und den Exilierten gegenüber vernünftig sein soll, und wie eine kosmopolitische Richtung zu denken wäre, zu der uns die Globalisierung veranlasst.

Sophie Loidolt befasst sich mit Arendts Phänomenologie und analysiert deren Paradig­ma der Pluralität einerseits als Voraussetzung ihres Begriffs des Politischen und anderer­seits als Anlass der von Arendt vorgenommenen Veränderung und Politisierung klassi­scher phänomenologischer Methodologien und Grundbegriffe wie Intentionalität, Er­scheinen, Erste-Person-Perspektive, Subjektivität, Intersubjektivität und Welt. Daraus lässt sich, so Loidolt, eine Ethik der Pluralität entwickeln.

Waltraud Meints-Stender verweist auf die enge Bindung von Pluralität und Macht, die Arendt vor dem Hintergrund ihrer Totalitarismus-Analyse in Abgrenzung zu Heidegger, aber auch zu Aristoteles und Schmitt, entwickelt.

Jan Bergner, Janick Banyuaji Ellwein und Tobias Valentin Jerzewski gehen den Be­dingungen der Konstituierung eines pluralen politischen Gemeinwesens nach und be­schreiben die enge Verknüpfung, die Arendt zwischen dem Konzept einer existentiellen Pluralität mit dem institutionellen Konzept des Föderalismus herstellt. Damit wird Arendts Beitrag zu einer selten geführten politisch-philosophischer Diskussion des Föde­ralismus deutlich.

Einen ebenso wichtigen Rang neben der Pluralität des Handelns nimmt die Pluralität des Urteilens ein, von Astrid Hähnlein als Ort des politischen Urteilsvermögens charakte­risiert, den Arendt in der Beschreibung von Karl Jaspers als ‚Raum der humanitas‘ be­zeichnet und umgekehrt Jaspers in Beschreibung des Arendtschen Denkens als ‚Ort unab­hängigen Denkens‘. Es ist schließlich der „Raum der humanitas“, in dem auch Arendts ei­genes Denken und Urteilen stattfindet.

Dass es für das Urteilen nicht nur der Pluralität der Urteilenden bedarf, sondern zur Überwindung von Vorurteilen und zur Vorbereitung der Reflexion auch der Präsentation des zu beurteilenden Falls oder Gegenstands, untersucht Ringo Rösener mit Hilfe des Films „Stand by Me - Geheimnis einen Sommers“.

Maria Robaszkiewicz nimmt die gegenwärtige Herausforderungen der Migrations-De­batte zum Anlass, zu prüfen, inwieweit Arendts Konzept des politischen Urteilens Urtei­lens zur Verbesserung des öffentlichen Diskurses benutzt werden kann. Angeregt durch Arendts Essays als „Übungen im politischen Denken“ entwirft sie drei „Modelle“ mit je­weils einem „Fallbeispiel“.

Die juristische Dimension des Urteilens beleuchtet Stefanie Rosenmüller. Sie greift Arendts Kritik an der Abstraktheit der Menschenrechte und ihren Entwurf eines auf Bei­spielen beruhenden reflektierenden Urteilens auf, um zu prüfen, inwieweit Beispiele, die nicht in bestehende ein- und ausschließende Kategorien passen, die Grundlage für neue rechtliche Bindungen darstellen.

Schließlich veröffentlichen wir wir die Transkription eines öffentlichen Gespräch im Rahmen des von Studierenden am Bard College NY geleiteten Campus Plurality Project. Es geht in einer von Identitätspolitiken dominierten Zeit um die Ermöglichung eines Dis­kussionsraums für kontroverse und auch unpopuläre Ansichten. Wer soll an einen Cam­pus eingeladen werden, wer darf sprechen, wer übt dabei Macht aus, und was bedeutet es, sich unbehaglich zu fühlen?

Die Redaktion