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Ausgabe 1, Band 8 – April 2016

 

„Kritik und Gewalt“

Bericht über den Hannah-Arendt-Workshop an der Universität Trier (4./5. Juni 2015)

Astrid Hähnlein

 

Dass der Arendtsche Machtbegriff mit jedweder Form von Gewalt unversöhnbar ist, darf in der Forschung als Gemeinplatz gelten und wurde bereits seit Arendts Zeiten an ei­ner Vielzahl von Beispielen exemplifiziert. Bei dem Hannah-Arendt-Workshop am Semi­nar für Politikwissenschaft der Universität Trier, zu dem Christian Volk und Ole Meine­feld im Juni 2015 unter der Überschrift Kritik und Gewalt geladen hatten, stellte sich je­doch heraus, dass es zu dem Gegensatz von Macht und Gewalt im Denken Hannah Arendts auch heute noch Vieles zu sagen gibt.

   Der erste Teil des Workshops widmete sich Perspektiven der Arendt-Forschung und bot Raum für grundlegende Standortbestimmungen (Wolfgang Heuer) und neue Wege, Arendts staatstheoretische Vorstellungen und Totalitarismusanalysen zu erhellen (Ole Meinefeld, Christian Dries).

   Wolfgang Heuer (Berlin) verortete Hannah Arendt jenseits akademischer und intel­lektueller Welten und thematisierte damit sowohl die Möglichkeiten des Umgangs mit Arendts Werk als auch das ihr eigentümliche Grenzgängertum. Arendt entwirft kein sys­tematisches Theoriegebäude, keine explizite Theorie des Handelns oder der Natalität. Was man bei ihr lernen kann, ist ein unabhängiges, von Denkschulen ebenso wie von der Erwartungshaltung wissenschaftlicher Raster und Methodenzugriffe befreites Denken. In diesem Sinne präsentiert Wolfgang Heuer sie als Nichtakademikerin und Nichtintellektu­elle. Stattdessen begriff er Arendt als Bürgerin und d.h., dass sie die Welt ausgehend vom Standpunkt des ‚Dazwischen‘ versteht. Sie ist nie Außenstehende, sondern immer auch Betroffene – eine Haltung, die sie in Auseinandersetzung mit dem Kantischen allgemei­nen Standpunkt entwickelt. Der Ort, von dem aus Arendt denkt und urteilt, ist kein Archi­medischer, objektiver Punkt, verliert sich jedoch auch nicht in vereinzelter Subjektivität. Vielmehr ist Arendts Denken eines der Intersubjektivität, der Eingebundenheit, des inter homines esse. Dem entspricht ihr Konzept von Persönlichkeit – den Darstellungen der Menschen in finsteren Zeiten entnommen –, das von menschlicher Involviertheit, von ei­nem Denken und Urteilen zeugt, welches mit Emotionen und Verstand Position bezieht. So ist es nur konsequent, dass Arendt die von ihr Portraitierten nicht als Philosophen, Historiker oder Literaturwissenschaftler begreift, sondern als Personen im öffentlichen Raum. Was Menschen wie Karl Jaspers in besonderer Weise auszeichnet, ist nicht ihre fachliche Expertise, sondern die Art ihres Urteilens ‚im Dazwischen‘, ihr gesunder Men­schenverstand, den zu profilieren Wolfgang Heuer als eines der wesentlichen Anliegen Arendts begriff.

Ole Meinefeld (Trier) wies auf die Bedeutung Politischer Stile bei Hannah Arendt hin, die sich in ihren biographischen Miniaturen finden. Im Stil zeigt sich die Identität einer Per­son, d.h. die ihr eigene Art und Weise, für politische Inhalte einzutreten. Unter einem Stil ist ferner die Verkörperung einer politischen Ordnung zu verstehen, die in individuellen Persönlichkeiten die historische Konkretion ihrer Prinzipien findet. Werden verschiede­nen politischen Ordnungen (Monarchie, Republik) seit Montesquieu unterschiedliche Handlungsprinzipien zugeordnet (Ehre, Tugend), so drücken konkrete Handlungen ent­sprechende politische Stile aus (hierarchisch, egalitär). Stile sind so als relativ konstantes Charakteristikum einzelner Handlungen zu begreifen und stellen eine expressive Dimen­sion politischer Ordnungen dar. Am Beispiel John F. Kennedys zeigt sich der egalitäre re­publikanische Stil, der durch Kennedy im Sinne eines primus inter pares ausgefüllt wird.

   Es stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status von derartigen Stilen. Ole Mei­nefeld beantwortete sie mit Blick auf den Arendtschen Begriff der Person, der eine perfor­mative und eine narrative Ebene aufweist: Der Stil von politischen Akteuren tritt in der Augenscheinlichkeit ihrer Handlungen in die Welt und wird durch andere Akteure aufge­griffen, besprochen und tradiert. Ein Stil ist also keine metaphysische Ebene des Politi­schen; er ist, solange er vernehmbar für andere gelebt bzw. überliefert wird.

   Ole Meinefeld vertrat die These, dass der Stilbegriff Wesentliches zum Verständnis des Republikanischen im Denken Hannah Arendts beiträgt und somit hilft, eine Leerstel­le in ihrer Konzeption politischer Ordnungen zu füllen. Diskussionswürdig bleibt, ob eine solche Erwartung ein geschlossenes (oder zu schließendes) Theoriegebäude voraussetzt, das mit Wolfgang Heuer gerade nicht anzunehmen ist.

   Suchte Wolfgang Heuer nach dem Ort des Arendtschen Denkens und Ole Meinefeld nach ‚leeren Stellen‘ darin, so lotete Christian Dries (Freiburg) seine Grenzen aus und er­kannte in Natalität und Muselmann: Hannah Arendts Grenzfiguren der. Während der handelnde Mensch auf der einen Seite die personifizierte Natalität, das außerordentliche Ideal darstellt, ist auf der anderen Seite als seine Negation der ‚Muselmann‘ anzusiedeln, die Schreckensfigur des Konzentrationslagers. Physisch wie psychisch enthumanisiert er­scheint er als lebender Toter und steht für die Ausrottung menschlicher Spontanität. Un­ter den experimentellen Bedingungen des Lagers hervorgebracht, ist er das Ziel des Tota­litarismus, welcher statt Bürgern allein einer Reiz-Reaktions-Masse bedarf. Als aus­tauschbarer, berechenbarer Funktionsträger gleicht der Muselmann den menschlichen Massen in Arendts Gesellschaftskritik und so erkannte Christian Dries in ihren Analysen des Konzentrationslagers ein mahnendes Motiv für uns „potentielle Muselmänner“.

   In kritischer Auseinandersetzung mit den beiden Grenzfiguren bemühte sich Christi­an Dries um eine über Arendt hinausgehende Umdeutung des Lagers, welches von ihr als Negierung des politischen Raumes beschrieben gemacht wird. Aus soziologischer Per­spektive zeige sich hingegen eine zwischenmenschliche Dynamik des Lagerlebens, welche dieses als „hochpolitisch“ erscheinen lasse. Umgekehrt ist auch die Natalität nicht unge­brochen positiv zu deuten. Zwar ist sich schon Arendt der Aporien des Anfangs bewusst und bedenkt deshalb die Möglichkeiten des Verzeihens und Versprechens. Doch unter Verweis auf den menschengemachten Anfang des Totalitarismus zeigte Christian Dries die besondere Ambivalenz der Natalität.

Seine Ausführungen stellten ein Plädoyer für eine konstruktive Verschränkung der Arendtschen Konzepte dar, für eine Anwendung von Begriffen in Gebieten, aus welchen Arendt sie zunächst kategorisch ausschließt (z.B. der Begriff des Handelns in Bezug auf das KZ-Leben). Zu fragen bleibt, ob und wie sich mit Arendt das „Lager als Handlungs­raum“ oder eine „nationalsozialistische Urteilskraft“ noch denken lassen und worauf eine solche begriffliche Entgrenzung hinauslaufen sollte.

   Der zweite Teil des Workshops galt dem Leitthema Kritik und Gewalt. Neben neuen Perspektiven auf Arendts Machtbegriff (Waltraud Meints-Stender) wurde die Notwendig­keit der Rehabilitierung des Gewaltbegriffs aufgezeigt (Hans-Jörg Sigwart) und scharf kritisiert (Jürgen Förster). Der abschließende Vortrag schenkte den geistigen ‚Gewalten‘ des Arendtschen Spätwerkes Beachtung (Frauke Kurbacher).

   Mit ihrem Vortrag Kritik der Postdemokratie – zum Verhältnis von Demokratie und Macht wandte sich Waltraud Meints-Stender (Mönchengladbach) gegen Oliver Marcharts Annahme, dass es bei Arendt eine Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politi­schen gibt. In Anlehnung an Horkheimer und Arendt müsse man eher von einem traditio­nellen und einem kritischen Politikbegriff sprechen. Den traditionellen Begriff verknüpft Arendt mit einem gesellschaftlichen Machtbegriff, während sie für den kritischen Begriff einen politischen Machtbegriff entfaltet, der als Kritik an Herrschaft zu verstehen ist. Das Problem, das in der Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen thematisiert wird, findet sich in Arendts politischem Machtbegriff wieder, der in zwei Formen er­scheint: als lebendige und als materialisierte Macht, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen; einander hervorbringen, aber zugleich negieren. Ist dieser Vermitt­lungszusammenhang nicht gegeben, ist von „fremder Macht“, von Herrschaft zu spre­chen. Jedoch sollte Arendts analytische Trennung von Herrschaft und Macht nicht vor­schnell aufgegeben, Herrschaft nicht kategorisch ausgeklammert werden. Denn gerade ihr Machtbegriff liefert die Basis dafür, zu entscheiden, ob ein Sachverhalt konsensuell oder konflikthaft ist, d.h. von lebendigen Machtstrukturen gestaltet oder ‚fremdbestimmt‘. Erst im Handeln und Sprechen (also durch diejenigen Tätigkeiten, die Machtstrukturen realisieren) sind Dehumanisierungs- und Unrechtserfahrungen über­haupt erkennbar, um sich in einem zweiten Schritt handelnd und sprechend gegen sie richten zu können. Durch Abgrenzung von anderen Machtbegriffen trat das Potential der Arendtschen Theorie hierbei klar zutage: Erscheint Foucaults Machtbegriff als zu weit, um auf der begrifflichen Analyseebene ein Instrument zur Unterscheidung verschiedener Formen von Macht darzustellen, so ist Habermas’ Vorstellung von Macht zu kognitivis­tisch und rationalistisch, um der Ebene der Erfahrung gerecht zu werden.

   Dass und wie zwischen verschiedenen Ebenen der Begrifflichkeiten Hannah Arendts zu unterscheiden ist, wurde in den Diskussionen immer wieder thematisiert. Die Ver­schränkung von Lebenswelt und Reflexion ist eine Eigenheit des Arendtschen Denkens, das sich nicht in weltfremden Spekulationen oder nackter Begriffsarbeit ergeht. Hierin begriff Maike Weißpflug Hannah Arendt gerade nicht als Philosophin, sondern als „The­rapeutin der Philosophie“.

Hans-Jörg Sigwart (Erlangen) verstand Macht und Gewalt als Logiken der Praxis bei Hannah Arendt. Wird die Gewalt von Arendt als ‚Grenzphänomen des Politischen‘ cha­rakterisiert, so kommt  ihr gerade darin konstitutive Bedeutung für ihr Politikverständnis zu. Demnach gilt es, den starren Ausschluss der Gewalt aus dem Bereich des Politischen zu überdenken. Auch Gewalt sei als Modus der menschlichen Interaktion, als Umgang mit der conditio der Pluralität zu begreifen. Ihr Spezifikum, welches sie letztlich gegenüber der Macht diskreditiert, ist die instrumentelle Logik des Herstellens. Sie ist mit Arendt als die Verkehrung des eigentlich zwischenmenschlichen Bezuges anzusehen: der Andere wird funktionalisiert, zum Gegenstand zweckrationaler Erwägungen. Demgegenüber steht die personale Logik des Handelns, die der menschlichen Spontaneität entspricht und auf die gemeinsame Gestaltung der Welt ausgerichtet ist.

   So unterschiedlich die ihnen inhärenten ‚Logiken der Praxis‘ (P. Bourdieu) auch sind; im Konkreten treten Macht und Gewalt i.d.R. gemeinsam auf – ein Zusammenspiel, für das Frauke Kurbacher das eindrückliche Bild der Kippfigur prägte, i.S. eines Phänomens, das sich auf den zweiten Blick als etwas ganz Anderes, wenn nicht gar Gegenteiliges dar­stellt. So verdeutlichen Arendts Analysen der amerikanischen Revolution, dass jedem Neuanfang (d.h. dem Keim von Machtstrukturen) ein Moment der Gewalt und somit der Willkür inhärent ist. Im Ergebnis ist von der Fokussierung auf den Machtbegriff abzu­rücken und mit Blick auf die Konzeption von Gewalt Arendts Politikbegriff von den ‚Rän­dern‘ her zu begreifen. Aber was wird durch das ‚Grenzphänomen‘ aus dem ‚Zentrum‘? Welche Auswirkungen hat eine Ausdifferenzierung (oder gar Aufwertung) des Gewaltbe­griffs für den Arendtschen Machtbegriff?

   Anders als sein Vorredner führte Jürgen Förster (Aachen) unter dem Titel Arendt und die Kritik der Gewalt die Bedeutung der Diskreditierung jedweder Form von Gewalt aus dem Bereich des Politischen als originäre Stärke von Arendts Denken vor Augen. Arendt wurde als Kritikerin der neuzeitlichen Politischen Philosophie und ihrer Akzep­tanz von Gewalt als Mittel bzw. Modus von Politik vorgestellt. Durchbuchstabiert u.a. an der Hobbesschen Staatskonzeption zeigte Jürgen Förster auf, dass die wirkliche Quelle der Macht hier nicht benannt wird. Dass Gewaltmittel in der Lage sind, Gehorsam durch­zusetzen, leuchtet unmittelbar ein. Aber wer hält die Gewalt aufrecht, wenn der Tyrann schlafen geht? Was der Gewaltherrschaft eigentlich zugrunde liegt, ist die stillschweigen­de Übertragung von Macht, der stumme Zuspruch aller.

   Wie Hans-Jörg Sigwart erkannte auch Jürgen Förster die Vermengung von Macht und Gewalt in der Praxis als Faktum an, zog daraus jedoch nicht wie Sigwart den Schluss, sich mit der Gewalt differenzierter auseinanderzusetzen, sondern nach ihrer Legitimität zu fragen und ihr diese abzusprechen. Mit Arendt sei ein Machtbegriff entgegenzusetzen, der beansprucht, den Dissens im Dialog auszutragen, und ein Politikbegriff, der als das Stiften dauerhaft tragender Beziehungen verstanden wird. Arendts Denken wird begriffen als ein Aufruf, über die Mittel des Handelns nachzudenken und die Gefahren der Gewalt sowie ihre Unkontrollierbarkeit ernst zu nehmen. Gewalt erscheint so aus gutem Grund als ‚Grenzphänomen des Politischen‘, das auch im Weiterdenken mit Arendt auf Distanz gehalten und kritisch beäugt werden sollte.

In Frauke Kurbachers (Berlin/Wuppertal) abschließendem Vortrag Gewaltenteilung – Zur kritischen ‚Vermögenslehre‘ Hannah Arendts ging es nicht um die Klärung des Arendtschen Gewaltbegriffes im engeren Sinne. Vielmehr verwies sie auf einen ganz an­deren Begriff von Gewalt im Werk Arendts und rückte hierfür diejenigen ‚Gewalten‘ (i.S.v. menschlichen Vermögen) in den Fokus, welche die Denkerin in ihrem Spätwerk Vom Le­ben des Geistes untersucht. Ist Aristoteles Arendts grundlegender Bezugspunkt, so sind Denken, Wollen und Urteilen subjekttheoretisch v.a. als Stellungnahme zur Kantischen Unterscheidung von theoretischer Vernunft, praktischer Vernunft und Urteilskraft zu ver­stehen. Frauke Kurbacher zeigte zudem in erhellender Weise die Bezüge zur Konzeption der Gewaltenteilung nach Montesquieu und stellte den geistigen Vermögen des Menschen Legislative, Exekutive und Judikative an die Seite. Gerade durch die eigenwillige Verzah­nung dieser drei Modelle – Aristoteles, Kant und Montesquieu – sind Arendts geistige Tä­tigkeiten auf der Schnittfläche von philosophischer und staatstheoretischer Vermögens­lehre zu verorten; stellt ihre Konzeption eine Vermittlung von Personalität und Pluralität dar.

   Denken, Wollen und Urteilen sind als drei grundverschiedene geistige Tätigkeiten zu verstehen. Sie differieren in ihrer Vollzugsform, ihrer Ausrichtung und v.a. dem Grad ih­rer weltlichen Entzogenheit. Während der Denkende als Personifikation der Weltverges­senheit angesehen werden kann, drängt der Wollende zur Tat, zur weltlichen Involviert­heit. Der Urteilende hingegen sucht den passenden Abstand zum Geschehen – den Kanti­schen allgemeinen Standpunkt –, um von dieser Position aus mit geschärftem Blick urtei­lend tätig zu sein. Gemeinsam ist den geistigen Tätigkeiten eine spezifische Lebendigkeit, ihre jeweils eigene Intersubjektivität, im Sinne einer durchaus produktiven interpersona­len Wirksamkeit. Jede der drei Tätigkeiten realisiert auf ihre Weise die menschliche Plu­ralität – im denkenden Dialog, im wollenden Widerstreit und im gemeinsamen Urteilen.

   In diesem Licht erfuhr die menschliche Innerlichkeit eine spezifische Aufwertung, welche Konsequenzen für philosophische wie politikwissenschaftliche Arendt-Interpreta­tionen mit sich bringt und dem Bild des kontemplativ zurückgezogenen Philosophen einen Neuentwurf der Philosophie entgegensetzt.

   Was bleibt nach zwei Tagen Expertise und intensiver Diskussionen? Zum einen die obligatorische Vielzahl offener Fragen und angefangener Debatten, die dem kommunika­tiven Format des Workshops zu verdanken sind. Zum anderen ein Stück wohltuende Ver­unsicherung über die Grenzen von Arendts Begrifflichkeiten im Allgemeinen und ihren Gewaltbegriff im Speziellen. Hier reichten die Positionen von ambitionierten Neubewer­tungen, über filigrane Ausdifferenzierungen bis hin zu vehementen Warnungen vor der normativen Überhöhung von Gewalt.