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Ausgabe 1, Band 8 – April 2016

 

Elisabeth Gallas: „Das Leichenhaus der Bücher“. Kulturrestituti­on und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945. Schriften des Si­mon-Dubnow-Instituts, herausgegeben von Dan Diner, Band 19. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013,     351 S., 64,99 EURO

 

Dieses spannende wissenschaftliche Buch handelt von der Rettung jüdischer Kulturgü­ter, insbesondere Büchern und Kultgegenständen, aus dem Inferno der europäischen Ju­denvernichtung durch die Nationalsozialisten und von vier Menschen, die dabei heraus­ragend engagiert gehandelt haben, den Gelehrten Salo Baron, Lucy Dawidowicz, Gershom (Gerhard) Scholem, Hannah Arendt. Die in den Titel gehobene Wortprägung „das Lei­chenhaus der Bücher“ stammt von Dawidowicz. Als „the mortual of books“ bezeichnet sie in ihren 1989 erstmals veröffentlichten Memoiren From that Place and Time das soge­nannte Offenbacher Depot in der Nähe von Frankfurt am Main. Dort hatte die amerikani­sche Armee nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Gelände der I. G. Farbenindustrie übernommen und ein großes Sammeldepot eingerichtet. „Über dreieinhalb Millionen Bü­cher und Manuskripte sowie mehrere Tausend Thorarollen und weitere Ritualobjekte“ durchliefen in der kurzen Zeit seines Bestehens (März 1946 bis Juni 1949) das Offenbach Archival Depot (S. 36), das direkt der Militärregierung unterstellt war. Davon wurden 1,4 Millionen Bücher und Objekte an 14 verschiedene Länder restituiert, 700 000 Bücher in die Preußische Staatsbibliothek nach Berlin gebracht, 80 000 Bücher, Periodika, Archiva­lien und Gegenstände dem YIVO New York übertragen, 250 000 Bände an Behörden, Mi­litärregierungsstellen und deutsche Institutionen sowie ca. 80 000 Objekte der JCR über­geben (siehe S. 67).

   Mit einem Kapitel über dieses Depot beginnt Elisabeth Gallas ihr Buch. Die Entste­hung des Depots, seine kurze Geschichte und die damit verbundene Erbediskussion wer­den nachgezeichnet (S. 27-76). Die Offenbacher Bestände sind Zeugen der von verschie­denen Dienststellen des NS-Staates und der NSDAP zu verantwortenden „historisch prä­zedenzlosen Raub- und Zerstörungsgeschichte“ (S. 13) jüdischer Kulturgüter, die die Au­torin in einem Unterkapitel „Raubgeschichte“ kurz skizziert. In einem zweiten Kapitel (S. 77-221) konzentriert sich Gallas auf die Arbeit der Jewish Cultural Reconstruction (JCR), deren Organisation, Aufgabenstellung, Kampf um Anerkennung und Vorstellungen über jüdisches Leben nach dem Holocaust, um im dritten Kapitel (S. 222-274) die „Erfah­rungsräume“ der genannten Persönlichkeiten auszuloten, ihren jeweiligen Bemühungen um das jüdische Kulturerbe, ihren Vorstellungen von der „reconstruction“, der Erhaltung der „traditionsreichen jüdischen Lebenswelten Europas“ (S. 91), sowie der „Gedächtniss­pur“, die die rettenden Tätigkeiten im jeweiligen Werk hinterlassen haben, nachzugehen. In grundsätzlicher Hinsicht bestand zwischen den vier Gelehrten Einigkeit: Europa kann der Mittelpunkt jüdischen Lebens nicht mehr sein. Doch wohin und wie sich dieser Mit­telpunkt verlagern sollte – darüber gab es unterschiedliche Vorstellungen, die Gallas auch als generationenbedingt herausstellt. Baron und Scholem als die eine halbe Generation äl­teren Professoren seien in ihren Vorstellungen geprägt von ihren jeweiligen schon vor 1933 gewählten Forschungsgegenständen, Arendt und Dawidowicz dagegen seien als Wis­senschaftlerinnnen zu begreifen, die „nahezu alle ihre wichtigen Werke auf der Folie der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und ihren Erfahrungen damit“ verfassten (S. 273). Baron (1895-1989) wird als sozusagen der „master mind“ der JCR vorgestellt. Sein Engagement reicht in die frühen 1930er Jahre zurück, als er zusammen mit Morris Ra­phael Cohen in New York die Conference on Jewish Relations mit ihrem Publikationsor­gan Jewish Social Studies ins Leben rief. Ab 1930 war er Inhaber des ersten in den USA eingerichteten Lehrstuhls für jüdische Geschichte, Literatur und Institutionen an der Co­lumbia University in New York. Hannah Arendt (1906-1975) war für die JCR in NewYork zeitweise hauptberuflich tätig – ab 1944 und von 1949 an als Nachfolgerin des verstorbe­nen JCR-Geschäftsführers Joshua Starr, der gleichzeitig ein Kollege bei Schocken Books gewesen war. Sie arbeitete in dieser Funktion, wie aus dem 2012 veröffentlichtem Arendt-Scholem-Briefwechsel in Einzelheiten bekannt, mit dem in Palästina/Israel lebenden Gershom Scholem (1897-1982), seit 1941 Inhaber des Lehrstuhls für jüdische Mystik und Kabbala an der Hebräischen Universität Jerusalem, zusammen. Lucy Dawidowicz (1915-1990) war als Mitarbeiterin des Institute for Jewish Research (YIVO, Wilna und New York) sowie Angestellte (1946) des American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) organisatorisch anders vernetzt.

   Gallas sieht, abgesehen von der Aufarbeitung und Schilderung der Fakten, die Aufga­be ihrer Studie darin, „neue Bedeutungsebenen der Restitutionsprozesse herauszustellen“ (S. 23), wobei die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Restitution und Gedächt­nis als ebenso grundlegend angesehen wird wie die Herausarbeitung der Erfahrungsge­schichten von Baron, Dawidowicz, Scholem und Arendt. Sie macht deutlich, dass es in diesem Forschungsfeld nicht nur um Restitutionserscheinungen im Sinne der Rückfüh­rung/Erstattung von geraubten/verlorenen Gütern geht, sondern um sehr viel mehr. Durch die JCR als „Repräsentantin aller Judenheit“ (Baron) wurde das territorial-staatli­che Prinzip durchbrochen, das jüdische Kollektiv kämpfte in einer nicht staatlichen Treu­handorganisation um seine Rechte. Die Juden erhielten „eine gleichberechtigte Stimme im traditionell zwischenstaatlich organisierten Völkerrecht“, was sicherlich auch Hannah Arendts Engagement für diese Organisation befördert hat. Hierzu Gallas: „Die präzedenz­lose historische Situation des Holocaust hatte eine präzedenzlose juristische Situation zur Folge: die Rechtskonstruktion und damit die Anerkennung des jüdischen Kollektivs und seiner institutionellen Repräsentanten jenseits staatlicher Bindungen.“ (S. 172) Diese An­erkennung freilich löste nicht die besitzrechtlichen Probleme, die durch die Raubge­schichte entstanden waren. Wer ist als rechtmäßiger Erbe anzuerkennen und welche Be­stände sollen in Deutschland und den von der Naziherrschaft befreiten europäischen Län­dern, unter den neuen Voraussetzungen des Kalten Krieges, verbleiben? Die Verteilung der erbenlosen Güter und die Rettung des kulturellen Erbes aus Europa in existierenden und/oder neu geschaffenen Einrichtungen in Palästina/Israel und den USA werden des­halb ebenfalls im Kapitel über die JCR behandelt.

   Außerdem sieht Gallas, zu Recht, ihre Arbeit als einen Beitrag zur Gedächtnisge­schichte des Holocaust – einen Beitrag, der sich Erscheinungen widmet, die bis heute nur unzureichend wahrgenommen werden. Die Geschichte der JCR sei angesichts der Tätig­keiten von Folgeorganisationen „nahezu vollständig in Vergessenheit“ geraten (S. 15). Dass es in der Zeit zwischen 1945 bis etwa 1952 eine späteren Auseinandersetzungen mit dem Holocaust (der seinerzeit als Begriff noch nicht die Szene bestimmte) durchaus vergleichbare Diskussion gab, hat Gallas eindrucksvoll herausgearbeitet. Insonderheit der Blick auf Hannah Arendt, der, wenn es um ihre Anschauungen zu jüdischen Fragen geht, durch die Debatten um ihr Buch Eichmann in Jerusalem mehr und mehr eingeengt wurde, wird wieder frei, um zu würdigen, wie sehr Arendt das Schicksal des eigenen jüdischen Volkes am Herzen lag.

   Das Buch, hervorgegangen aus einer Dissertationsschrift an der Universität Leipzig, enthält in der Erzählung und Berichterstattung eine Fülle von Materialien, es ist im guten Sinne tatsachengesättigt und gibt Originalzitaten einen angemessenen Raum. Die Dar­stellung wird ergänzt durch ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis sowie, lo­benswerterweise, ein kommentiertes Namensverzeichnis.

   Am Ende der Schlussbetrachtung (S. 275-287) formuliert Elisabeth Gallas einen Apell weiterzuforschen, um die „Nachgeschichte des Holocaust in ihren Auswirkungen bis heu­te besser zu verstehen“ (S. 287). Konkrete Desiderate nennt sie in diesem Zusammenhang nicht. Doch wird klar, dass die von ihr vorgelegte Studie, was die in den Vordergrund ge­hobenen Institutionen und Persönlichkeiten angeht, nur einen Ausschnitt aus der frühen Nachgeschichte des Holocaust im Kulturbereich darstellt, wenn auch wahrscheinlich den wichtigsten.  

Ursula Ludz