Ausgabe 1, Band 8 – April 2016
Francesca Raimondi: Die Zeit der Demokratie. Politische Freiheit nach Carl Schmitt und Hannah Arendt, Konstanz: Konstanz University Press, 2014, 222 Seiten, € 27,90.
„Die Demokratie macht sich selbst aus ihrer Praxis heraus“ (Raimondi)
Gerade diese praktische Dimension von Demokratie steht im Zentrum ihres Interesses, wodurch sich Raimondi vom Mainstream der aktuellen Demokratietheorien unterscheidet, die ihren Fokus auf die Frage demokratischer Legitimität oder auf das institutionelle Arrangement legen, „ohne dabei der Frage nachzugehen, wie Praktiken Legitimität erlangen und Ordnungen entstehen. […] Freiheit und Gleichheit verwirklichen sich vielmehr erst in und mit der politischen Praxis, die an der Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit teilhat – in diesem Zirkel liegt der Einsatz und auch die ‚Wette’ der Demokratie“ (S. 11).
Diese Ansicht begründet eine weitere Grundansicht Raimondis. Sie plädiert strikt dafür, die Demokratie von ihren etatistischen und institutionellen Engführungen zu befreien. „Demokratien sind keine Staaten, vielmehr werden Staaten demokratisiert und auf demokratische Praktiken (des Entscheidens und Handelns) umgestellt“ (S. 14). Demokratische Praktiken lassen sich nicht territorial oder institutionell einschränken, sondern besitzen immer einen transzendierenden, revolutionierenden Überschuss. „Demokratische Politik ist daher wesentlich eine Politik, die auch jenseits von etablierten Institutionen stattfindet bzw. stattfinden soll. Denn nur von einem solchen Außen her lassen sich die institutionell festgefrorenen Verständnisse von Freiheit und Gleichheit hinterfragen und mit neuen Anliegen konfrontieren“ (S. 15). Hier offenbart Raimondi ein durchaus restriktives Institutionenverständnis, in dem Institutionen immer beschränken, stillstellen, einfrieren und deshalb von außen geöffnet, vitalisiert und verändert werden müssen. Das steht in einer von ihr nicht aufgelösten Spannung zu ihrem Versuch, die Ermöglichungsdimension von Verfassungen und Rechtssetzungen herauszuarbeiten (vgl. S. 140). Dieses Institutionenverständnis kann den Sinn von „Institutionen der Freiheit“ (Arendt) nicht erfassen.
Dessen ungeachtet bleibt aber richtig, dass das Ende des Nationalstaates nicht automatisch das Ende der Demokratie bedeutet. Solange Menschen handeln und Entscheidungen treffen, stellt sich die Frage nach Gleichheit und Freiheit und damit die Frage nach der Demokratie. „Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit“ (EU, 979). Mit Derridas „démocratie à venir“ wendet sich Raimondi gegen abschlusshaftes Denken. Demokratie sei nie fertig, sondern befinde sich immer im Kommen (vgl. S.116). Sie ist immer erst im Begriff, sich zu verwirklichen und deshalb „nie wirklich gegenwärtig“ (S. 99). Freiheit sei kein Zustand, sondern ein permanenter Versuch der befreienden Überschreitung; ein beständiger Prozess der Demokratisierung. Das erklärt auch die Betonung der zeitlichen Dimension im Titel. Praxis verstanden als Entwicklung benötigt Zeit und ist immer in der Zeit. „Demokratie ist eine politische Form, […], die im Prozess ihrer Instituierung verharrt“ (S. 99). Problematisch scheint mir aus einer Arendt’schen Perspektive, dass Raimondi die Gründung der Freiheit und das Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit und Stabilität unterschätzt und zu einer Bejahung der permanenten Revolution neigt.
Um die Demokratie erneut zu einer „offenen Frage“ zu machen, geht Raimondi in zwei Schritten vor. Im ersten Teil des Buches widmet sie sich dem Modell der Volkssouveränität, das sie mit Carl Schmitt entfaltet, einerseits und dem Modell der deliberativen Demokratie, für das Raimondi zufolge Arendt stehe, andererseits. Beide Modelle sind in ihrer Abgeschlossenheit unbefriedigend und stoßen an ihre Grenzen. Je auf besondere Weise vertreten Schmitt und Arendt einen „politische[n] Purismus“ (S. 58), der wesentliche Dimensionen der politischen Freiheit nicht fassen kann. Raimondi unternimmt dann den Versuch einer Neubestimmung der Demokratie anhand der Begriffe Genealogie, Prozess und Subjekt. Hier verbindet sie Ansätze von Derrida, Lefort, Foucault, Rancière und Luhmann auf eine produktive, aber doch sehr abstrakte Weise. Mit Hilfe der Genealogie und der Dekonstruktion Derridas zerstört sie die Idealisierungen, die in den historischen Narrativen Schmitts und Arendt stecken, um ein realistischeres Bild der Gründungsereignisse zu bekommen. Im Abschnitt, der sich dem Prozessualen widmet, erarbeitet Raimondi ein der Demokratie angemessenes Rechts-, Politik- und Verfassungsverständnis, das den immer wieder erforderlichen Befreiungsakten Rechnung trägt. Im letzten Abschnitt fragt sie mit Foucault und Rancière danach, wie der Prozess der Subjektivierung, die Politisierung der Ausgeschlossenen verstanden werden kann und muss.
Das Modell der Volkssouveränität verbindet Raimondi mit Carl Schmitt. Sie adelt Schmitt bei aller Kritik somit als ernstzunehmenden Demokratietheoretiker, was eine nicht geringe intellektuelle und emotionale Zumutung bedeutet. Hannah Arendt wird als Vertreterin der deliberativen Demokratie betrachtet, in deren Zentrum das plurale Handeln und Urteilen stehe. Beide Dimensionen, (souveränes) Entscheiden und Handeln, sind für eine Bestimmung der demokratischen Freiheit wesentlich. Beide Modelle sind ihrer Getrenntheit blind für die jeweils andere Dimension. Schmitt beachte nicht die Entstehung von demokratischen Entscheidungen, die Entstehung eines gemeinsamen Willens. Er setze vielmehr von vornherein das Volk als festes, substantielles Willenssubjekt der Entscheidung voraus. „Arendts Politikbegriff idealisiert dagegen die Pluralität der politischen Praxis als eine nicht-vermachtete, an der alle angeblich gleich frei teilnehmen können. Diese Voraussetzung unterschlägt aber die Position all derjenigen, für die das (noch) nicht gilt, die also unterdrückt und von den politischen Entscheidungen gleichwohl betroffen sind. Für diese Gruppen, […] ist Politik etwas anderes als die Partizipation an einer pluralen Praxis der bereits Freien und Gleichen – und diese Politik der Ausgeschlossenen sprengt in der Tat Arendts Politikvorstellung“ (S. 58; Herv. J.F.). Arendt erkenne nicht, dass Gründungsereignisse durchaus gewaltförmige Schließungsprozesse sind. In jeder Gründung stecke ein gewisses Maß an willkürlicher Gewalt (vgl. S. 101- 132). Dies ist ein sonderbares Argument, weil es ja dazu führt, Gewalt zu rechtfertigen. Wenn jeder Staat notwendig auf Gewalt gründet, wie Trotzki sagt, dann ist der Ausschluss kein Skandal, sondern normal und deshalb ist revolutionäre Gewalt gerechtfertigt. Gleichzeitig kann das Argument von Raimondi nur auf einer faktischen Ebene Geltung beanspruchen. Das normative Prinzip der Pluralität kann es nicht berühren, weil es lediglich die faktische Beschränkung der Pluralität kritisiert und fordert, neue Gruppen in die Pluralität aufzunehmen. Arendt leugnet demgegenüber nicht die Bedeutung des Aktes der Befreiung, von dem sie annimmt, dass er eher gewalthaltig ist. Sie betont, dass dieser Akt nicht mit der Revolution identisch ist, wie es seit der Französischen Revolution eine weitverbreitete Annahme war. Auch für Arendt war das Vergessen der afroamerikanischen und indianischen Bevölkerung ein Skandal (vgl. Arendt 2000a, 311ff.). Aber Befreiung ist nicht Freiheit und löst das Problem des zwischenmenschlichen Zusammenlebens noch nicht. Wenn Raimondi mit Lefort die Gewaltenteilung hervorhebt, „mit der die ursprüngliche Einheit der souveränen Macht, die noch in Rousseaus Republik gelten soll, außer Kraft gesetzt wird“ (S. 127), dann ist es verwunderlich, dass sie von dem föderalen Prinzip, in dem Arendt eine wesentliche Errungenschaft der Amerikanischen Revolution erblickt, kaum Notiz nimmt.
Raimondi erachtet die souveräne Entscheidung als eine unhintergehbare Dimension demokratischer Politik, die auf politische Selbstbestimmung und die Ablehnung jeder Form von Fremdherrschaft und Unterwerfung abzielt. Anders als für Arendt ist für Raimondi nicht die Souveränität das Problem, das die Demokratie lösen muss. „Keine demokratische Ordnung ist ohne Souveränität denkbar und dennoch erschöpft die Souveränität die demokratische Freiheit nicht“ (S. 20). Problematisch werde die Bestimmung der Volkssouveränität bei Schmitt erst, wenn er sie mit der Idee der Homogenität und Identität des Volkes und seiner Freund-Feind Unterscheidung verbinde. Hierdurch würde das Volk zu einer vorgegebenen Substanz, zur Nation oder zur naturhaften völkischen Substanz, wodurch der Bezug der Demokratie zur universellen Freiheit und Gleichheit aller zerstört wird. Mit dieser Verbindung „wird die demokratische Freiheit wiederum aporetisch oder löst sich geradezu auf: Ihre Genese wird unverständlich und ihre weitere Verwirklichung an ein sich notfalls gewaltsam von anderen abschottendes Kollektiv gebunden. Ist demokratische Politik als unbedingte Freiheit des Volkes zu denken und kann eine solche Freiheit sich ohne souveräne Entscheidungs- und Bestimmungsakte nicht verwirklichen, so dürfen diese allerdings keinem von vornherein einheitlichen Volk zugeschrieben werden, will man dessen Freiheit nicht wieder kassieren“ (S. 13). Es stellt sich hier die Frage, warum ein souveränes Kollektiv, ein souveräner Nationalstaat sich dieser Beschränkung unterwerfen sollte. Warum besitzt die Demokratie eine unhintergehbare Beziehung zur universell verstandenen Freiheit? Ein Zeichen der Souveränität besteht doch gerade darin, niemandem Rechenschaft über ihre Entscheidungen und ihr Handeln schuldig zu sein und sich jeder rechtlichen Norm zu entledigen. Niemand kann den Souverän legitimer Weise rechtlich belangen, weil es keine Macht über ihm gibt. Tut man es doch, wie in Nürnberg geschehen, wird es von den Vertretern der staatlichen Souveränitätslehre als Siegerjustiz diffamiert. „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut“ (Schmitt 1993, 18). Souveränität bedeutet uneingeschränkt über die eigenen Grenzen und Mitglieder entscheiden zu können. Ja, sie bedeutet auch das Recht, diese Grenzen überschreiten zu können; ius ad bellum. Staaten „[sind] in keiner Domäne souveräner […], als wo es sich um ‚Emigration, Naturalisation, Nationalität und Ausweisung‘ handelt“ (Arendt 2001, 585). In einem System souveräner Nationalstaaten ist für Arendt das Problem der Staatenlosen nicht lösbar. Solange es die Souveränität des Staates gibt, hängen Staatenlose von der Gnade des Souveräns ab. Es ist nicht überzeugend, wenn Raimondi die Arendtsche Kritik an der Souveränität als eine „Kritik der Reduktion politischer Praxis auf den Akt souveränen Entscheidens und einer allzu buchstäblich verstandenen (also identitären) Selbstbestimmung“ (S. 13) versteht. Arendts Kritik ist prinzipieller und fundamentaler. Souveränität ist für Arendt die Leugnung der Pluralität und damit antipolitisch, da sie die Freiheit unter Gleichen zerstört. Der Grund liegt darin, dass Souveränität, die menschliche Beziehungen Arendt zufolge immer nach dem Muster von Befehl und Gehorsam deutet, die Freiheit als Willensfreiheit und als Unabhängigkeit versteht. Seit Bodin und Hobbes ist das Ideal des Politischen „die Souveränität, die Unabhängigkeit von allen anderen und gegebenenfalls das Sich-Durchsetzen gegen sie“ (Arendt 2000b, 213). Für Arendt ist die Freiheit des Handelns nur jenseits der Egozentrik und Beziehungsunfähigkeit der Souveränität zu haben. Für Schmitt hingegen basiert nicht nur das Recht, sondern auch die Demokratie auf Homogenität, was für ihn das souveräne Recht beinhaltet, das Heterogene auszuschließen und gar zu vernichten (vgl. Schmitt 2010, 14). An der Rechtlosigkeit und Willkür souveräner Politik kann auch die Verschiebung vom Ausnahmezustand zur „relativen Ausnahme“ (S. 38), die Raimondi durchführt, nichts ändern, weil die einzige Entscheidungsinstanz wiederum der Souverän ist, der nach eigenem Gutdünken entscheidet. Das alles weiß Raimondi sehr wohl und wird auch irritierender Weise in ihrem Buch erwähnt (vgl. S. 60ff.). Sie bemerkt selbst, dass die „Entscheidung zur ‚Regellosigkeit’ – zur temporären Aufhebung des Rechts – [...] selbst regellos [ist]“ (S.38), will heißen, sie liegt ganz im Ermessen des souveränen Willens, der von niemandem zur Rechenschaft gezogen werden kann. Das lässt nur den Schluss zu, dass sie diese Positionen von Arendt nicht ernst nimmt. Im pluralen Zwischen des interpersonalen Bezugs, wie es Arendts Handlungsbegriff zu fassen versucht, ist mit der Position der souveränen Entscheidung nicht zu vermitteln. Raimondi gelingt es in ihrem Buch meines Erachtens nicht, die Möglichkeit souveräner, außerrechtlicher Entscheidungen jenseits des Willenssubjektes zu plausibilisieren. Von der restlos zerstreuten, entsubstantialisierten, entkörperten Souveränität kann letztlich nur noch metaphorisch die Rede sein (vgl. 170).
Für Raimondi stellt sich aber eher das Problem des identitären Selbstbezugs. „Wenn Autor und Adressat der politischen Entscheidung niemals absolut identisch sein können, dann genügt es nicht mehr, dass das Volk will – weil es nämlich gar nicht ‚das’ Volk ist, was die Entscheidung trifft“ (S 47). Dann stellt sich jedoch die Frage, wer entscheidet, d.h. wer souverän ist. Wenn in der Demokratie der Ort der Macht leer bleiben muss und keinem Subjekt mehr verkörpert werden kann, wie Raimondi mit Lefort betont, dann kann sich auch kein Subjekt mehr die souveräne Entscheidungsmacht anmaßen, denn dies würde bedeuten, dass es in der Macht des Souveräns liegen würde, zu entscheiden, wie lange er diesen Ort besetzen kann. Der leere Ort der Macht, Arendts Zwischenraum kann nur funktionieren, wenn sich die Subjekte an institutionelle Spielregeln und Versprechen halten und nicht meinen, sie könnten die Regel souverän nach ihrem Gusto gestalten (vgl. S. 127). Erweist sich die Vorstellung eines einheitlichen, kollektiven Willens als unhaltbar, wovon Raimondi zu Recht ausgeht, dann wird auch die souveräne Entscheidungsinstanz zur fatalen Fiktion, die nur funktioniert, wenn alle so handeln würden, als wenn sie einer wären. Damit soll die Wichtigkeit und Notwendigkeit politischer Entscheidungen nicht bestritten werden, es geht vielmehr darum, mit welcher Haltung man Entscheidungen trifft. Nicht jede Entscheidung ist eine souveräne Entscheidung.
Raimondis Buch ist eine Herausforderung. Das Grundanliegen und viele Überlegungen sind mir sympathisch und werden überzeugend argumentiert. Jedoch hinterlässt vor allem die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und der Souveränität einige Fragezeichen und die angestrebte Zusammenführung von Arendt und Schmitt erachte ich eher als gescheitert. Die Notwendigkeit der souveränen Entscheidung für die Demokratie hat sich mir nicht erschlossen. Vielmehr hat sich Raimondis Umgang mit der Bedeutung von Souveränität in zunehmendem Maße ins Nebulöse verflüchtigt. Wenn Raimondi gegen Arendt einwendet, sie hätte versäumt, Freiheit und Befreiung nicht in einem angemessenen Verständnis integriert zu haben, sodass ihre Konzeption einseitig bleibe und ihrem Anspruch, Politik als Freiheit zu verstehen, nicht gerecht würde, was angesichts von ausführlichen Erörterung in Über die Revolution etwas verwundert, so trifft diese Einschätzung eher auf Raimondi selbst zu, da sie Freiheit mit Befreiung identifiziert.
Literatur
Arendt, Hannah, 2000a: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München, Piper.
Arendt, Hannah, 2000b: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, 2. durchgesehene Auflage, München, Piper.
Arendt, Hannah, 2001: Elemente und Ursprünge totaler Herrchaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Ungekürzte Tachenbuchausgabe, 8. Auflage, München, Piper.
Schmitt, Carl, 1993: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 6. Auflage, Berlin: Duncker und Humblot.
Schmitt, Carl, 2010: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. 9. Auflage, unveränd. Nachdr. der 1926 erschienenen 2. Auflage, Berlin: Duncker und Humblot.
Jürgen Förster
1 Raimondi betrachtet den Kapitalismus und die Demokratie mit Wendy Brown eher als „’zweieiige Zwillinge’ [...], die unter denselben Umständen entstanden und gemeinsam groß geworden sind.“ Sie seien aber nicht „ein und dieselbe Angelegenheit – und sie sehen sich nicht einmal ähnlich“ (S. 16).