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Ausgabe 1, Band 8 – April 2016

 

Die vieldeutige Antwort des Rechts

in Zeiten der Ge­walt

Gerd Hankel*

In ihrer Vorlesung „Some Questions of Moral Philosophy“, die sie 1965 an der New School for Social Research in New York hielt und die 2003 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Über das Böse erschien, hat Hannah Arendt darauf hingewiesen, dass die Selbstver­ständlichkeit moralischer Gebote infolge der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen und geschichtlichen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren gegan­gen ist. „Als erstes“ meinte sie, „daß niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, wei­terhin behaupten kann: Das Moralische versteht sich von selbst – eine Annahme, mit der die Generation, zu der ich gehöre, noch aufgewachsen ist. Diese Annahme schloss eine scharfe Trennung zwischen Legalität und Moralität ein, und während eine vage, unartiku­lierte Übereinkunft darüber bestand, daß im großen und ganzen im Recht des Landes das niedergeschrieben ist, was das moralische Gesetz jeweils verlangt, gab es nicht viel Zwei­fel daran, daß das moralische Gesetz im Konfliktfalle das höhere und zuallererst zu befol­gen wäre. Dieser Anspruch wiederum hatte nur dann einen Sinn, wenn wir all jene Er­scheinungen für selbstverständlich halten, an die wir gewöhnlich denken, wenn wir vom menschlichen Gewissen sprechen. Was immer die Quelle moralischen Wissens sein mag – göttliche Gebote oder die menschliche Vernunft: Jeder gesunde Mensch, so wurde an­genommen, hatte eine Stimme in sich, die ihm sagte, was Recht und was Unrecht ist, und dies unabhängig vom Recht des Landes und den Stimmen seiner Mitmenschen.“1
   Wohl niemand, der sich heute mit Fragen von Recht, Moral und Gerechtigkeit beschäf­tigt, würde die nüchterne Feststellung Hannah Arendts bestreiten. Erinnerungen an schlimmste Phasen deutscher Rechtsgeschichte stellen sich ein, als das Recht Teil des Maßnahmenstaats war und Willkür sowie Ausgrenzung beförderte.2 Recht und Moral la­gen weit auseinander, höchste Unmoral war in Gesetzesform gekleidet und beanspruchte Beachtung, die ihr allzu oft und bereitwillig geschenkt wurde. Mahnend forderte darum der Jurist und ehemalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch 1946 in einem Aufsatz, „daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht’ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“3

   Dass es auch in einer weit weniger extremen Form – denken wir an die kontroverse Dis­kussion über den in § 218 des Strafgesetzbuchs geregelten Schwangerschaftsabbruch – ein Auseinanderfallen von Recht und Moral gibt, sei nur am Rande bemerkt und gewis­sermaßen als Übergang zu dem, was im Folgenden untersucht werden soll: dass nämlich das Gesetz, d.h. die Rechtsnorm, die Verbindlichkeit und Beachtung will, trotz des An­spruchs einer klaren Verbindung von Recht und Moral entweder Gleiches ungleich be­handelt oder von Erlaubnissätzen begleitet wird, die seinem eigentlichen Zweck zuwider­laufen. Beides geschieht zudem in einem Kontext, der „von internationalem Belang“ ist, weil er die Grundwerte der Menschheit betrifft.

I.

Beginnen wir mit einem Fall, der im letzten September nach über vierjähriger Dauer zu Ende ging. Das Oberlandesgericht in Stuttgart verurteilte zwei Führer einer Rebellenmi­liz, die im Osten der Demokratischen Republik Kongo aktiv war und ist, zu Freiheitsstra­fen von dreizehn bzw. acht Jahren. Die beiden Angeklagten, gebürtige Ruander, die in Deutschland studiert und gearbeitet hatten, waren für schuldig befunden worden, Rädels­führer einer ausländischen terroristischen Vereinigung gewesen zu sein, der Haupttäter soll zudem Beihilfe zu vier Kriegsverbrechen geleistet haben. Dahinter verbirgt sich der Angriff auf mehrere Dörfer im Osten der Demokratischen Republik Kongo, bei dem Men­schen in dreistelliger Zahl ihr Leben verloren haben, Männer, Frauen und Kinder, die nichts mit den Konfliktparteien zu schaffen hatten, an denen jedoch zur Abschreckung ein Exempel statuiert werden sollte.

Die Verurteilung der beiden Angeklagten geht zurück auf das sogenannte Weltrechts- oder Universalitätsprinzip, das schon seit Jahrhunderten bekannt ist und die Staaten dazu ermächtigt, Straftaten, die gemeinsame Interessen beeinträchtigen, unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer zu bestrafen. Aus den Piraten, den Feinden der Menschheit (hostes humani generis), waren Makrokriminelle geworden, Täter von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, de­ren Taten eine solche Schwere haben, dass die Staatengemeinschaft sie nicht hinnehmen kann, ohne ihr eigenes Fundament zu gefährden. Die Allgemeine Erklärung der Men­schenrechte, noch lediglich deklaratorisch gemeint, und der aus ihr hervorgegangene in­ternationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, nunmehr für die Staaten ver­pflichtend (sofern sie ihm beigetreten sind, was die allermeisten Staaten getan haben) und mit einem Kontrollmechanismus ausgestattet,4 wären nur noch Papierwerk, ganz zu schweigen von den Konventionen, die wie die Völkermordkonvention5 oder die Folterkon­vention6 Verbotsnormen aufstellen, die zum zwingend zu beachtenden Völker­recht gehören. Sie durch die Hinnahme schlimmsten Unrechts zu ignorieren, würde un­weigerlich zur Erosion elementarer Normen des Völkerrechts führen.
   Vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart sollte dazu kein Anstoß gegeben werden. Durch den Urteilsspruch wurde ein massives Unrecht dokumentiert und die Verantwort­lichkeit dafür individuell zugewiesen. Das Gericht hat, wie ohne ein Übermaß an Pathos behauptet werden könnte, im Namen der Staatengemeinschaft und ihrer kodifizierten Werte Recht gesprochen. Dass im Gewaltgeschehen des Ostkongo vergleichbare Verbre­chen anderer Kriegsparteien nicht geahndet werden, ändert daran nichts. Das tu quoque-Argument greift nicht bei Makroverbrechen. Wenn andere Kriegsverbrecher der Region nicht bestraft werden, kann daraus nicht die Straflosigkeit von Kriegsverbrechern gefol­gert werden, die faktisch nach dem Universalitätsprinzip zur Verantwortung gezogen wer­den können. Ein Strafanspruch, der nicht durchsetzbar ist, ist nicht Ausdruck des fehlen­den Willens zur Gleichbehandlung. Er scheitert an Realitäten, die von einem nationalen Strafgericht nicht beeinflussbar sind. Die Moral, die allgemein hinter dem Strafanspruch steht, wird nicht beschädigt. Selbst der Umstand, dass ein Staatspräsident, dessen Armee tief in Völkerrechtsverbrechen verstrickt ist, in dem Land auf Staatsbesuch ist, das gerade in Anwendung des Universalitätsprinzips ein Strafverfahren gegen andere Täter dessel­ben Verbrechenskomplexes führt (so gibt es einen sehr starken und begründeten Ver­dacht gegen Soldaten der kongolesischen Armee, in gleicher Weise, wie die Rebellenmili­zen, die sie bekämpft, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen begangen zu haben), be­schädigt diese Moral nicht. Er bleibt unbehelligt, weil es einer allgemeinen völkerrechtli­chen Regel entspricht, Repräsentanten von Staaten nicht einer fremden nationalen Ge­richtsbarkeit zu unterwerfen.7 Anders ist es jedoch nach dem Ende der Amtszeit, dann kann er, wie die Strafverfolgung des ehemaligen chilenischen Staatspräsidenten Augusto Pinochet Ende der 1990er Jahre zeigte, seine Immunität verlieren. Und das Römische Statut, das die Grundlage für die Schaffung und Tätigkeit des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) bildet, enthält in seinem Artikel 27 die Grundregel, dass „dieses Statut gleichermaßen für alle Personen, ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigen­schaft [gilt]. Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats- oder Regierungs­chef […] eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Statut und stellt für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund dar.“ Die Einschränkungen, die bei einzelstaatlicher Strafverfolgung wegen schlimmster Verbrechen noch bestehen, gibt es auf der internationalen Ebene also nicht mehr. Das Recht und die es tragende univer­selle Moral bilden eine Einheit, ganz so, wie es in der Präambel des Römischen Statuts niedergeschrieben ist, wo die Verbrechen, die unter die materielle Kompetenz des Ge­richtshofs fallen, „das Wohl der Welt bedrohen“ und „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“.8
   Hätte Hannah Arendt mithin heute Unrecht? Müsste mittlerweile nicht jeder, der sei­ne fünf Sinne beisammen hat, insbesondere in Bezug auf die schweren Verbrechen, an die auch Hannah Arendt gedacht haben wird, von einer Einheit von Recht und Moral ausge­hen? Und müsste er überdies, eingedenk der Geschichte der internationalen Strafge­richtsbarkeit seit den 1990er Jahren,9 nicht die treibende Kraft einer international vor­handenen Moral im Kampf gegen Massenverbrechen anerkennen?

   Diese Fragen zu bejahen hieße, den Zustand des Rechts und der internationalen Mo­ral in einem eindeutig zu günstigen Licht zu sehen. Fortschritte hat es unbestreitbar gege­ben (und zu dem erwähnten Fall und seinen Folgerungen könnten noch viele andere ver­gleichbare genannt werden), aber es gibt immer noch und immer wieder erneut dunkle Flecken, die das Erreichte insgesamt einzuschwärzen drohen. Und es gibt sie ausgerech­net dort, wo wegen der Schwere der Verbrechen „das Wohl der Welt“ und „die internatio­nale Gemeinschaft als Ganzes“ betroffen sind.

   Als Carla Del Ponte, seit 1999 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, ihre Ermittlungen auch auf die Rebellenbewegung RPF (Rwandan Patriotic Front) ausdehnen wollte, die im Sommer 1994 den Völkermord in Ruanda beendet hatte, stieß dies auf erbitterten Widerstand nicht nur in Ruanda, wo die ehemalige Rebellen die Staatsführung stellten, sondern auch bei den UN-Vetomächten Großbritannien und USA. Dabei gab es genügend glaubhafte Hinweise, dass die RPF bei der Eroberung Ruandas und in den darauf folgenden Monaten der Machtstabilisierung Zehntausende, wahr­scheinlich sogar zirka 100.000 Menschen getötet hatte. Außerdem stellt das Statut des Gerichtshofs die Begehung von Völkermord-, Menschlichkeits- oder Kriegsverbrechen unter Strafe, und zwar allgemein, ohne irgendeine Einschränkung. Doch mit Beginn der Gerichtstätigkeit im Herbst 199410 wurde sehr bald deutlich, dass nur eine Tätergruppe zur Verantwortung gezogen werden sollte, nämlich diejenige, die mindestens 500.000 Menschen umgebracht hatte. Was möglicherweise durch die Zahlenrelation und die Art des Verbrechens – hier zumeist Völkermord an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi, dort Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen an der als Tätergruppe verstandenen Mehrheits­bevölkerung der Hutu – noch erklärlich gewesen wäre, ist es nicht mehr, wenn das Un­recht an sich in den Blick genommen wird. Die Tötung von im Mindestmaß mehreren zehntausend Menschen stellt ein Verbrechen dar, das wegen seiner Schwere ein eigentlich unbedingter Fall der Anwendung des Völkerstrafrechts ist und das auch durch ein zeit­gleiches noch größeres Verbrechen nicht aus der Welt geschaffen wird. Selbst wenn (und dafür gibt es gute Gründe) die Meinung vertreten wird, das Völkermordverbrechen sei das „crime of crimes“, so besitzt es diesen Superlativ im Vergleich zu anderen Verbrechen und eben nicht im Vergleich zu Handlungen, die infolge des Vergleichs bedeutungslos werden. Genau dies geschieht jedoch, wenn die Strafverfolgung einseitig bleibt und aus politisch opportun erscheinenden Gründen – Angst vor einer Bagatellisierung des Völker­mords, Sorge um die Stabilität des neuen Ruanda – die Taten einer anderen, sich nun­mehr an der Macht befindlichen Tätergruppe nicht geahndet werden. Mit dem An­spruch auf Gleichbehandlung, den das Recht vor allem aus Respekt vor den Opferinteres­sen beachten sollte,11 ist das nicht vereinbar. Bedenkt man, dass in dem kleinen Land Ru­anda12 Täter und Opfer weiterhin zusammenleben müssen, es dabei einer großen Opfer­gruppe allerdings verwehrt ist, das eigene Leid zur Sprache zu bringen, dann ist nur schwer vorstellbar, wie ein perspektivisch friedliches Zusammenleben möglich sein soll. Zwang, praktiziert durch eine autoritäre Staatsgewalt, wäre ein (befristeter) Ausweg. Aber diese Lösung wird dem UN-Sicherheitsrat nicht vor Augen gestanden haben, als er 1994 in den Vorspruch des Statuts für den Ruanda-Gerichtshof hineinschrieb, dass der Ge­richtshof „zur nationalen Aussöhnung wie auch zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens beitragen“ würde. Gleichwohl stimmte er zu, als Carla Del Ponte 2003 auf Drän­gen Ruandas und mit intensiver Unterstützung Großbritanniens und der USA endgültig ihre Zuständigkeit für Ruanda verlieren sollte. In einem Manöver, das beinahe an Erpres­sung erinnert, wurde sie durch den willfährigen Gambier Hassan Bubacar Jallow ersetzt.13 Damit war das Recht der Staatsraison geopfert worden und die Moral, die im Völkerstraf­recht dem „Wohl der Welt“ und der „internationalen Gemeinschaft als Ganzes“ verpflich­tet war und ist, hatte sich nicht als stärker erwiesen.
   Und noch ein zweites Beispiel, das auch in Afrika seinen Anfang nimmt. Es betrifft wiederum die internationale Strafgerichtsbarkeit, genauer gesagt die ursprüngliche afri­kanische Bereitschaft, diese Gerichtsbarkeit aktiv zu unterstützen. 34 der insgesamt 54 Staaten Afrikas sind heute Vertragsstaaten des Römischen Statuts, vier der 18 Richter sind afrikanischer Herkunft und auch die Chefanklägerin der Anklagebehörde ist Afrika­nerin.14 Keine andere Weltregion ist in dieser Stärke im Gericht und unter den Mitglieds­staaten vertreten. Trotzdem mehren sich in den letzten Jahren kritische Stimmen an die Adresse des internationalen Gerichtshofs. Laut wurden sie erstmals 2009 nach dem Er­lass des ersten Haftbefehls gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir. Seit­dem haben sie an Intensität zugenommen und richten sich nicht mehr nur gegen die Strafverfolgung afrikanischer Politiker, sondern gegen die bisherige Praxis des Internatio­nalen Strafgerichtshofs überhaupt. Die ausschließliche Konzentration des Gerichts auf Afrika rücke es in die Nähe eines neokolonialen Instruments, heißt es, und die Tätigkeit des Gerichts stelle eine permanente Einmischung in die inneren Angelegenheiten afrika­nischer Staaten und somit eine Verletzung ihrer Souveränität dar. Eine Kooperation mit dem Gerichtshof könne es daher nicht mehr geben, folgerte zuletzt im Januar 2015 noch einmal die Versammlung der Afrikanischen Union.15
   Mit dem Argument der Souveränitätsverletzung müssen wir uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen. Eine internationale Strafgerichtsbarkeit, die nicht nur auf dem Pa­pier stehen will, setzt notwendigerweise voraus, dass die einzelstaatliche Souveränität durchlässig wird. Die gesamte Völkerrechtsentwicklung seit Gründung der UNO und be­sonders seit Beginn der 1990er Jahre bewegt sich in diese Richtung.16 Es ist ein anderes Argument, dass der Kritik ein ziemliches Gewicht verleiht. Dieses Argument gründet auf der richtigen Feststellung, dass Verbrechen von einer gewissen Schwere verfolgt werden müssen. Das bestreitet auch die Afrikanische Union nicht. Verbrechen, die in Afrika be­gangen werden, müssen demzufolge, sofern die nationalen Gerichte untätig bleiben,17 vor einer internationalen Instanz angeklagt werden. Auch das stößt bei der Afrikanischen Union nicht auf Widerspruch. Was sie unter Hinweis auf die vergangene Kolonialpolitik als Einbruch in die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten beklagt, liefe hingegen, nähme man es wörtlich, auf die befremdliche Forderung hinaus, afrikanische Verbrechen nicht anzuklagen, nur weil gegen Angehörige oder politisch-militärische Führer von Staaten der nördlichen Hemisphäre keine Strafverfolgung stattfindet. Es gälte der Alles-oder-nichts-Grundsatz: weil nicht alle Verbrechen geahndet werden, sollen gar keine geahndet wer­den.

   So ist jedoch die Kritik nicht gemeint. Sie zielt weiter und in der Tat auf ein Empfin­den, das sich mit dem Kolonialismus herausgebildet hat. Allerdings auf eines, das sich am besten mit der über viele Jahre verfestigten Überzeugung, es werde in Bezug auf Afrika mit zweierlei Maß gemessen, beschreiben lässt. Während politisch-militärische Führer in Europa oder den USA nach Belieben schalten und walten könnten, würden afrikanische strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, ist die Kernaussage dieser Überzeugung. Ihr ist, denkt man nur an die Kriege in Afghanistan, im Irak, im Gazastreifen oder im Osten der Ukraine sowie an die in deren Verlauf mutmaßlich begangenen Verbrechen, wenig entgegenzusetzen. Nicht ein verantwortlicher Politiker oder Militär musste sich dafür strafrechtlich verantworten oder wird sich dafür – die Prognose ist gewiss nicht zu gewagt – strafrechtlich verantworten müssen. Es stimmt zwar, dass die fraglichen Staaten alle keine Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind und der IStGH insofern nicht zustän­dig wäre. Aber dass es, wie im Fall des Sudan unter Omar al-Bashir, eine zuständigkeits­begründende Verweisung durch den UN-Sicherheitsrat geben wird, verhindert schon das Vetorecht der Ständigen Mitglieder dieses Rates, die nicht zufällig teilidentisch mit den Hauptbeschuldigten in den genannten Kriegen sind.

   Mit anderen Worten, es geht wieder einmal um Gleichbehandlung, ein zentrales Ele­ment strafrechtlicher Gerechtigkeit. Obwohl sie im internationalen Maßstab nicht die gleiche Geltungskraft hat wie auf einzelstaatlicher Ebene, wo das Gewaltmonopol beim Staat liegt und die Bürger darum darauf vertrauen können (sollten), dass zur Wahrung des inneren Friedens Rechtsverstöße, massive zumal, ungeachtet der Person des Täters und des Opfers verfolgt und bestraft werden, ist sie auch in der internationalen Sphäre mit der Entwicklung völkerstrafrechtlicher Normen immer wichtiger geworden. Mangels eines internationalen Gewaltmonopols gibt es dort aber nicht die eine höchste Gewalt, die eine unbedingte Rechtsbeachtung einfordern könnte. Es ist allein die auf Einsicht beru­hende Anerkenntnis der Geltung von Normen, die die Geltungskraft dieser Normen be­gründet, und je mehr Staaten diese Einsicht teilen, umso ausgeprägter und verbindli­cher sind die normativen Aussagen. Umgekehrt bedeutet das, dass deren normative Kraft sinkt, je weniger Staaten diese Normen anerkennen oder, schlimmer noch, je opportunis­tischer der Umgang mit diesen Normen ist. Wo das Recht bei vergleichbarer Schwere der Tat selektiv und damit allem Anschein nach willkürlich zur Anwendung kommt bzw. kommen soll, kann im konkreten Anwendungsfall schlechterdings nicht mit überzeugen­den Gründen die Befolgung dieses Rechts und notfalls die Bestrafung des Rechtsbrechers eingefordert werden. Was als großes Unternehmen zur Beförderung eines weltumspan­nenden Zivilisationsprozesses begann, verkommt zu einem Machtspiel intensivster Un­moral. Nicht nur Recht und Moral klaffen auseinander, die Moral selbst ist kein Korrek­tiv, weil sie es nicht sein soll. Die Selbstgerechtigkeit, die aufseiten der afrikanischen Kri­tiker noch hinzukommen mag, fällt dann kaum mehr ins Gewicht.

II.

Setzen wir nun unsere Überlegungen fort mit einem weiteren Fall, der im September 2009 für beträchtliche Aufregung in Deutschland sorgte. Am 4. September jenes Jahres gab der deutsche Oberst Georg Klein, Kommandeur einer im Norden Afghanistans im Rahmen der internationalen Mission ISAF (International Security Assistance Force) ope­rierenden Bundeswehreinheit, den Befehl, zwei von Taliban entführte Tanklastwagen zu bombardieren. Infolge des Luftangriffs wurden bis zu 150 Menschen, unter ihnen auch Kinder, getötet oder verletzt. – Ein Verbrechen? Oder nur ein Versehen, geschuldet einer fahrlässigen Falschbewertung? Oder gar ein rechtmäßiger Kriegsakt, bedauerlich zwar, aber juristisch folgenlos? Und wie stellt sich die moralische Seite des Geschehens dar? Sind Moral und Recht hier in ihren Aussagen gleich oder sind sie verschieden?

   Ausgangspunkt der Prüfung, ob Oberst Klein sich durch die Erteilung des Befehls strafbar gemacht haben könnte, waren vor allem zwei Bestimmungen des humanitären Völkerrechts, die ein Abweichen von dem Grundsatz erlauben, dass „weder die Zivilbevöl­kerung als solche noch einzelne Zivilpersonen das Ziel von Angriffen sein [dürfen]“ (Arti­kel 51 Absatz 2 Satz 1 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen, nachfol­gend: ZP I).18 Die erste besagt, dass die Zivilbevölkerung oder einzelne Zivilpersonen nur so lange geschützt sind, wie sie „nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen“ (Artikel 51 Absatz 3 ZP I). Die zweite Ausnahmebestimmung hebt den Schutz der Zivilbe­völkerung für den Fall auf, dass er im Verhältnis zum angestrebten militärischen Vorteil hinnehmbar erscheint. Wörtlich heißt es in dieser Bestimmung, dass Verluste an Men­schenleben oder die Verwundung von Zivilpersonen verboten sind, „die in keinem Ver­hältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“ (Arti­kel 51 Absatz 5 Nr. b ZP I), was im Umkehrschluss bedeutet, dass in Situationen, in denen das Verhältnis nicht so absolut ist, weil nicht „in keinem Verhältnis“ stehend, Kollatera­lopfer hingenommen werden können.
   Im Blick auf die Bombardierung der Tanklastwagen im nordafghanischen Kunduz kam eine erste justizielle Prüfung zu dem Ergebnis, dass dem deutschen Oberst kein strafwürdiger Vorwurf zu machen ist.19 Er sei aus seiner subjektiven Sicht zweifelsfrei da­von ausgegangen, dass alle Personen in der Nähe der Tanklastwagen unmittelbar an den Feindseligkeiten teilgenommen hätten, also Taliban oder deren Sympathisanten gewesen seien. Weitere Aufklärung sei nicht möglich und eine Warnung vor dem Angriff nicht er­forderlich gewesen, da dieses Erfordernis nur gegenüber der Zivilbevölkerung beachtet werden müsse (Artikel 57 Absatz 2 Nr. a und c ZP I). Und selbst wenn unter den Opfern Zivilisten gewesen seien, sei der Angriff nicht unverhältnismäßig gewesen, vielmehr sei die Anwendung militärischer Gewalt auf das strikt Notwendige beschränkt worden.
   Bundesdeutsche Gerichte bestätigten später diese Auffassung. Die Tötung von bis zu 150 Menschen sollte damit keine rechtliche Folge haben. Sie war kein Verbrechen, sie war nicht mal eine fahrlässig begangene Tat, sie war rechtmäßig und blieb damit juristisch ohne Konsequenzen. Denn der Ermessenspielraum, den das humanitäre Völkerrecht dem Befehlsgeber einräumt, ist so groß, dass dessen Grenzen unklar und auch durch Extrem­fallbeispiele nicht näher definierbar20 sind. „[P]roportionality is a general principle of in­ternational law (…) and proportionality is what the judges say it is”, lautet nicht von unge­fähr ein Fazit,21 dessen durchklingender resignativer Unterton auf diesen Missstand ver­weist. Ein Bedrohungsgefühl und entsprechender Handlungsdruck beglaubigten folglich auch post festum einen militärischen Vorteil, demgegenüber Menschenleben zu weichen hatten.
   Das vom moralischen Standpunkt aus ebenso zu sehen, dürfte schwierig sein. Das er­gibt sich schon aus dem herkömmlichen Verständnis des Kriegsrechts. Es legitimiert das Töten von Kombattanten unter der Voraussetzung, dass die Bestimmungen des Kriegs­rechts respektiert werden. Erst dann ist eine Tötungshandlung gerechtfertigt – eine An­nahme, von der auch menschenrechtliche Konventionen ausgehen, die für den Fall des bewaffneten (nicht) internationalen Konflikts das Recht auf Leben aus ihrem Schutzbe­reich herausnehmen.22 Für die Zivilbevölkerung besteht der Schutz grundsätzlich fort, nur in Ausnahmefällen darf er durchbrochen werden. Wohl wissend, dass dies eine überaus heikle Erlaubnis ist, behilft man sich zu ihrer Rechtfertigung zum einen mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen militärischem Vorteil und Kollateralopfern (objektive Ebene), zum andern mit der Doktrin der Doppelwirkung (subjektive Ebene). Sie besagt, dass eine Handlung mit sowohl (moralisch) schlechten wie auch (moralisch) guten Folgen dann moralisch erlaubt ist, wenn die schlechten Folgen nur unbeabsichtigte Nebenfolgen sind. Konkret: Der Handelnde, d.h. der militärische Befehlsgeber, richtet seine Absicht al­lein auf das Erreichen des guten Ziels, also des militärischen Vorteils. Die als möglich er­kannte Doppelwirkung, nämlich die bei Verfolgung der Absicht eintretende tödliche Folge für unbeteiligte Dritte, nimmt er lediglich in Kauf. Er will das Gute, nicht das moralisch Schlechte, und beides ist, zusammen mit der Beachtung der Verhältnismäßigkeit, nach allgemeiner Ansicht eine hinreichende Legitimation, Menschen zum Wohle anderer zur Hinnahme des eigenen Todes zu verpflichten.23
   Explizit gesagt wird dies indes nicht. Es scheint vielmehr die stillschweigende Annah­me zu sein, dass Kriege eben in dieser Weise geführt werden. Detailliert beschriebene Be­drohungsszenarien sowie der Verweis auf schlimmste Grausamkeiten des Feindes und auf die eigene Anfälligkeit lassen keinen Gedanken an den Preis aufkommen, den die Bevöl­kerung fernab im Kriegsgebiet zu bezahlen hat. Dort, wo militärische Einsätze geplant und durchgeführt werden, ist nur zu bekannt, dass Zahlen und Bilder von Kollateralop­fern Fragen aufwerfen, die die Legitimation des ganzen Unternehmens ins Wanken brin­gen können. Denn moralisch gerechtfertigt ist dieses Vorgehen nicht. Niemand ist ver­pflichtet, mit seinem Leben für das anderer einzustehen. Eine Selbstaufopferung kann nicht gefordert werden, da damit die Vorstellung einherginge, ein Leben sei mehr wert als ein anderes oder sogar als das vieler anderer.24
   Kriege könnten folglich, weil immer mit dem Risiko von Kollateralopfern behaftet, aus rechtsethischen Gründen nicht mehr geführt werden – eine bedauerlicherweise reali­tätsferne Vorstellung, die darum auch nicht einmal in der Sicherheitsarchitektur der UN-Charta ihren Niederschlag findet. Allerdings ist in weiten Teilen der internationalen Öf­fentlichkeit ein zunehmendes Unbehagen über zivile Kriegsopfer festzustellen. Nachrich­ten über Bombenangriffe, die eine größere Anzahl Toter in der Zivilbevölkerung verur­sacht haben, finden heute regelmäßig ihren Weg in die Medien. Der Druck auf politische und militärische Entscheider wächst, casualty shyness, die Scheu vor Verlusten unter den eigenen Soldaten, aber auch vor Opfern unter der Zivilbevölkerung des Einsatzlandes, ist zu einem Phänomen geworden, das starken öffentlichen Druck aufzubauen vermag.25 Das vorherrschende moralische Empfinden sträubt sich, sich mit dem Befund, es gebe un­schuldige und gleichwohl rechtmäßig Getötete, abzufinden.
   Noch um einiges schärfer stellt sich der Widerspruch zwischen Recht und Moral dann dar, wenn durch die Militäraktion humanitäre Ziele erreicht werden sollen. Das Konzept der internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), das 2001 vorgestellt wurde,26 sieht als ultima ratio auch den Einsatz militärischer Gewalt vor, um in einem Staat die Begehung schwerster Verbrechen zu verhindern oder zu beenden. Die Interven­tion ist eine Nothilfe zugunsten einer bedrohten, in ihren fundamentalen Menschenrech­ten vom eigenen Staat missachteten Bevölkerung. Ihre Rechtfertigung bezieht sie daraus, dass dieser Staat zu einem hostis populi, zum Feind des eigenen Volkes mutiert ist. Der massive Missbrauch seiner Souveränität nach innen (Pflicht zum Schutz des inneren Frie­dens) führt zum Verlust der Souveränität nach außen (Schutz vor äußerer Einmi­schung in innere Angelegenheiten). Die internationale Staatsgemeinschaft tritt vorüber­gehend an die Stelle des „gescheiterten Staates“ und dies mit der eigentlich selbstver­ständlichen Konsequenz einer Verbesserung der menschenunwürdigen Situation in die­sem Staat. Das weitere Töten von Menschen, die für diese Situation nicht verantwortlich sind, ist damit offensichtlich nicht vereinbar. Es zerstört die Legitimation des Einsatzes, der Widerspruch zwischen der humanitärrechtlichen Erlaubnisnorm und der Moral, de­ren Durchsetzung mit dem militärischen Einsatz gerade bewirkt werden sollte, lässt sich definitiv nicht mit Verhältnismäßigkeitsüberlegungen auflösen.
   Dieses vor Augen schrieben die Autoren des Konzepts der Schutzverantwortung,27 dass die Eigensicherung der intervenierenden Soldaten nicht das Hauptziel sein dürfe. Sie sprachen damit eine Art Garantenstellung des Soldaten gegenüber der unbeteiligten und schutzbedürftigen Zivilbevölkerung an. Aufgrund seines Auftrags und seiner Funktion solle der Soldat in höherem Maße als andere verpflichtet sein, die Zivilbevölkerung vor Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen oder vor dem Verbrechen des Völkermords zu schützen. Diese Pflicht schließe auch die Hinnahme eines erhöhten Risikos aufseiten des betreffenden Soldaten, im Rahmen der Schutzoperation getötet zu werden, ein.
   Nun ist ein Konzept ein Konzept, und die Realität ist die Realität. Denken wir an aktu­elle westliche Einsätze im Irak und in Syrien, scheinen Waffeneinsätze aus der Di­stanz zur Vermeidung einer Eigengefährdung der intervenierenden Kräfte nach wie vor das Gebot der Stunde zu sein. Der menschenrechtliche Diskurs, der vom Westen schon in Afghanistan, im Irak und in Libyen gepflegt wurde, bricht sich erneut an einer Kriegfüh­rung, die, obwohl völkerrechtskonform, ein elementares moralisches Prinzip verletzt. „Führt euren Krieg, aber behandelt gegnerische Zivilisten so, als seien es eure eigenen Staatsbürger“, forderten vor einigen Jahren, damals noch an Israel gerichtet, Avishai Margalit und Michael Walzer.28

III.

Gehen wir von dem verbreiteten Geltungsgrund von Moral aus, so verfolgt sie das Ziel, „die im Zusammenleben von Menschen jederzeit möglichen (und nie eliminierbaren) Übel möglichst zu verringern“.29 Das Recht hilft dabei, ohne nach hier vertretener Auffas­sung in jedem Fall mit allgemeingültigen moralischen Aussagen oder Überzeugungen identisch zu sein. Dazu ist der Begriff des Übels inhaltlich zu verschieden und die Frage, ob sich Moral neutral definieren lässt, ist demzufolge streitig. Andererseits sind leicht vie­le Fälle denkbar, in denen der moralische Kern einer normativen Aussage sehr deutlich wird. Elementaren Menschenrechten zum Beispiel ist die Moral inhärent, rechtlichen Maßnahmen, die ihren Schutz bezwecken, folglich auch. Somit spricht vieles dafür, dass auch die internationale Strafgewalt hinreichend legitimiert ist. Die Normen, die sie begründet haben und arbeiten lassen, sind Emanationen von Werten, die, legen wir internationale Konventionen und Resolutionen zugrunde, universelle Gültigkeit beanspruchen.

   Dennoch hat es nach der hier bisher unternommenen Darstellung den Anschein, die Legitimationsgrundlage der internationalen Strafjustiz sei prekär. Wo es ihnen opportun erscheint, drücken einzelne Staaten ihre Interessen durch, schwerste Verbrechen bleiben straflos, weil es der Staats- oder Politikraison entspricht. Eine Gleichbehandlung von in ihrer Schwere gleichen Taten findet nicht statt, der Eindruck von Gerechtigkeit, die durch die Anwendung von Strafrecht zumindest angestrebt werden soll, entsteht nicht.

   Kann unter diesen Umständen überhaupt – im Sinne der Überschrift dieses Beitrags – von einer vieldeutigen Antwort des Rechts auf Gewalt gesprochen werden? Zu unserem Beispiel aus dem humanitären Völkerrecht ist die Antwort einfach. Dieselbe Rechtsnorm gebietet den Schutz der Zivilbevölkerung und erlaubt zugleich die Tötung von Angehöri­gen dieser Zivilbevölkerung. Sie beinhaltet zwei völlig konträre Aussagen, um der Gewalt zu begegnen, und beide sind rechtmäßig. Das ist bei dem augenscheinlichen Legitimati­onsproblem der internationalen Strafgerichtsbarkeit anders. Dort haben wir in bestimm­ten Fällen die Anwendung der Rechtsnorm, und in anderen Fällen haben wir sie nicht. Recht und Nicht-Recht sind jetzt das Gegensatzpaar, das Recht selbst ist nicht vieldeutig.

   Allerdings handelt es sich um Recht in einem Regelungsbereich. Nehmen wir Recht aus anderen Regelungsbereichen hinzu, korrigiert sich das Bild. Das Rechtsprinzip der souveränen Gleichheit der Staaten stellt es den Staaten frei, dem völkerrechtlichen Ver­trag des Römischen Statuts beizutreten. Es besteht für Staaten keine Pflicht und schon gar kein Zwang, schwerste Verbrechen, die auf fremden Hoheitsgebieten begangen wur­den, gerichtlich zu ahnden.30 So gesehen erweist sich das Recht doch wieder als vieldeu­tig, wenn wir es in einem größeren Rechtskontext sehen.
   Dasselbe gilt im Ergebnis für die selektive Strafverfolgung durch den UN-Strafge­richtshof für Ruanda. Die Anwendung von Recht steht hier zunächst wieder der Nicht-Anwendung von Recht gegenüber, die Antwort bzw. Nicht-Antwort des Rechts ist eindeu­tig. Erst wenn man erneut einen anderen Rechtsbereich berücksichtigt, ändert sich das. Das Gericht und der hinter ihm stehende UN-Sicherheitsrat haben nämlich die Ahndung der von der früheren Befreiungsbewegung RPF (die nach dem Völkermord die Macht in Ruanda übernommen hatte) begangenen Verbrechen an die ruandische Justiz verwiesen. Diese ist nicht oder nur scheinbar tätig geworden,31 was nicht weiter verwundert, da jetzt ein Staat Richter in eigener Sache war. Zur Souveränität eines Staates nach innen gehört, dass er seine Justiz den eigenen Vorstellungen gemäß organisieren kann. Die völkerrecht­lich gebotene richterliche Unabhängigkeit32 läuft ins Leere, wenn dem Gericht keine Be­weismittel vorliegen, die eine Verurteilung rechtfertigen können. Die Pflicht eines Staates, elementare, unverjährbare Menschenrechtsverletzungen zu ahnden (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit), die auf eigenem Hoheitsgebiet begangen worden sind, wird gegenstandlos. Die Souveränität schützt vor insistierenden Nachfragen, mächtige Allianzen helfen, einen Schutzwall aufzubauen, an dem unbequeme Forderungen abprallen, da sie als unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten gelten. Damit kommen Rechtsnormen aus dem allgemeinen Völkerrecht ins Spiel, die, selbst wenn sie unter dem Verdacht missbräuchlicher Nutzung stehen, eine andere Antwort geben als die konkreten Vorschriften des Völkerstrafrechts. Entscheidend aber ist, dass das gesamte Verfahren nunmehr nach den Kategorien des Völkerrechts rechtmäßig ist. Ob Strafverfolgung durch den internationalen Ruanda-Gerichtshof oder nicht, das Recht deckt letztlich beide Entscheidungen und die Antwort auf ein Verbrechensgeschehen ist zu einer vieldeutigen geworden.
   Ist eine Vereinheitlichung möglich? Lässt sich dort, wo die Verbindung von Recht und Moral nachweislich eng ist, auch in der Rechtsanwendung diese Verbindung aufrechter­halten? Zwei Fragen, die ein neues Thema eröffnen, das hier nicht mehr behandelt wer­den kann. Theoretisch denkbar jedenfalls ist es. Geschichte kann mit Immanuel Kant als Rechtsfortschritt gedacht werden, in dem die Vernunft so agiert, dass sie die Bedingungen ihrer Möglichkeit sicherstellt.33 Ein einmal angestoßener zivilisatorischer Prozess drängt auf seine Weiterentwicklung. Der vernunftgeleitete „übergreifende Konsens“ (John Rawls) wird größer und ist immer weniger geneigt, seine Gelingensbedingungen zu zer­stören. Es ist, wiederum theoretisch, eine Frage der Zeit und praktisch eine Frage des po­litischen Willens. Der Hoffnung Hannah Arendts, die ihrer eingangs zitierten Feststellung trotz allen neuen Realitätssinns zu entnehmen ist, dürfte dies gewiss entsprechen.

 

 

 

* Gerd Hankel, Dr. jur., M.A., geboren 1957, Studium an den Universitäten Mainz, Granada und Bremen; seit 1993 freier Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, seit 1998 wissenschaftlicher Angestell­ter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Autor zahlreicher Publikationen zum humanitären Völkerrecht und zum Völkerstrafrecht; zurzeit Arbeit an einer Untersuchung über den Um­gang Ruandas und der internationalen Gemeinschaft mit dem Völkermord in Ruanda 1994 (erscheint 2016).

1 Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München/Zürich 2006 (engl. 2003), S. 25 f.

2 Vgl. Fraenkel, Ernst: Der Doppelstaat, Hamburg 2001 (engl. 1940).

3 Radbruch, Gustav: „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“. In: Süddeutsche Juristen-Zeitung 1. Jg., 1946, 105-108 (107).

4 168 von 193 Staaten sind bislang (Oktober 2015) Vertragspartei des Paktes von 1966, der 1976 in Kraft getre­ten ist, vgl. https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-4&chapter=4&lang=en (31.12.2015).

5 Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes wurde am 9.12.1948 beschlossen und trat am 12.1.1951 in Kraft.

6 Das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde am 10.12.1984 beschlossen und trat am 26.6.1987 in Kraft.

7 Für die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich das aus §20 Gerichtsverfassungsgesetz, vgl. http://www.ge­setze-im-internet.de/bundesrecht/gvg/gesamt.pdf (31.12.2015).

8 Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Römisches Statut) ist u.a. zu finden unter http://www.un­.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html (31.12.2015). Zur Auslegung der entsprechenden Absätze in der Präambel vgl. Triffterer, Otto: „preambule“. In: Otto Triffterer (Hg.): Commentary on the Rome Stat­ute of the International Criminal Court. München/Oxford/Baden-Baden 22008, Rdnrn. 9-14.

9 Hankel, Gerd (Hg.): Die Macht und das Recht. Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2008.

10 Der Internationale Gerichtshof für Ruanda wurde vom UN-Sicherheitsrat am 8.11.1994 geschaffen. In der Anlage der dazu gehörenden Resolution (Resolution 955) befindet sich das Statut des Gerichtshofs, vgl. http://www.un.org/depts/german/sr/sr_94/sr955.pdf (31.12.2015).

11 Vgl. Auszüge aus der UN-Erklärung von 1985 unter https://www.unodc.org/pdf/compendium/compendi­um_2006_part_03_02.pdf (31.12.2015).

12 Mit ca. 26.000 qkm ist Ruanda wenig größer als das deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.

13 Del Ponte, Carla (mit Sudetic, Chuck): Im Namen der Anklage. Meine Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2009, S. 302-314. Del Ponte blieb allerdings Chefanklägerin des UN-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien.

14 Ambos, Kai: „Afrikanischer oder Internationaler Strafgerichtshof?“ In: Claus Kreß (Hg.): 10 Jahre Arbeits­kreis Völkerstrafrecht. Geburtstagsgaben aus Wissenschaft und Praxis, Göttingen 2015, S. 704-706.

15 Zu den Entschließungen der Afrikanischen Union vgl. http://summits.au.int/en/sites/default/files/Assemb­ly%20AU%20Dec%20546%20-%20568%20(XXIV)%20_E.pdf (31.12.2015).

16 Paulus, Andreas L.: Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, München 2001.

17 Nach Artikel 17 des Römischen Statuts wird der IStGH nur tätig, wenn der zunächst zuständige Staat „nicht willens oder nicht in der Lage“ ist, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen.

18 Das Erste Zusatzprotokoll ist hier nachzulesen: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19770112/201407180000/0.518.521.pdf (12.1.2016).

19 Rechtsprechung. Generalbundesanwalt. 16.4.2010 – 3 BJs 6/10-4. https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=Generalbundesanwalt&Datum=16.04.2010&Aktenzeichen=3%20BJs%206/10 (12.1.2016).

20 Bothe, Michael: „Friedenssicherung und Kriegsrecht“. In: Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.): Völkerrecht. 4. Auflage, Berlin 2007, S. 690, Rn. 66, sowie Melzer, Nils: Targeted Killing in International Law, Oxford 2008, S. 363.

21 Stein, Torsten: „Proportionality Revisited. Überlegungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im inter­nationalen Recht“. In: Klaus Dicke u.a. (Hg.): Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück. Berlin 2005, S. 738.

22 Näher dazu Eser, Albin: „Tötung im Krieg: auf der Suche nach einer Legitimationsgrundlage“. In: Martin Löhnig/Mareike Preisner/Thomas Schlemmer (Hg.): Krieg und Recht. Die Ausdifferenzierung des Rechts von der ersten Haager Friedenskonferenz bis heute, Regenstauf 2014, S. 250-252.

23 Merkel, Reinhard: „Die ‚kollaterale’ Tötung von Zivilisten im Krieg. Rechtsethische Grundlagen und Grenzen einer prekären Erlaubnis des humanitären Völkerrechts“ In: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012, S. 204-217.

24 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 15.2.2006 zu §14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz dazu ausführlich Stellung genommen, vgl. http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html (18.1.2016).

25 Kümmel, Gerhard: „Die Hybridisierung der Streitkräfte: Militärische Aufgaben im Wandel“ In: Nina Leonard und Ines-Jacqueline Werkner (Hg.): Militärsoziologie – eine Einführung, Wiesbaden 2012, S. 117-138.

26 https://web.archive.org/web/20110514111651/http://www.iciss.ca/pdf/Commission-Report.pdf (18.1.2016).

27 Ebenda, S. 63.

28 Margalit, Avishai/Walzer, Michael: „Völkerrecht im asymmetrischen Krieg. Oder: Wie bekämpft man Terro­risten und schützt Zivilisten?“ In: Internationale Politik, Juli/August 2009, S. 56-63 (63).

29 Kettner, Matthias: „Moral“. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha W. Werner (Hg.): Handbuch Ethik, 3. Auflage, Stuttgart und Weimar 2011, S. 426-430 (428).

30 Ambos, Kai: Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Straf­recht, 2. Auflage, München 2008, S. 52; Werle, Gerhard: Völkerstrafrecht, 2. Auflage, Tübingen 2007, S. 84 f.

31 Vgl. dazu http://ir.lawnet.fordham.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=2203&context=ilj (18.1.2016).

32 Artikel 14 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte, http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fi­leadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICCPR/iccpr_de.pdf (18.1.2016).

33 Kersting, Wolfgang: Kant über Recht, Paderborn 2004, S. 168.