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Ausgabe 1, Band 7 – November 2013

 

Das Recht auf Revolution

Gespräch zwischen Prof. Dr. Carlo Schmid und der Philosophin Hannah Arendt (1965)

 

Vorbemerkung der Redaktion: Das Gespräch zwischen Carlo Schmid und Hannah Arendt wurde am 19. Oktober 1965 im dritten Hörfunkprogramm des Norddeutschen Rundfunk gesendet. Carlo Schmid (1896-1979) war ein renommierter Staatsrechter, ab 1953 Lehrstuhlinhaber für politische Wissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Uni­versität Frankfurt, einer der Mitverfasser des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und des Godesberger Programms der SPD und sehr aktiv in der Bewegung für die europäische Integration. 1959 kandidierte er gegen Heinrich Lübke für das Amt des Bundespräsidenten, von 1969 bis zu seinem Tod war er Koordinator der deutsch-fran­zösischen Beziehungen. Die Veröffentlichung der transkribierten Fassung des Gesprächs erfolgt mit freundlicher Genehmigung des NDR und des Hannah Arendt Bluecher Litera­ry Trust. – Zur Gestaltung: In die Sprechsprache der äußerst lebhaft Debattierenden wur­de prinzipiell von Seiten des Herausgebers und der Redaktion nicht eingegriffen. Nur an einigen Stellen schienen des besseren Verständnisses wegen Zusätze sinnvoll, sie haben eckige Klammern erhalten. Darüber hinaus wurden Stellen, an denen ein Satz, ein Gedan­ke nicht zu Ende geführt ist, durch fünf Punkte markiert.

 

Schmid: Verehrte Frau Kollegin, Sie haben ein Buch geschrieben, das leider bisher noch nicht in Deutschland, in deutscher Sprache, erschienen ist, über die Revolution, das Phänomen Revolution.1Hannah Arendts Buch On Revolution war 1963 im New Yorker Verlag Viking Press erschienen. Die von Arendt selbst übersetzte deutsche Fassung Über die Revolution veröffentlichte der Piper Verlag Ende 1965. Ich denke, es wird am besten sein, wir unterhalten uns über die­ses Thema, vor allen Dingen scheint es mir deswegen gut zu sein darüber zu sprechen, weil man mit dem Wort Revolution eine ganze Reihe von Dingen zu bezeichnen pflegt, die letztlich, wenn man sie genauer untersucht, nichts miteinander zu tun haben, die oft ge­nau das Gegenteil voneinander sind. Man bezeichnet als Revolution zum Beispiel den Staatsstreich Mussolinis, was ohne Frage, wenn das Wort Revolution den Sinn haben soll, den man ihm gegeben hat, als man es prägte, keine Revolution gewesen ist, sondern eben ein Staatsstreich. Umgekehrt spricht man oft von Revolutionen ganz außerhalb des staat­lichen politischen Bereiches. Man spricht von der Revolution, die Galilei und Kopernikus hervorgerufen haben, als sie den Menschen das geozentrische Weltbild nahmen. Man spricht von der Revolution, die Immanuel Kant in der Philosophie überhaupt in der Art, wie man denken könnte, hervorgerufen hat durch seine verschiedenen „Kritiken“. Ich glaube, in Anbetracht dieser seltsamen Ausdehnungen der Anwendung des Begriffs, des Wortes Revolution wäre es ganz gut, wir versuchten, einiges zu präzisieren.

Zunächst einmal, man spricht von Revolution noch nicht seit sehr langer Zeit. Man spricht von Revolution ungefähr seit 200 Jahren. Es hat früher schon Dinge gegeben, die man als Revolution vielleicht bezeichnen könnte, aber vielleicht müssen wir dann gewisse Dinge hineinprojizieren, die die Leute damals nicht dachten, wenn das Wort Revolution darauf sollte angewandt werden können. Im Grunde seit der Amerikanischen Revolution, was die Amerikaner als solches nicht bezeichnet haben, als sie sich erhoben gegen den König von England, sondern sie wollten die Restauration der alten englischen Freiheiten haben, die man ihnen verweigert hatte. Aber die Französische Revolution, die nannte sich stolz Revolution, Umwälzung, das heißt, es wurde die bestehende Welt, Frankreich, um­gewälzt, das Untere kam zuoberst, um mich so auszudrücken, das Untere, das Volk, Le Tiers État und darunter Le Peuple, sollten nunmehr oben sein, und was dagegen steht, unten beziehungsweise ausgemerzt. Ich glaube, es gehört zu dem Begriff der Revolution, wenn der Begriff, so wie wir ihn in Europa gebrauchen können, präzise sein soll,

Arendt: Ja, wenn ich darauf erst einmal eingehen darf. Ich glaube, wir sind uns beide darüber einig, dass wir uns hier am besten über politische Revolutionen unterhalten und nicht über die Kantische oder Kopernikanische, weil das eigentlich bereits Metaphern sind, die aus dem Politischen genommen sind. Ich stimme Ihnen ganz zu, dass eine Um­wälzung von unten nach oben erfolgt. Wenn wir das aber sagen, dann müssen wir sagen, dass es Revolutionen eigentlich vor dem 17. oder 18. Jahrhundert nicht gegeben hat. Es hat natürlich immer Rebellionen gegeben, aber erstens, entweder waren diese Rebellio­nen nur Widerstand in dem Sinne, dass die Herrschenden schlechte Herrscher waren und durch bessere Herrscher ersetzt werden sollten, was keine Revolution ist, weil die Revolu­tion diese Art der Herrschaft dann eigentlich abschaffen will, oder dass sich, sagen wir, die unteren Klassen an die Stelle der oberen setzen, wobei aber dann Unten und Oben wieder genauso existiert, das gleiche geschieht. Also, sagen wir Sklavenaufstände. Das Wesen, wie mir scheint, der modernen Revolution, also der Amerikanischen und der Französischen, ist, dass man nicht sagte, wir wollen herrschen, sondern wir wollen nicht mehr, dass es Herrschaft gibt.

Schmid: Dass es [nicht mehr] Herrschaft von Menschen, die außerhalb des Volkes ste­hen, über das Volk gibt.

Arendt: Ja, eigentlich überhaupt nicht Herrschaft. Wissen Sie, die Republik wurde doch definiert als the government of laws instead of men, das heißt die Regierenden, die oberste Instanz, die eigentliche Autorität, ist das Gesetz, und die Scheidung des Volkes in Regierende und Regierte soll es nicht mehr geben. Das ist ja auch eigentlich der Sinn des Repräsentantensystems .

Schmid: Nun gibt es ja auch in der Republik und hat es auch immer gegeben, auch in der Theorie der Republik, Instanzen, die das Recht haben, anzuordnen, und alle anderen haben zu gehorchen, wenn der, der anordnet, in richtiger Weise vorgegangen ist. Nur ei­nes gehört zur Republik, und eines gehört wohl zu alldem, was echte Revolutionen schaf­fen wollen, dass jede Art von hoheitlicher Gewalt nur kommissarisch ist, übertragen, dele­giert vom souveränen Volk an einzelne Personen, die nicht als Personen die Rechte ha­ben, das Recht haben anzuordnen, sondern als Sprecher, als Vollstecker des Willens des Volkes.

Arendt: Das heißt, das Gesetz steht über allen .....

Schmid: Das Gesetz steht über allen, nur das Gesetz. Was die Revolutionen im Grunde meinten, wenn sie von Gesetz sprachen, ist wohl eher das, was wir unter Recht verstehen, ungeschriebenes – das Recht, das mit uns geboren ist. Das ist es doch wohl gewesen .......

Arendt: Ja, das ist wahrscheinlich für die Französische .....

Schmid: Wenn man die Menschenrechte nennt, ist es doch durchaus auch so genannt worden: Menschenrecht. Sie wissen ja die Kritik, die Burke daran geübt hat, der sagte, Menschenrechte gibt es nicht.2Edmund Burke (1729-1797), irisch-britischer Staatsphilosoph, lehnte die französische Revolution ab (Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Manesse, Zürich 1987). Vgl. das Kapitel „Der Streit zwischen den ‚Rechten eines Engländers’ und den Menschenrechten“ in Hannah Arendt: Elemen­te und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 292ff.

Arendt: Ja, Menschenrechte gibt es nicht.

Schmid: Nur Rechte von Engländern. Damit, dass der Mensch geboren ist, hat er noch keine Rechte. Aber dadurch, dass er Engländer ist, hat er Rechte.

Arendt: Nun, das ist entscheidend. Die Frage ist nur, ob diese Rechte sich eben in Ge­setzen niederlegen, oder ob das Rechte bleiben. Sehen Sie, in der französischen Erklärung der Menschenrechte und des Citoyen, der Bürger- und Menschenrechte, heißt es, dass das Gesetz der Ausdruck der volonté générale sei. Das ist die Frage. Das wäre genau entge­gengesetzt der amerikanischen Vorstellung. Denn da bleibt ja das Gesetz abhängig vom Willen, kann also jederzeit beliebig geändert werden, denn der Wille ändert sich.

Schmid: Ja aber, ist in der Amerikanischen Revolution nicht etwas sehr Starkes, Fes­tes hinter diesem Voluntarismus gestanden, nämlich ein bestimmter Glaube an den Sinn des menschlichen Daseins, ein bestimmter Glaube daran, dass der Mensch eingebettet ist in eine höhere Ordnung, die höher ist als die des Staates. Ob man die nun eine Ordnung nannte, die in der Religion ihren Ursprung oder ihr Bett hat, oder in der Natur, bleibt sich gleich. Aber das was Sie sagten, was in der Déclaration des droits de l'homme et du citoy­en steht, das ist einfach reiner Rousseau.

Arendt: Das ist reiner Rousseau.

Schmid: Das Gesetz ist nichts anderes als konkrete Definition dessen, was ungeschrie­ben und ungewusst im Grunde als Gemeinwille vorhanden ist – das, worin das Volk sich integriert und immer wieder neu sich selbst zu Bewusstsein bringt.

Arendt: Ja, was ich nur unterstreichen wollte an diesem Punkt, war, dass der Volunta­rismus, von dem Sie sprechen, typisch ist für die Französische Revolution, aber nicht für die Amerikanische. Jetzt, das zweite Kennzeichen, sagten Sie, Fortschritt. Condorcet hat einmal gesagt, 1793 glaube ich: Man kann eine Revolution nur eine Revolution nennen, die auf Freiheit abzielt,3Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794), Aufklärer, verfasste Esquisse d'un ta­bleau historique des progrès de l'esprit humain, 1794; deutsch: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a. Main 1976. was etwas anderes ist als Fortschritt. Das heißt, worum es sich eigentlich handelt in der Revolution .....

Schmid: Ich meine nicht den technischen Fortschritt, sondern den Fortschritt im Kan­tischen Sinn.

Arendt: Ja, aber der Fortschritt hat immer noch mit sich die Wohlfahrt des Volkes. Die Freiheit ist eine andere Sache, das heißt das, was man bei uns nennt die institutions of liberty, das heißt, dass die Revolution schaffen soll Institutionen, in denen Freiheit möglich ist. Und diese Institutionen, die sind eigentlich nicht dem Fortschritt unterwor­fen. Innerhalb dieser Institutionen kann ein Fortschritt stattfinden, oder braucht nicht.

Schmid: Aber das ist ja gerade das Entscheidende, dass Institutionen geschaffen wer­den sollen durch die Revolution im Hinblick darauf, dass Freiheit möglich sei.

Arendt: Ja, ganz recht.

Schmid: Und zwar nicht nur als Deklamation, als die Freiheit des Epiktet, des Galee­rensklaven, der auch an der Ruderbank angeschmiedet innerlich frei sein kann, sondern Freiheit darstellen kann in seiner Existenz.

Arendt: Ja, äußerlich, im Handeln.

Schmid: Im Handeln. Frei denken und frei handeln.

Arendt: Ja, beides.

Schmid: Und das war wohl das große Unglück, das wir hatten in Deutschland, dass dort nach einigen Misserfolgen des Handelns in Freiheit man sich darauf zurückgezogen hat auf die Freiheit der Innerlichkeit.

Arendt: Ja, das dürfte kurz gesagt die deutsche Katastrophe sein.

Schmid: Das Schlimme war, dass sich diese Freiheit der Innerlichkeit in so noblen Werken hat äußern können. Deswegen hat es so verführerisch gewirkt.

Arendt: Sehen Sie, selbst Marx hat ja eigentlich nicht gewusst, was frei handeln ei­gentlich ist.

Schmid: Weil er das vielleicht nicht wusste. Aufgrund seines Grundansatzes kann man gar nicht frei sein, so lange es Herrschaft von Menschen über Menschen gibt, solange es die klassenlose Gesellschaft nicht gibt. Er war ein Apokalyptiker.

Arendt: Ja.

Schmid: Oder ein Eschatologe, nicht wahr. Für ihn war es doch so: Es gibt eine Art von Heilsgeschichte, nicht wahr, die sich in bestimmten Phasen, in Epochen, vollzieht; der Mensch ist nur Vollstrecker. In jeder dieser Epochen gibt es ein Weltgesetz, das es zu vollstrecken gilt. Und erst am jüngsten Tag, nämlich wenn die klassenlose Gesellschaft da ist, gibt es das dritte Reich, das Reich, in dem man nun wirklich frei ist und es keine Herr­schaft von Menschen über den Menschen mehr gibt und wo auch das Recht nicht mehr nötig ist, sondern nur Liebe, Mitmenschlichkeit das einzige ist, das es dann noch gibt.

Arendt: Ja, messianische Zustände. Darin liegt, so scheint mir, noch ein anderer Irr­tum, nämlich die Gleichsetzung von Befreiung und Freiheit.

Schmid: Die Römer kannten das, die liberti, die Freigelassenen.

Arendt: Die sind nicht frei, das ist ein großer Unterschied.

Schmid: Nicht nur rechtlich nicht, sondern sie galten auch, ich möchte sagen, konsti­tutionell nicht als freie Menschen.

Arendt: Ja, im Altertum hat man das sehr gut gekannt. Bei uns weiß man es nicht mehr. Es gibt zum Beispiel die sogenannten Freiheiten, das heißt die Rechte des Individu­ums, selbstverständlich auch in konstitutionellen Monarchien. Es kann sie sogar geben in bestimmten Diktaturen.

Schmid: Sogar im Untertanenverhältnis kann man frei sein.

Arendt: Absolut, nämlich privat.

Schmid: Der Untertan Kant fühlte sich frei.

Arendt: Natürlich.

Schmid: Trotz der Rüffel, die er bekam von seinem Minister, als er sich auf theologi­schem Gebiet ein bisschen vorgewagt hatte.

Arendt: Ja, er hat ja da auch sehr geschickt manövriert. Er hat gewusst, was er wollte. Was ich meine ist folgendes: Die Garantie der individuellen, privaten Rechte sind noch nicht dasjenige – die kann man unter allen, fast allen ...,.., nur die böseste Tyrannei, wie wir sie kennen, nimmt diese Rechte wirklich weg. Sie sind garantiert in einer Unzahl von Staatsformen, die noch nicht freiheitliche Staatsformen sind.

Schmid: Nehmen wir das Mittelalter. Ohne Frage waren die persönlichen, privaten Rechte im Privilegiensystem des Feudalismus hervorragend garantiert, und die Privilegi­en unterscheiden sich sehr stark. Der Bauer hatte nicht die Privilegien des Grafen, aber er hatte <selbst wenn das Wort tatsächlich fällt, sollte es gestrichen werden – ein Sprechfeh­ler!> die des Bauern. Und sobald er sich mit dem Bauer-Sein einverstanden erklärte, konnte er sich als ein in das Recht eingebetteter Mensch fühlen, der auch seine Rechte geltend machen konnte. Der Untertan kann in den persönlichen, privaten Rechten ganz und gar ein freier Mann sein. Man lebte wahrscheinlich als Untertan im Vormärz unbe­helligter vom Staat, möchte ich sagen, als als Ritter. Man hatte es, epikureisch gesehen, besser. Aber stoisch gesehen ist es eben nicht mit der Würde des Menschen vereinbar, dass man sich als Mündel eines guten Vormundes fühlt und sich damit begnügt. Zu der Würde des Menschen gehört, auch die Amerikaner haben das gewusst, als sie ihre Revo­lution machten und ihre Menschenrechtsdeklaration entwarfen, dass der Mensch frei sein will zum Staat, das heißt den Staat mit zu gestalten und zu verantworten, was er dabei ge­staltet. Ich glaube, das gehört mit zu der Freiheit in diesem bürgerlichen Sinn, und so wollen wir es ja nehmen, nicht nur im philosophischen Sinn, im Sinn der Innerlichkeit. Da gehört das mit dazu. Ich meine, es gibt zwei Arten von Freiheit, das Epikureische, ich bin frei, wenn der Staat mich in Ruhe lässt – Voltaires „Candide“, „surtout il est neces­saire de cultiver mon jardin“, in meinem Garten bin ich frei, und über den Gartenzaun gehe ich nicht hinaus, was kann mir da viel passieren, die Welt, der heiße Atem der Welt, der Geschichte, geht an mir vorbei. Das ist die eine Art der Freiheit: in Ruhe gelassen wer­den. Die Abform davon ist der Libertiner. Und dann gibt es diese andere Art, die die Stoiker entwickelt haben, die Freiheit zum Staat, die Freiheit, Sein, Dasein, die Lebensfor­men, in denen man existiert, selber schaffen zu können, indem man sie verantwortet.

Arendt: Jefferson hat das genannt participator in government. Das heißt, frei ist man nur, wenn man die Möglichkeit hat zu handeln. Und die Vorstellung, dass das Handeln selber, wie Sie sagen, zur Würde des Menschen gehört und nicht nur das Denken, und dass man handeln nur kann im Lichte der Öffentlichkeit, und dass es sich nun darum handelt in den Revolutionen, die ja alle angefangen haben damit, dass man die anderen Freiheiten, das heißt die Freiheiten, die garantieren, gegen die Unterdrückung reklamier­te. Und indem man diese Garantien reklamierte, die alten geheiligten Privilegien ..... Alle Revolutionen haben ja als Restaurationen angefangen, und Tocqueville hat einmal gesagt, dass man, wenn man sich die Französische Revolution besieht, am Anfang durchaus der Meinung gewesen sein könnte, es handelt sich um eine Restauration und nicht um eine Revolution.

Schmid: Wenn man die so genannten Cahiers liest, die Cahiers de Doléances, die Be­schwerden, die die einzelnen Landschaften vorzulegen hatten, die verlangen die Wieder­herstellung des guten alten Rechts. Weg mit dem neumodischen Zeug.

Arendt: Ganz recht. Es sind im Grunde alles altmodische Männer, die da auftreten. Und was nun so erstaunlich ist, ist, dass es dabei zu einer Revolution kam. Nämlich, um diese Freiheiten zu reklamieren, mussten sich die Leute zusammentun. Indem sie sich zu­sammentaten, konstituierten sie einen Raum der Öffentlichkeit, und sie mussten han­deln. Und plötzlich haben sie Blut geleckt, und jetzt sagen sie: Wir wollen viel mehr.

Schmid: Nehmen wir doch als Beispiel die Französische Revolution. Wie begann die Sache? Die États Généraux, diese altväterlichen, altfränkischen Institutionen traten zu­sammen, Adel, Geistlichkeit, Dritter Stand.

Arendt: Alle sind Royalisten, sogar Robespierre.

Schmid: Ja, es gibt einen Text von ihm, wo er sich als Royalist bekennt. Sie sind Roya­listen, sie wollen nur ein anderes Regime haben, das Regime muss reformiert werden, und dann kam plötzlich dieser Mirabeau, der Sieyès gelesen hatte, Qu'est-ce que le Tiers État?, und der wahrscheinlich von Amerika, von Lafayette, von Benjamin Franklin gewis­se Impulse bekommen hatte, und der sagte: Nein. Nein, es geht um etwas anderes. Wir sind nicht eine Ständeversammlung, denn die repräsentiert ja nur Stände. Wir wollen die Nation repräsentieren. Und dieser Tiers État konstituiert sich als Nationalversammlung, als Assemblée Nationale, und damit ist das Volk Frankreichs souverän. Aber keiner von den Leuten dachte noch daran, bestimmte soziale oder politische Dinge zu wollen, gar nicht. Sie wollten nur eine andere Legitimitätsgrundlage schaffen.

Arendt: Sie wollten noch eine Sache mehr, sie wollten die Nation, wie Sie mit Recht sagen. Aber sie wollten außerdem, und das kommt direkt aus Amerika – das kann man, glaube ich, nachweisen – sie wollten auf einmal eine Konstitution, und das ist völlig neu. Und zwar als geschriebenes Dokument.

Schmid: Als philosophisches Dokument.

Arendt: Als geschriebenes.

Schmid: Die englische Verfassung – die bewunderte englische Verfassung, die nicht geschrieben ist, und von der man durchaus damals schon begriffen hat, dass alle ihre In­stitutionen im Grunde entstanden sind, ohne dass jemand sie schaffen wollte, jedenfalls nicht als Ableitung aus einem abstrakten Grundsatz heraus – die hielt man eben nicht für eine philosophische, sondern nur [für eine] gewachsene Verfassung, [für] etwas, das eben zufällig gut geraten ist. Stattdessen wollte man etwas haben als Verfassung, was Anwen­dung allgemeiner Grundsätze ist. Hyppolite Taine hat über diese Dinge geschrieben und gesagt, das war das Unglück, dass die Leute glaubten ausgehen zu müssen von allgemei­nen Grundsätzen, von principes généraux, und glaubten, die Wirklichkeit ließe sich aus diesen Grundsätzen heraus hier und jetzt konkretisieren, ohne dass der Grund­satz dabei verloren geht.

Arendt: Ja, wissen Sie, in Amerika, woher ja diese Vorstellung der Konstitution kam, da brach ja merkwürdigerweise unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung ein Kon­stitutionsfiber aus. Jeder Staat gab sich eine Konstitution, das heißt, sie hatten eine un­beschreibliche Angst, in einen so genannten Naturzustand zu verfallen. Diese Sache war in Amerika das große Glück der Revolution und war der Triumph der amerikanischen Re­volutionäre, dass sie es dann schließlich fertig brachten.

Schmid: War das im Grunde nicht doch ein Katechismus?

Arendt: Hören Sie, sie hält heute noch.

Schmid: Ein Katechismus, in dem man nachschlagen konnte, deswegen geschrieben. Ich meine das nicht abwertend, ganz und gar nicht. Der Catechismus Romanus hält heute noch.

Arendt: Also wie immer, jedenfalls etwas Festes, etwas, das Stabilität sichert, was wie ein Wall ist, in dessen Grenzen man frei ist. Warum ist das in Europa nicht gelungen? Es gibt es nicht in Europa. Was wir in Europa als Verfassung bezeichnen, hat mit dem, was wir in Amerika Verfassung nennen und was durchaus revolutionären Ursprungs ist, sehr wenig zu tun. Sehen Sie, ich glaube, innerhalb von wenigen Jahren hat es [in Frankreich] zehn Verfassungen gegeben, wissen Sie, immer eine nach der anderen. Die Sache wurde zerrieben. Eine Verfassung wurde zu dem, was man ja in Deutschland sehr oft sagte, zu einem „Fetzen Papier“. Diese Entwicklung ging in der Französischen Revolution bereits los. Und die Frage ist ja wirklich, warum gelingt die eine, warum misslingt die andere. Und dann die weitere Frage, warum hat die eine, nämlich die Französische Revolution, die doch scheitert, diesen ungeheuren Welterfolg? Warum hat die andere, die doch ge­glückt ist [die Amerikanische Revolution], gar keinen Erfolg?

Schmid: Ich glaube, es lässt sich auf die erste Frage eine Antwort geben: Es ist leich­ter, sich in Verfassung zu bringen, wenn man mit einem Jahr Null anfängt. Es ist leichter, sich auf dauerhafte Weise in Verfassung zu bringen, wenn diese Verfassung die Voraus­setzung dafür ist, dass man überhaupt als organisierte Gemeinschaft bestehen wird. In ei­nem alten Land mit alten Institutionen, mit alten Gewohnheiten, mit dem, was Montes­quieu les moeurs nennt, die Sitten, die ja mehr sind als die Sitten des Einzelnen, sondern das Selbstverständnis des Menschen in seiner Umwelt, da ist es sehr viel schwerer, mit ei­nem Wurf die Formen zu finden, die, ohne zu verleugnen, was war, die Zukunft mit einbe­greifen können. Dort wird immer die Versuchung da sein und die Notwendigkeit bestehen müssen, etwas abzuspalten von der Grundlage, von der aus das erste geschehen ist, und auf diesem Abgespaltenen zu versuchen, eine neue Grundlage zu schaffen. Das sollte man wohl nicht übersehen. Und wenn Sie fragen, warum die eine so weit gewirkt hat und die andere nicht – tja, Paris ist ein anderer Ausstrahlungspunkt als Washington und Boston.

Arendt: Das scheint uns heute so. Im 18. Jahrhundert hat Amerika, auch in der Vor­stellung der Europäer, eine viel größere Rolle gespielt als im 19. Jahrhundert. Die Män­ner, die die Revolution machten in Amerika, fühlten sich ja durchaus als Europäer, und zwar viel mehr als hundert Jahre später, und waren durchaus noch Engländer. Ich glaube, sehr wichtig ist, dass in der Amerikanischen Revolution die soziale Frage gar keine Rolle gespielt hat. Als man in Frankreich das Volk befreite, da befreite man etwas, das man eigentlich gar nicht kannte. Man befreite die Armut.

Schmid: Nun, das Wort peuple hat ja in Frankreich immer einen doppelten Sinn ge­habt: es heißt auf der einen Seite „die Bevölkerung“, und es heißt auch „die kleinen Leute“. Wenn Rousseau und Marat von „le peuple“ sprechen, dann meinen sie „die klei­nen Leute“ – die, die noch nicht durch Zivilisation überbildet und damit degeneriert sind.

Arendt: Ja, und dann meint Robespierre damit les malheureux.

Schmid: Les malheureux.

Arendt: Aber noch nicht Rousseau.

Schmid: Nehmen wir doch einmal Victor Hugos „les misérables“, der seinem Revoluti­onsroman den Titel gibt: Les Misérables.

Arendt: Natürlich. Und das fängt eigentlich erst mit der Französischen Revolution an. Sehen Sie, selbst bei Rousseau ist le peuple dasjenige, was nicht gesellschaftsfähig ist und in Folge dessen nicht durch die Gesellschaft verdorben. Aber er meint nicht les malheu­reux.

Schmid: Er meint die Ungebildeten, die Unverbildeten würden wir sagen.

Arendt: Aber nicht die Unglücklichen.

Schmid: Weil bei ihm die Bildung im akademischen Schulsinn verbilde, man lese Emile, nicht wahr? Nicht in der Schule, sondern indem man spazieren geht, bildet man das Kind, indem man zuschaut, wie das Lämmlein weidet.

Arendt: Da ist le bon sauvage.

Schmid: Ja. Vor allen Dingen muss das Volk homogen sein, bei Rousseau, im Fühlen homogen, diese volonté générale ist eigentlich mehr ein sentiment général, der sich aus­spricht, der sich darstellt und damit alles enerviert. Was daraus alles entstanden ist in der Dekadenz und in der Perversion, das wissen wir, nicht wahr – die Homogenität des Vol­kes, die dann den Weg des Biologisch-darwinistischen genommen hat.

Arendt: Ja nun, in der Französischen Revolution verlagern sich die Akzente, und aus dem bon sauvage wird le malheureux, und jetzt beginnt die soziale Frage in den Mittel­punkt zu treten. Und die soziale Frage scheint so unendlich viel wichtiger, weil man ja das Elend zum ersten Mal auf die Straßen gelassen hat und zum ersten Mal wirklich sieht.

Schmid: Les faubourgs.

Arendt: Ja. Und unter diesem Strom des Elends, das vordringlich ist wie alle körperli­chen Dinge, geht im Grunde die Revolution im Sinne der Gründung einer neuen Staats­form, des Freiheitsraums etc. zugrunde.

Schmid: Raum einer neuen Gesellschaft?

Arendt: Ja. Aber jetzt glaubt man, die neue Gesellschaft muss erst da sein, bevor es die neue Staatsform gibt, nicht? Robespierre sagt an einer Stelle: „La république? La monar­chie? Je ne connais que la question sociale.“4In ihrem Buch Über die Revolution belegt Arendt dieses Zitat mit Albert Olivier: Saint-Just et la force des choses, Paris: Gallimard 1954, S. 145.

Schmid: Ja, nun, sicher. Robespierre, Babeuf, Saint-Just, da stimmt das, Hébert, .....

Arendt: Natürlich.

Schmid: Aber die anderen. Niemand war unbarmherziger gegenüber den misérables als die Revolution, als die Republik, die daraus entstanden ist. Sie hat sich wirklich auf Besitz und Bildung zu gründen versucht, wobei Besitz ganz groß geschrieben wurde. Letztlich wurde doch dann zum Pathos und Ethos der Revolution, dass man die billig ge­kauften biens nationaux5Kirchen- und Klösterbesitzungen. nicht wieder herausgeben muss.

Arendt: Ganz recht.

Schmid: Darauf beruhte letztlich der innenpolitische Sieg des General Napoleon Bo­naparte.

Arendt: Natürlich. Dann schließlich wurde es zum Aufstieg der Bourgeoisie und zur Abschaffung der Aristokratie.

Schmid: Angefangen hat dieses bourgeoise Denken des Staates mit John Locke. Aber ich wollte noch die Frage beantworten, die Sie vorhin aufgeworfen haben: Warum hat die Französische Revolution weltweit gewirkt? Nehmen Sie das bitte nicht als den Versuch, ein Bonmot zu bringen: durch das Dezimalsystem und was alles damit zusammenhängt.

Arendt: Das versteh ich nicht.

Schmid: Dadurch, dass sie in die Welt die Vorstellung gebracht hat, dass alles sich re­duzieren lässt auf mathematische Axiome, auf Dinge, die sich beweisen lassen, dass nichts deswegen allein ein Recht hat zu bestehen, weil es nun besteht, sondern dass es sich more geometrico in seiner Existenz von unmittelbaren Einsichten und Axiomen aus beweisen lassen muss. Deswegen das metrische System, Sie wissen das, nicht wahr, das war eine echte Revolution von unerhörter Tragweite, zumal man dieses System mit Bajonetten in die Welt hineintrug. Aber insoweit metrisches System der Code Civil.

Arendt: Das alles liegt, eigentlich, wenn ich Sie recht verstehe, auf der Seite der Nati­on.

Schmid: Sicher, das ist auf der Seite des Willens, das ist ganz und gar voluntaristisch. Das ist es gewesen, was die Französische Revolution – und was geschah durch ihren Voll­strecker Napoleon, Premier Consul, in erster Linie, nicht wahr – in die Welt hineinge­wirkt hat. Die Welt wird quantitativ verstehbar. Man muss nicht mehr Qualitäten zu ver­stehen suchen, sondern man kann sich ein Weltbild machen, indem man misst und zählt, differenziert und integriert. Der Code Civil ist nichts anderes als angewandte .....

Arendt: Sie haben vollkommen recht. Ich hatte im Moment an etwas Anderes gedacht.

Schmid: Ich meine das gar nicht kommerziell mit dem metrischen System.

Arendt: Nein, nein, ich verstehe es vollkommen, nämlich [dass es] faktisch gewirkt hat. Nun gibt es aber noch eine andere Wirkung, an die ich im Moment dachte, nämlich die Wirkung in der revolutionären Tradition. Sehen Sie, die beiden großen Revolutionen sind doch nicht von Revolutionären gemacht worden. Aber seit den beiden großen Revo­lutionen gibt es einen neuen politischen Typus, es gibt den Revolutionär. Und der Revolu­tionär orientiert sich ausschließlich an der Französischen Revolution.

Schmid: Und das Kennzeichen ist, dass dieser Revolutionär fast immer ein Literat ist. Nicht mehr wie bisher, einer der wie Cromwell, einer der hier etwas von sich aus, von Oli­ver Cromwell aus, im Staate anders haben wollte, sondern man will um der Idee willen es anders haben.

Arendt: Ja aber ..... – und die hommes de lettres in Frankreich vor der Revolution, [und] Jefferson, John Adams, sind auch Literaten.

Schmid: Aber sie wollten keine Revolution, sie wollten eine république des savants.

Arendt: Richtig.

Schmid: Sie glaubten daran, dass die Vernunft sich durch sich selbst durchsetzt. Ge­nau wie auch ein Mann wie Wilhelm von Humboldt die Frage des Regimes ganz offen ge­lassen hat. Die ist ganz gleichgültig; wenn der Mensch richtig gebildet ist, ist er überall Mensch im rechten Sinne des Wortes und frei in den Dingen, auf die es ankommt. Ein Mann wie Voltaire hatte nicht den geringsten Sinn für die Armut. Rousseau und Voltaire unterscheiden sich wie Tag und Nacht.

Arendt: Nein, die hommes de lettres, die ja doch sehr viel mit der Revolution zu tun haben, haben gar keinen Sinn für die soziale Frage. Die soziale Frage tritt erst in der Re­volution auf und zwar meiner Ansicht nach einfach als ein Faktum. Was aber diese Leute haben und was Tocqueville einmal sehr stark betonte, sie haben einen neuen Geschmack am Öffentlichen. Das heißt, diese Leute sind nicht mehr zufrieden damit, dass es Ihnen ja eigentlich ganz gut geht. Sie wollen in die Öffentlichkeit.

Schmid: Zur Freiheit im Sinn des 18. Jahrhunderts kommen dann im 19. Jahrhundert in Weiterwirkung von Dingen, die schon in der Französischen Revolution lebendig gewor­den aber unterdrückt worden waren, Babeuf und diese Leute, nicht wahr – kommt nun plötzlich und immer intensiver das andere Element hinein: Freiheit ist ganz schön, aber was heißt Freiheit? Anatole France: Es ist Millionären wie Vagabunden gleichermaßen verboten, Brot zu stehlen. Aber wie schafft man es, dass es niemanden mehr gibt, der Brot stehlen muss, wenn er nicht verhungern will?

Arendt: Aber damit verlagert sich der Akzent. Damit tritt meiner Ansicht nach eine Verlagerung ein, wo die Staatsform völlig vergessen wird. Sehen Sie, Marx ist an einem Staat überhaupt nicht interessiert, er stirbt ab. Und Lenin, der ja ein sehr komischer Herr war, der hat einmal etwas gesagt, das darauf hinweisen könnte, dass er diesen ursprüngli­chen Ansatz, nämlich die Gründung der Freiheit und nicht nur die Befreiung der Men­schen ..... – er hat gesagt, als man ihn fragte, wie er denn die Revolution definieren wür­de, sagte er: Elektrifizierung plus Sowjets. Da haben Sie die Sachen genau getrennt. Auf der einen Seite die Befreiung von der Armut, die in der Tat eine Bedingung, conditio sine qua non der Freiheit ist, aber auf der anderen Seite die neue Regierungsform – und [Le­nin] hat beide Sachen, die neue Regierungsform, die Sowjets, sowohl wie die Elektrifizie­rung, also die technische Entwicklung, hat beides der Partei ausgeliefert und damit die russische Revolution im Grunde .....

Schmid: Unter Elektrifizierung verstand er, was man sonst die Amerikanisierung nennt.

Arendt: Natürlich meinte er das.

Schmid: Unter Sowjetsystem verstand man und muss man verstehen Rätesystem, dass die Staatsgewalt in den Händen derer ist, die effektiv beitragen dazu, dass Gesell­schaft und Staat sein kann. Nicht der Mensch als Individuum, das so herumläuft, sondern der Mensch als Mitglied eines Betriebs.

Arendt: Oder als Mitglied einer Nachbarschaft oder sogar als Mitglied eines Cafés. Wissen Sie, in der Ungarischen Revolution, bei der ja merkwürdiger Weise die soziale Frage überhaupt keine Rolle gespielt hat – das ist die letzte Revolution, in der sofort die Räte wieder entstanden sind. Das heißt, was das Volk immer wollte, aber sofort organi­sierte und wusste, wie es zu organisieren war, war immer das Rätesystem. Sie können das in der Pariser Kommune nachweisen, in der ersten, meine ich, die keineswegs sich so ausschließlich mit sozialen Fragen beschäftigte.

Schmid: Die nichts zu tun hatte mit Sozialdemokratie?

Arendt: Ach, gar nichts.

Schmid: Sondern wie ein wild gewordener extremer Demokratismus und Liberalis­mus, genau Anarchismus war?

Arendt: Beides. Auf der anderen Seite, wenn Sie die Dokumente sehen, das ist ja auch von den Geschichtsschreibern, die sich alle an der sozialen Frage orientiert haben, viel­fach gar nicht beachtet worden, wie sehr die kleinen Leute darauf aus waren – sie wollten richtige Statuten haben, sie wollten ihre Mitbeteiligung an der Regierung.

Schmid: Sie wollten auch ihre phalanstères6Gemeindehäuser., nicht wahr.

Arendt: Die Sansculotten. – Sie haben beides, in der Pariser Kommune 1871 haben Sie beides. Dann haben Sie Räte in Deutschland und Österreich.

Schmid: Das Rätesystem entstand ja ganz spontan, ohne dass sich jemand überlegt hatte, was und wie. 1905 in Russland, als die Garnisonen, die Meuternden bei der ersten Revolution, und die Fabrikbetriebe, die sich ihnen anschlossen, sagten: Nun müssen wir unsere Vertrauensleute wählen, und die sollen sich zusammensetzen, und alle Gewalt den Räten. In deren Händen muss alle Gewalt liegen, damit wir, Soldaten, Matrosen, Arbeiter, wirklich der Staat sind und wirklich den Staat haben; denn wenn man es macht wie bis­her, werden wir ja doch nur betrogen.

Arendt: Richtig. Nun ist ja sehr interessant, dass in Amerika, wo man das doch am we­nigsten vermuten würde, Jefferson, als er sich schon zurückgezogen hatte, im Alter, ein solches Rätesystem ebenfalls entwarf und sagte: Ceterum censeo, im Übrigen, ich wieder­hole immer wieder, teilt auf in wards7Wahlbezirke innerhalb einer Gemeinde. und Hundertschaften; denn ohne das kann die Re­publik nicht überleben.

Schmid: Das ist das alte Prinzip der Streuung der Gewalt. Dass man die Gewalt auch im Staat nicht als Einheit begreift, streuen muss auf verschiedene Träger und Inhaber dieser Gewalt. Und je näher sie beim Volke sind, sagte Jefferson, desto mehr wird diese Gewalt das Volk selber sein.

Arendt: Erstens, das Volk behält Kontrolle, aber es ist noch eine andere Sache. Jeder Mensch im Volke, der will, hat die Möglichkeit zu handeln, an öffentlichen Geschäften teilzunehmen. Er [Jefferson] sagte einmal: Wenn wir das erst haben werden, versichere ich Euch, sie werden sich eher in Stücke reißen lassen, als von einem Cäsar oder Bonapar­te sich ihre Macht wieder entwinden lassen.8Thomas Jefferson schrieb am 2. Februar 1816 an Joseph C. Cabell: „Where every man is a sharer in the direc­tion of his ward-republic, or of some of the higher ones, and feels that he is a participator in the government of affairs, not merely at an election one day in the year, but every day; when there shall not be a man in the State who will not be a member of some one of its councils, great or small, he will let the heart be torn out of his body sooner than his power be wrested from him by a Caesar or a Bonaparte.“ Jefferson, Thomas et al.: The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson, New York: Modern Library, 1993, S. 604. Von Arendt zitiert in On Revolution, introduction by Jonathan Schell, Penguin Classics 2006, S. 246; dt. Über die Revo­lution, München 1963, S. 325. Siehe auch Arendt in dem in dieser Nummer von HannahArendt.net erstmals veröffentlichten Document: „Founding Fathers (1963)“.

Schmid: Damals hatte man noch ein Recht, Optimist zu sein.

Arendt: Also wissen Sie, da möchte ich immer noch sagen ..... jedenfalls, die einzige Staatsform, die aus der Revolution unmittelbar entsteht: erstens die Republik, aber zwei­tens das Rätesystem. Und zwar spontan.

Schmid: Beide haben die gleiche Wurzel, es sind verschiedene Techniken, den Volks­willen zur Geltung zu bringen.

Arendt: Ganz recht.

Schmid: Aber die Wurzel ist dieselbe: Das Volk ist der Staat. Die Gewalt liegt beim Volk. Man kann sie nicht mehr ausüben wie in der Landgemeinde, wie im Kantonatenzell in den großen Staaten; man muss also eine Repräsentation, eine Vergegenwärtigung des Volkes haben. Die einen sagen: Grundlage dafür ist die Fläche, der Wahlkreis, das Land; die anderen sagen: Nein, dort wo der Einzelne den Schwerpunkt seiner Existenz hat, im Betrieb. Die Romantiker sagten dann: in der Familie, im Dorf.

Arendt: Nein, in der Familie nicht. Sehen Sie, sobald Sie das hereinbringen, haben Sie die Sache zerstört. Die Familie ist die Privatsphäre.

Schmid: Ich meine nicht das Rätesystem, ich meine jetzt etwas, das aus einem ähnli­chen Denken entsprungen ist, die romantische Ständestaatsvorstellung, Charles Maurras: Der Mensch ist, ehe er Mensch ist, Angehöriger einer Familie, ehe er das ist, ist er Bewoh­ner eines Dorfes, und so weiter, und diese Dinge müssen honoriert werden bei der Reprä­sentation.

Arendt: Das alles kann repräsentiert werden. Was nicht repräsentiert werden kann, ist, dass ich selber handeln möchte. Meine Interessen kann ich einem Interessenvertreter anvertrauen, aber mein Handeln nicht.

Schmid: Das sagt ja Rousseau: die Souveränität lässt sich nicht delegieren.

Arendt: Und die Frage ist doch, vor der wir heute stehen bei diesen Mammutstaaten, wie man sie wieder sozusagen auseinanderschlagen kann, dass [es] für diejenigen, die wollen – was keineswegs identisch ist auch nur mit der Majorität der Bevölkerung – eine Möglichkeit gibt, eben das Glück des Öffentlichen, wie das 18. Jahrhundert es genannt hat. Und dass das Volk dahin drängt, das sieht man an den Revolutionen. Jede Revoluti­on erzeugt das Rätesystem aus sich selbst. Es braucht keine Tradition, sie [die Revolutio­näre] haben keine Ahnung.

Schmid: Aber wenn wir an das wieder anknüpfen wollen, was an Neuem in das 19. Jahrhundert kam. Wenn im 18. Jahrhundert die Freiheit den Staat legitimierte, künftig wird das Soziale den Staat legitimieren.

Arendt: Ja, die Gerechtigkeit.

Schmid: Aber auch hier muss man etwas sehen – dass das Wort „sozial“ einen Bedeu­tungswandel erfahren hat. Wenn es bisher einfach bedeutete gesellschaftlich, gesell­schaftsbezogen, nicht Individuum und auch nicht Staat, sondern das System der Bedürf­nisse, bekommt plötzlich „sozial“ eine inhaltliche Bedeutung. Sozial heißt, darum besorgt sein, dass niemand Not leidet, dass jedermann die Möglichkeit hat, durch das Vorhanden­sein der Subsistenzmittel als Mensch menschenwürdig zu existieren. Das bedeutet es wirklich. Und während noch bei Kant die Wohlfahrt kein Kriterium war für die Richtig­keit des Staates, wird jetzt die Möglichkeit, die Fähigkeit, der Wille des Staates, Wohlfahrt zu erzeugen, zu einem Kriterium der Richtigkeit eines Staates.

Arendt: Es ist ja auch zum ersten Mal möglich. Es hat sich doch herausgestellt, dass die soziale Frage lösbar ist nur durch die Technik und nicht etwa durch Klassenkampf, das heißt das ist ja nicht politisch.

Schmid: Ich möchte da noch ein bisschen weitergraben. Von dieser Vorstellung aus, dass der Staat sozial in diesem Sinn zu sein hat, kamen zwei Bewegungen. Die eine sagte, man muss Reformen durchführen, die zu diesem Ziel führen; die andere sagten, Refor­men haben keinen Sinn, denn die Gesellschaft ist in ihrem Ansatz, bei dem, was sie ist, dazu gar nicht fähig – das Ricardosche Gesetz9David Ricardo (1772-1823), britischer Wirtschaftswissenschafter, hat die Theorie der komparativen Kosten­vorteile im internationalen Handel aufgestellt, wonach auch unterschiedlich weit entwickelte Volkswirtschaf­ten vorteilhaften Handel miteinander treiben könnten. Dabei werden Aspekte sozialer Ungleichheit ausge­spart. Vgl. Paul Krugman und Maurice Obstfeld: Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außen­wirtschaft, München, 8 Aufl. 2009. und so weiter – wirklich sozial zu sein, in diesem Sinn. Also muss man, wenn man wirklich will, dass der Mensch frei ist, dass Ar­beit nicht eine Mühsal ist, sondern etwas, mit dem der Mensch seine Wesensbestimmung findet, dann muss man eben diese ganze Verfassung der Arbeit, die ganze Verfassung der Produktivkräfte umstülpen, muss man umwälzen.

Arendt: Sie sprechen noch aus einer Perspektive .....

Schmid: Ich habe versucht, zu sprechen, wie Marx gesprochen hätte. Ich bin ganz wie Sie der Meinung, dass das heute überholt ist. Es ist gegenstandslos geworden, weil die Voraussetzungen sich geändert haben. Im übrigen war Marx ja der Meinung, eines schö­nen Tages wird sogar die Arbeit als solche nicht mehr nötig sein. Seine Vorstellung war doch die, dass in der klassenlosen Gesellschaft etwa Zustände sein werden, wie in Athen zur Zeit des Perikles sie für den Freien bestanden und nicht für den, der arbeiten musste, nicht für den banausos10Griechisch für jemanden, der eine sitzende (aus Sicht des Kriegers verachtungswürdige) Tätigkeit ausübt, Handwerker. und nicht für den Sklaven.

Arendt: Ich freue mich sehr, dass Sie das sagen. Natürlich. Sehen Sie, das sieht ja kaum ein Mensch, für Marx war natürlich das perikleische Athen immer die Vorstellung, an der er sich orientierte.

Schmid: Er hatte nicht umsonst Sophokles gelesen.

Arendt: Natürlich, das ist gar keine Frage, dass das so war. Nun ja, das kann ja noch erhebliche Probleme geben, wenn wir das späte Rom mit der Plebs bekommen. Das ist ja leider sehr viel wahrscheinlicher .....Schmid: als den Demos.

Arendt: Als den Demos, als den freien Mann ..... Denn die Leute, die wirklich diesen goût haben, diesen Geschmack am Öffentlichen und an der Freiheit, von denen Tocque­ville spricht, die sind in allen Gesellschaftsschichten nicht die Majorität.

Schmid: In Frankreich gibt es dafür einen Terminus, den die Italiener begründet ha­ben, la classa politica, Mosca11Gaetano Mosca (1858-1941), italienischer Politikwissenschaftler, veröffentlichte Elementi di scienza politica, 1896; dt. 1950 Die herrschende Klasse – Grundlagen der politischen Wissenschaft, Leo Lehnen Verlag GmbH, München., in Frankreich Tocqueville und andere, la classe politique. Eine Schicht von Menschen, die durch alle sozialen Schichten hindurchgeht, von unten bis oben durchgeht, die die Leidenschaft, den Eros hat, um es so zu sagen, ihr eigenes Da­sein mit dem des Staates zu identifizieren.

Arendt: Ja. Mit dem des Politischen.

Schmid: In ihrem Dasein den Staat zu leben.

Arendt: Und für diese Klasse von Menschen ..... –

Schmid: die ist sehr dünn geworden.

Arendt: Ja, die ist sehr dünn geworden, auch weil es keine Institutionen gibt.

Schmid: Es gab sie in England, ich weiß nicht, ob es sie noch gibt, in meiner Jugend gab es die noch, die Gentry und was dazu gehört.

Arendt: Es gibt sie auch noch in Amerika, die townhall meetings und so weiter.

Schmid: Es gab sie im Frankreich der Dritten Republik, diese ganzen hommes de lett­res und diese Advokaten.

Arendt: Aber das Frankreich der Dritten Republik war eine Sache, die wert war, dass sie zugrunde ging.

Schmid: Aber es gab eine classe politique. Sie war vielleicht schlecht, sie war vielleicht korrumpiert weitgehend, aber es gab sie. Das Entscheidende ist doch zunächst einmal, dass es Menschen gibt, die sich, als die, die sie sind, in den Staat hineinstellen wollen. Ob sie das gut oder schlecht machen, ist eine zweite Frage. Was ich sehe bei uns, ist, dass die Zahl der Menschen, die bereit sind, sich mit dem Staat zu identifizieren, in ihn hineinzu­gehen, um ihn zu formen und zu verantworten, immer geringer wird, und dass an die Stelle dieser freien Bürger eben dann die Betriebsamen, die Manager, die Organisatoren treten, ohne die es nicht geht, die ihren Wert haben. Aber es ist dann nicht mehr die Re­publik, von der man geträumt hat, als man für dieses Wort auf die Barrikaden ging.

Arendt: Tja, und das wäre natürlich das Ende der Revolution. Sehen Sie, der revolu­tionäre Geist, den man entdeckt hat in der Revolution und nicht davor, ist ja identisch ei­gentlich mit dem eigentlich politischen Geist.

Schmid: Das ist das Gegenteil von technokratischem Denken.

Arendt: Genau.

Schmid: An die Stelle dieses Geistes des wirklich Politischen tritt die Technokratie.

Arendt: Die Technokratie ist absolut notwendig, denn ohne sie, ohne ihre Lösung gibt es keine Politik. Aber dieses ganze Technokratische hat ja Sinn und Verstand nur, wenn es aufleuchten kann in diesem freien Raum des Öffentlichen, wo es nur Politik gibt.

Schmid: Ich würde hier mit Platon sagen, was Platon vom Dichter sagt. Er sagt, er würde ihn mit Rosen bekränzen, aber aus dem Staat hinausschicken. Den Technokraten meinetwegen mit Eichenlaub bekränzen, aber nicht in den Staat, in die Polis .....

Arendt: In die Polis gehört er nicht, in die Polis gehört er nicht!

Schmid: Aber er kommt doch wieder hinein. Bei dem, was sich heute Politik nennt ..... ist keine Frage der Leidenschaft, der Form, sondern ist eine Lust am Organisieren, am technischen, richtigen Zusammenfügen von Wirkungskräften.

Arendt: Es gibt eine menschliche und eine unmenschliche Macht.

Schmid: Schauen Sie sich mal einen Wahlkampf heute an. Man geht doch nicht mehr so sehr darauf aus, die besseren Argumente zu finden, sondern die Tricks und die Modali­täten zu finden, bei deren Anwendung man besser ankommt. Das ist doch eine technische Sache, etwas so zuzurichten, um der Erfüllung des Zweckes willen gut anzukommen. Viel­leicht darf ich hier daran erinnern, dass das Wort Revolution einst einen ausgesprochen optimistischen Akzent hatte, einen menschheitlichen Akzent. Man war davon überzeugt, die Menschheit wird dadurch besser und glücklicher. Die Frage ist, ob man heute noch mit dem Wort Revolution diesen optimistischen, menschheitlichen Akzent verbindet. In China wahrscheinlich. Die Frage ist, ob das auch hier in den etablierten Gesellschaften, wo man fürchten muss, dass durch die Umwälzung sehr viel zerschlagen wird und man fürchtet, ob man das bewerkstelligen kann, das auch noch so ist. Und ich denke an das andere, die Orwellsche Vision. Die Utopien waren bisher fast immer optimistisch. Seit dem atomaren Zeitalter, seit dem Zeitalter der Technokratie, werden sie pessimistisch. Mensch, schau hin, wo Du hinkommst!

Arendt: Was können wir tun? Ich meine, ich bin ja nicht in der Politik drin wie Sie. Ich habe mich bemüht, das Wort Revolution zu rehabilitieren. Ich bin der Meinung, dass die wirklich standhaltenden politischen Gebilde und das standhaltende politische Vokabular des 20. Jahrhunderts revolutionären Ursprungs sind. Dass wir heute in der ganzen Welt auf Revolutionen stoßen. Auf jeden Fall. Und zwar im Sinne der Neugründungen.

Schmid: Das zeigt sich auch in einem, dass kaum mehr eine politische Bewegung den Mut hat zu sagen, sie sei konservativ, oder sie sei rechts. Bestenfalls konserviert sie mit.

Arendt: Dass also dieses Wort Revolution und die Sache auf jeden Fall auf der Tages­ordnung der kommenden Jahrzehnte stehen; dass es sich also darum handeln wird zu sa­gen, was ist eine Revolution, was ist ihr wirkliches Ziel, woran geht sie zugrunde ..... Sie geht immer am Terror zugrunde.

Schmid: Sie frisst ihre Kinder.

Arendt: Ja, die Revolution muss nicht ihre Kinder fressen.

Schmid: Aber sie hat sie bisher immer gefressen.

Arendt: Ja weil die Herren in die Schule der Französischen Revolution gegangen sind und sogar geglaubt haben, dass sie gar keine wirklichen Revolutionäre seien, wenn sie nicht zu dem Punkte kommen, wo die Revolution ihre Kinder frisst.

Schmid: Brutus, das Bild des Brutus.

Arendt: Nein, es ist immer das Bild der Französischen Revolution.

Schmid: Nein. In der Revolution war es immer das Bild des Brutus, der seinen Sohn hinrichten lässt, wenn dieser Sohn gegen die Freiheit geht oder nicht tugendhaft war im Sinn dieser virtus, die die Französische Revolution in la vertu12Vgl. Robespierre: „Discours sur les principes de la morale“, 5. Februar 1794. In: Robespierre : Textes choisis, 3 vol., Paris, Éditions sociales, coll. Les classiques du peuple, 1957, Bd. 3. Schmid bezieht sich auf folgende Aussage: „Wenn die Triebkraft der Volksregierung im Frieden die Tugend ist, so ist in revolutionärer Zeit die­se Triebkraft zugleich die Tugend und der Schrecken; die Tugend, ohne die der Schrecken unheilvoll wäre, der Schrecken, ohne den die Tugend ohnmächtig bliebe.“ Nach Peter Fischer, Reden der Französischen Re­volution, München 1974, S. 349. umbenannt hat. - Was soll man tun? Das ist schwer zu sagen. Ich selber glaube, dass Revolutionen heute, wenn sie in etablierten Gemeinwesen geschehen würden, in Europa, sogar heute in der Sowje­tunion, primär zerstören würden und weit zurückwerfen würden die Länder, in denen sie geschehen , und die Menschen, die davon betroffen werden. Auf der anderen Seite bleibt eines bestehen: Dass man sich mit dem, was jeweils heute ist, nicht zufrieden geben darf. Dass auch das zur Würde des Menschen gehört, sich nicht einfach zu beruhigen mit dem, was man übernommen hat. Kurz und gut, ich glaube, dass die Utopie eine Voraussetzung dafür ist, dass die Menschheit nicht verfault oder versandet. Es wird immer, immer dieses Bedürfnis und diese Notwendigkeit bestehen, den Stein weiter zu werfen als er bisher ge­fallen ist. Und es wird immer die Situation gegeben sein, dass Situationen der Utopien entstehen und im Gefolge von ihnen auch revolutionäre Impulse. Dass man erkennt: So wie die Welt heute ist, ist sie nicht richtig. Wir haben aber heute eine Reihe von Dingen, die unsere Vorfahren nicht hatten, die uns erlauben, mit dieser Welt umzugehen und sie zu verändern. Also verändern wir sie, zunächst im Buch Utopia. Verändern wir sie in der Wirklichkeit, indem wir diese Ströme, die auf eine Veränderung zugehen, kanalisieren. Nicht dulden, dass sie wie Wildbäche einfach losbrausen und alle Mühlen wegreißen, die an den Ufern des Stromes der Geschichte stehen. Kanalisieren wir sie, bauen wir Schleusenwehre ein, leiten wir sie richtig, damit sie nicht nur nicht Mühlen wegreißen, sondern neue Mühlen treiben!

Arendt: Das ist ein Plädoyer nicht für die Revolution, aber für den revolutionären Geist. Und mir scheint, dass es darauf in der Tat ankommt, in welchem Grade man den revolutionären Geist – und aus der Revolution sind alle Staatsgebilde der Neuzeit ent­standen, sofern sie positiv zu bewerten sind – wie weit man diesen Geist am Leben erhal­ten kann.

 

(Transkription und Fußnoten von Wolfgang Heuer)

Anmerkungen

1Hannah Arendts Buch On Revolution war 1963 im New Yorker Verlag Viking Press erschienen. Die von Arendt selbst übersetzte deutsche Fassung Über die Revolution veröffentlichte der Piper Verlag Ende 1965.

2Edmund Burke (1729-1797), irisch-britischer Staatsphilosoph, lehnte die französische Revolution ab (Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Manesse, Zürich 1987). Vgl. das Kapitel „Der Streit zwischen den ‚Rechten eines Engländers’ und den Menschenrechten“ in Hannah Arendt: Elemen­te und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 292ff.

3Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794), Aufklärer, verfasste Esquisse d'un ta­bleau historique des progrès de l'esprit humain, 1794; deutsch: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a. Main 1976.

4In ihrem Buch Über die Revolution belegt Arendt dieses Zitat mit Albert Olivier: Saint-Just et la force des choses, Paris: Gallimard 1954, S. 145.

5 Kirchen- und Klösterbesitzungen.

6 Gemeindehäuser.

7 Wahlbezirke innerhalb einer Gemeinde.

8Thomas Jefferson schrieb am 2. Februar 1816 an Joseph C. Cabell: „Where every man is a sharer in the direc­tion of his ward-republic, or of some of the higher ones, and feels that he is a participator in the government of affairs, not merely at an election one day in the year, but every day; when there shall not be a man in the State who will not be a member of some one of its councils, great or small, he will let the heart be torn out of his body sooner than his power be wrested from him by a Caesar or a Bonaparte.“ Jefferson, Thomas et al.: The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson, New York: Modern Library, 1993, S. 604. Von Arendt zitiert in On Revolution, introduction by Jonathan Schell, Penguin Classics 2006, S. 246; dt. Über die Revo­lution, München 1963, S. 325. Siehe auch Arendt in dem in dieser Nummer von HannahArendt.net erstmals veröffentlichten Document: „Founding Fathers (1963)“.

9David Ricardo (1772-1823), britischer Wirtschaftswissenschafter, hat die Theorie der komparativen Kosten­vorteile im internationalen Handel aufgestellt, wonach auch unterschiedlich weit entwickelte Volkswirtschaf­ten vorteilhaften Handel miteinander treiben könnten. Dabei werden Aspekte sozialer Ungleichheit ausge­spart. Vgl. Paul Krugman und Maurice Obstfeld: Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außen­wirtschaft, München, 8 Aufl. 2009.

10 Griechisch für jemanden, der eine sitzende (aus Sicht des Kriegers verachtungswürdige) Tätigkeit ausübt, Handwerker.

11Gaetano Mosca (1858-1941), italienischer Politikwissenschaftler, veröffentlichte Elementi di scienza politica, 1896; dt. 1950 Die herrschende Klasse – Grundlagen der politischen Wissenschaft, Leo Lehnen Verlag GmbH, München.

12Vgl. Robespierre: „Discours sur les principes de la morale“, 5. Februar 1794. In: Robespierre : Textes choisis, 3 vol., Paris, Éditions sociales, coll. Les classiques du peuple, 1957, Bd. 3. Schmid bezieht sich auf folgende Aussage: „Wenn die Triebkraft der Volksregierung im Frieden die Tugend ist, so ist in revolutionärer Zeit die­se Triebkraft zugleich die Tugend und der Schrecken; die Tugend, ohne die der Schrecken unheilvoll wäre, der Schrecken, ohne den die Tugend ohnmächtig bliebe.“ Nach Peter Fischer, Reden der Französischen Re­volution, München 1974, S. 349.