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Ausgabe 1, Band 7 – November 2013

 

 

 

Editorial

Revolutionary spirit

 

As to the history of the revolution, my ideas may be peculiar, perhaps singular. What do we mean by the Revolution? The war? That was no part of the revolution; it was only an effect and consequence of it. The revolution was in the minds of the people, and this was effected … before a drop of blood was shed. 

JOHN ADAMS. Letter to Thomas Jefferson, 24 August 1815

 

 

Die revolutionären Aufbrüche in den letzten Jahren – der arabische Frühling, die zivil­gesellschaftlichen Proteste in Europa und in Nord- wie in Südamerika – waren und sind vielfältig und heterogen. Die Reflexion über sie, die Erinnerung an den „Geist der Revolu­tion“ und das Bedürfnis nach Aufarbeitung, ist jedoch in den Hintergrund getreten, und damit auch die grundsätzlichen Fragen, die diese Aufbrüche begleitet haben: Können die europäische und amerikanische Tradition der Revolution die Begriffe und Kategorien zur Verfügung stellen, in denen das Geschehene begreifbar gemacht werden kann? Welche Darstellung wäre den Ereignissen angemessen und welche Rolle könnten Arendts politi­sche Analysen dabei spielen?

Die politische Öffentlichkeit wird dagegen beherrscht nur von einem Thema: der Bürde der Gewalt, zu der jede Revolution in einem Zwangsverhältnis zu stehen scheint, wie es sich augenblicklich in den Zerstörungen des Bürgerkriegs  in Syrien und der zunehmen­den Gewalt in Ägypten zeigt, während die vielfältigen Initiativen, die von der politischen Erfahrung und der Erfindungskraft der Handelnden erzählen, in der Literatur, der Kunst und im Film vor dem Vergessen bewahrt werden. Wenn jetzt von der Niederlage und der Folgenlosigkeit der demokratischen Bewegungen in den arabischen Ländern so viel die Rede ist, so wenden wir mit Arendt ein:  Keine von den demokratischen Initiativen ist fol­genlos, so lange sie im Gedächtnis bewahrt wird.

Die jüngsten Auseinandersetzungen um den Gezi-Platz in Istanbul, die hartnäckigen Studenten-Streiks gegen die neoliberale Regierung in Chile und die Massenproteste in Brasilien zeigen, dass der Funke keineswegs erloschen ist. Aber sie zeigen noch etwas an­deres: dass die einzelnen Bewegungen zwar durch regionale Besonderheiten geprägt sind, zugleich aber in einer viel engeren Weise aufeinander bezogen sind, als dass sie nur als re­gionale Ereignisse begriffen werden können. Hier wird eine historische Konstellation ma­nifest, die Arendt pointiert als die Unumkehrbarkeit einer veränderten Weltsituation be­zeichnet hat: dass wir nicht nur in einer Welt leben, sondern in einer Welt, die vermessen, vernetzt und aufgeteilt ist. Jedes regionale Ereignis ist potentiell Weltereignis. Der Begriff der Menschheit ist heute nicht mehr nur Begriff oder Ideal, weder ein schöner Traum noch ein fürchterlicher Alptraum, sondern eine politische Größe und Realität. Niemand kann sich dieser Realität entziehen: Es gibt kein Außerhalb oder Jenseits dieser Realität, die eine Folge gesellschaftlicher Prozesse ist, die aufgrund eines Mangels genauerer Begrifflichkeit unter dem abstrakten Stichwort „Globalisierung“ zusammen gefasst werden. (Siehe hierzu auch Elisabeth Young-Bruehls Vorwort zu der koreanischen Ausgabe ihres Buches Why Arendt matters, das wir als Einleitung zu dieser Ausgabe veröffentlichen.)

Es geht in den neuen revolutionären Bewegungen nicht nur um die Gründung der Frei­heit im begrenzten Rahmen einer Verfassung, an der nur die Mitglieder einer Gemein­schaft partizipieren. Es geht auch um die prekäre Situation der Menschenrechte im 21. Jahrhundert und um die doppeldeutige Natur jedes Gesetzes, das definiert, wer dazu ge­hört und wer draußen bleiben muss. Deshalb sind auch gängige Argumentationsmuster wie dass die arabischen Länder nur dort anzukommen brauchen, wo sich die westlichen Länder schon befinden, sehr kurzsichtig und realitätsblind. Denn sie schüren die Wider­sprüche und Ressentiments. Zugleich verhindern sie, dass die Wahrnehmung der fakti­schen Verantwortung für die verhängnisvollen Ereignisse, wie sie sich in Lampedusa und anderen Orten zeigen, so in den Blick gerät, wie es notwendig wäre. Die Menschenrechte richten sich an alle Nationen und die Weltgemeinschaft, eine Politik zu fördern, die die Möglichkeiten der Veränderung der Verhältnisse immer wieder auslotet. In diesem Sinne sind sie „wesentlich revolutionär“ (vgl. Menke, Raimondi, Die Revolution der Menschen­rechte, Frankfurt a.M. 2011).

Da es noch zu früh für umfassende Analysen der Ereignisse ist, wollen wir in dieser Ausgabe stattdessen auf einzelne Aspekte eingehen:

-       Mit dem Hinweis auf den Film Drei Künstlerinnen und die Revolution in Kairo, der von dem politischen Engagement der Künstlerinnen, den Reflexionen und künstleri­schen Umsetzungen ihrer politischen Erfahrungen in der Frühphase des ägyptischen Frühlings erzählt. Der Film gehört zu den einzigartigen Dokumenten dieser Art.

-       Mit John Lejeunes Beitrag „Hannah Arendt’s Revolutionary Leadership“  auf die Frage der Führerschaft politischer Bewegungen und das Phänomen der Führerlosigkeit, auf das die Bewegungen wie Occupy Now und Indignados stolz waren.

-       Mit Jens Hanssen, der sich in seinem Essay „Translating Revolution: Hannah Arendt in Arab Political Culture“ damit befasst, wie Arendts Revolutionsbuch nicht nur wörtlich ins Arabische übersetzt, sondern auch inhaltlich auf die Probleme „angewendet“ wurde.

-       Mit Myriam Revault d`Allonnes, die dazu anregt, über den Begriff der Krise neu nachzudenken. Die Infragestellungen der herrschenden politischen Legitimationen sind zwar zahlreich, dennoch bedeuten sie keineswegs, dass sich revolutionäre Situationen daraus entwickeln. Heißt das nun, dass die Krise nichts anderes mehr ist als eine Meta­pher auf eine Zukunft, deren Unausweichlichkeit für viele Menschen in der Fortsetzung von Unrecht und sozialem Elend besteht? Oder gibt es die Chance, in der Krise die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft zu finden, die für Arendt der Ort des Handelns ist?

Im Teil „Documents“ kommt Hannah Arendt zu Wort – in einem Rundfunkgespräch mit dem  deutschen Politiker und Politikwissenschaftler Carlo Schmid und drei Skizzen zu Vorträgen, die sie in Chicago hielt. Diese vier Dokumente aus den Jahren 1963 bis 1965 stehen in engem Zusammenhang mit Arendts Arbeiten an On Revolution (1963) und Über die Revolution (1965), sie werden hier erstmals veröffentlicht. Arendt referiert in ih­nen nicht nur das, was aus dem Revolutionsbuch bekannt ist, sie erläutert nicht nur ihre „Modelle“ der französischen und amerikanischen Revolution, sondern sie fasst zusam­men, fragt nach und stellt sich an sie herangetragenen Fragen. Sie gibt Antworten und äu­ßert sich unter dem Stichwort „Revolution“ auch zu seinerzeit in der Öffentlichkeit viel diskutierten politischen Erscheinungen, etwa in den USA („Civil Rights Movement“, „Se­cond Revolution“)  oder in Kuba („Cuban Revolution“). Mit Carlo Schmid plädiert sie da­für, den „revolutionären Geist“ am Leben zu erhalten.

 

Die Redaktion