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Ausgabe 1, Band 5– November 2009

Das Recht auf Rechte und das Engagement für eine gemeinsame Welt

Hannah Arendts Reflexionen über die Menschenrechte

Jürgen Förster

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Politischer Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen.

 

Antisemitism [...], imperialism [...], totalitarianism [...] – one after the other, one more brutally than the other, have demonstrated that human dignity needs a new guarantee which can befound only in a new political principle, in a new law on earth, whose validity this time must comprehend the whole of humanity while its power must remain strickly limited, rooted in and controlled by newly defined territorial entities. (Arendt 1979, ix)

 

Die Ansichten über die Menschenrechte, die Hannah Arendt unter anderem im neunten Kapitel von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft unter der Überschrift Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte formulierte, sorgen bis heute für Irritationen und Unverständnis. Die Irritationen werden zunächst sicherlich von ihrem ironischen, mitunter sogar sarkastischen Ton hervorgerufen, indem sie das überkommene Menschenrechtsverständnis kritisiert. Im Zentrum ihres Nachdenkens über die Menschenrechte steht das Schicksal der Staatenlosen und Flüchtlinge des 20. Jahrhunderts. Angesichts dieses Schicksals absoluter Rechtlosigkeit sei es zynisch von angeborenen, natürlichen Menschenrechten zu reden. Das Massenphänomen der Staatenlosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg habe die Ohnmacht des Menschenrechtsschutzes offenbart. Diejenigen, die auf ihr bloßes Menschsein zurückgeworfen wurden und die nur noch ihre Menschenrechte in die Waagschale werfen konnten, haben erfahren müssen, „daß die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins ihre größte Gefahr war. Sie waren damit in das zurückgefallen, was die politische Theorie den ‚Naturzustand’ und die zivilisierte Welt die Barbarei nannte“ (Arendt 2001, 620). Sobald der Staat das Recht seiner Bürger nicht mehr garantiert und schützt bzw. ihnen ihre Staatsbürgerschaft entzieht, werden die Menschen in einem System souveräner Nationalstaaten aus allen rechtlichen Bezügen herausgeschleudert, weil niemand mehr bereit dazu ist, die sogenannten Menschenrechte wirksam zu schützen. Uneingeschränkten Rechtsschutz genießen im Nationalstaat nur Angehörige der Nation. „Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied“ (Arendt 2001, 603). Die Annahme angeborener Rechte, die unveräußerlich sind und universal gelten, was auch immer geschieht, verschleiert Arendt zufolge die reale Katastrophe der Staatenlosigkeit. Die Ohnmacht und Hilflosigkeit der Menschenrechtsorganisationen angesichts der millionenfachen Staatenlosigkeit und die nachdrückliche Behauptung staatlicher Souveränität, die nur die jeweiligen nationalen Interessen verfolgt, führten in der Zwischenkriegszeit letztlich dazu, dass „[d]as bloße Wort ‚Menschenrechte’ […] überall und für jedermann, in totalitären und demokratischen Ländern, für Opfer, Verfolger und Betrachter gleichermaßen, zum Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus [wurde]“ (Arendt 2001, 564). Im Konflikt mit den nationalen Interessen hatten die Menschenrechte keine Chance. „[W]er immer einmal die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert waren, verloren hatte, blieb rechtlos“ (Arendt 2001, 560). Diejenigen, die ihre Heimat verloren haben und vertrieben wurden, konnten nirgends eine neue Heimat finden. Schlimmer noch, die millionenfache Flüchtlingsbewegung bedingte eine umfassende Denaturalisierung und Deassimilierung von früher Eingewanderten (vgl. Arendt 2001, 587).

Aber nicht nur der Ton ihrer Kritik wirkt irritierend. Vor allem die von ihr vorgenommene Identifikation des Schicksals der Nationalstaaten und der Menschenrechte, die das Ende der Menschenrechte an den Niedergang des Nationalstaates knüpft, und ihre Diagnose, dass wir uns in Bezug auf die Menschenrechte in heillose Aporien verfangen, ist immer wieder kritisiert worden. Arendt scheint auf irritierende Weise den universalen Anspruch der Menschenrechte von einem rechtspositivistischen Standpunkt aus prinzipiell zu bestreiten. Für den Rechtspositivismus ist der Staat die einzige Quelle des Rechts und Rechtsschutz genießen nur Angehörige des Staates. Ein natürliches, vorstaatliches unveräußerliches Menschenrecht kann es demnach nicht geben. Wenn Arendt betont, dass Menschen nur einen wirksamen Rechtsschutz genießen, wenn sie Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sind und der Polemik Burkes gegen die Französischen Revolution und seiner Verteidigung der Rechte der Engländer zustimmt, dann scheint dies eine positivistische Rechtsauffassung zwingend nahe zulegen. Wie ist dann aber die Arendtsche Forderung eines Rechts auf Rechte zu verstehen? Widerspricht sie nicht mit dieser Forderung unweigerlich ihrer eigenen Kritik an den abstrakten, vorstaatlichen Menschenrechten?

Arendts Haltung in Bezug auf die Menschenrechtsbegründung wird auch von Autoren kritisiert, die ihrem Werk aufgeschlossen gegenüber stehen und die versuchen, ihr Denken kritisch weiterzuführen. So kritisiert beispielsweise Seyla Benhabib im Anschluss an Jürgen Habermas die fehlende normative Grundlage des Arendtschen Denkens:

„Sie [Arendt, J.F.] widersetzt sich dem rechtfertigenden politischen Diskurs, widersetzt sich mithin dem Versuch eines Nachweises der Rationalität und Gültigkeit für unseren Glauben an die Universalität der Menschenrechte, an die Gleichheit der Menschen und an die Verpflichtung, andere respektvoll zu behandeln. Obwohl sich Hannah Arendts Auffassung von Politik und vom Politischen ohne eine normative Position, die stark in universalistischen Menschenrechten, Gleichheit und Respekt wurzelt, kaum nachvollziehen oder überhaupt verstehen läßt, kann man in ihren Schriften nicht feststellen, daß sie sich um eine normative Rechtfertigung bemüht“ (Benhabib 1998, 302).

Angesichts dieser Diagnose möchte ich mich mit folgenden Fragen beschäftigen: Warum steht Arendt den philosophischen Versuchen der Menschenrechtsbegründung so skeptisch und ablehnend gegenüber und warum begründet sie ihre eigene Position nicht moral- oder rechtsphilosophisch, sondern politisch. Wie lässt sich diese „normative Lücke“ (Benhabib) erklären? Warum beunruhigt Arendt diese Lücke nicht und warum versucht sie sie nicht mit allen Mitteln zu schließen?

Bevor ich mich aber diesen Fragen zuwende, möchte ich einige Bemerkungen über die Motivation und den Anspruch der Arendtschen Kritik an der Menschenrechtsbegründung voranstellen, um deutlich zu machen, dass diese Kritik keineswegs im Sinne des Rechtspositivismus formuliert ist.

I.

Die Kritik Arendts am klassischen Verständnis der Menschenrechte steht nicht in der Tradition des Rechtspositivismus, denn ihre Kritik zielt nicht primär auf den universalistischen Rechtsanspruch der Menschenrechte und auch der Nachweis eines naturalistischen Fehlschlusses liegt ihr fern. Gleichwohl zielt ihre Kritik auf die naturalistische Begründung der Menschenrechte. Ihre Kritik arbeitet aber keine formalen Widersprüchlichkeiten heraus, sondern verweist auf realpolitische Verwerfungen und Konsequenzen. Sie besagt, dass das überkommene Verständnis der Menschenrechte deren wahren Sinn nicht erfasst habe. Die naturrechtlichen und religiösen Begründungen der Menschenrechte übersehen, dass in der Moderne diese metaphysischen und religiösen Überzeugungen unwiderruflich haltlos geworden sind. Die Menschen haben sich, wie Arendt betont, von Gott, der Geschichte und der Natur entfremdet. Diese Instanzen sind keine Autoritäten mehr, an denen sich das Handeln orientieren kann. Die Revolutionen des 18. Jahrhunderts haben alle äußeren Autoritäten jenseits der Vernunft zerstört. Von nun an ist der autonome Mensch das Maß aller Dinge:

„Die Menschen der Neuzeit hatten ihre gesellschaftliche und ihre geistige Heimat verloren: Sie waren des Standes, in den sie geboren wurden, durch die Fluktuierungen der Klassengesellschaft nicht mehr sicher, und es gab mit der zunehmenden Säkularisierung der Welt keine Garantie mehr, daß sie wenigstens außerhalb der politisch-säkularen Sphäre als Christen und vor Gott alle gleich seien. Der politische Körper mußte nun selbst die Garantien schaffen, die bisher von außenpolitischen Mächten getragen worden waren“ (Arendt 2001, 602; vgl. Arendt 2006, 33f.)1
Mehr noch: Heute stellt die Natur keine objektive, dem menschlichen Handeln entzogene Sphäre der Unverfügbarkeit mehr dar. Wenn die Natur aber heute nicht mehr als göttliche Schöpfung und somit sakrosankt, sondern vorrangig als ein Objekt der Naturbeherrschung betrachtet wird, wie kann man dann begründen, dass die menschliche Natur für die menschliche Macht tabu ist. Weder die äußere noch die innere Natur können der Macht Grenzen ziehen.2 Wie das Schicksal der Staatenlosen und Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit für Arendt zeigt, hat „[d]ie Welt [...] an der abstrakten Nacktheit des Menschseins an sich nichts Ehrfurchterregendes finden können“ (Arendt 1981, 160). Im Gegenteil: „Die Überlebenden der Vernichtungslager, die Insassen der Konzentrations- und Internierungslager, ja selbst die noch verhältnismäßig glücklichen [sic] Staatenlosen bedurften keiner Burkeschen Argumente, um einzusehen, daß die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Mensch-Seins ihre größte Gefahr war“ (Arendt 1981, 160). Bereits Hobbes hat es in seiner ihm eigenen Radikalität formuliert: Das im Naturzustand herrschende Recht auf alles und jeden zerstört jede moralische und rechtliche Verbindlichkeit. Selbst die Selbsterhaltung ist kein Recht im strengen Sinne, sie ist Ausdruck eines physischen Kräfteverhältnisses. Der gewaltsame Tod ist kein Mord und kein Rechtsbruch, er wird von niemandem geahndet, von keinem Richter gerichtet. Es ist lediglich ein Akt physischer Auslöschung. 

Diese Ausführungen zeigen, dass die Kritik Arendts nicht vorab durch einen theoretischen Standpunkt, sondern durch die historische Erfahrung motiviert ist. Arendts Interesse zielt nicht auf die Klärung eines rechtstheoretischen Grundlagenstreits, sie möchte vielmehr das historische Geschehen verstehen, das die Wirkungslosigkeit der Menschenrechte offenbart hat. Nicht Arendt bestreitet die Existenz und ihre universale Geltung der Menschenrechte, sondern angesichts der historischen Erfahrung der Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslager drängt sich ihr die Frage auf, „ob es überhaupt unabdingbare ‚Menschenrechte’, das heißt Rechte gibt, die unabhängig von jedem besonderen politischen Status sind und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen“ (Arendt 1981, 154). Sie fragt nach den Konsequenzen, die diese Erfahrungen für unser Denken, unsere Weltsicht, unsere Konzepte und Begriffe beinhalten. Angesichts dieser Erfahrung war es für Arendt unmöglich, zum philosophisch-wissenschaftlichen Alltagsgeschäft überzugehen und so zu tun, als ob nichts geschehen sei. Sie war aber fest davon überzeugt, dass der „Begriff der Menschenrechte […] aufs neue sinnvoll werden [kann], wenn er im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen und Umstände formuliert wird“ (Arendt 1981, 163). Erst im 20. Jahrhundert stellt sich für sie die Frage, was als Menschenrecht überhaupt gelten kann. Welches Recht muss den Menschen garantiert sein, um sie vor der absoluten Rechtlosigkeit zu schützen? Welches Recht muss man den Staatenlosen gewähren, um sie aus ihrer Rechtlosigkeit zu befreien? Ist es überhaupt möglich, Staatenlosen Rechte zuzugestehen? Welche Quellen besitzt dieses vorpositive Recht, wenn es nicht mehr in der Natur, im göttlichen Willen oder der Vernunft gründen soll? Und wenn es ein solches universale Recht gibt, was folgt aus diesem Zugeständnis für den Bereich der Internationalen Beziehungen? Bei all diesen Fragen steht für Arendt eins fest: „Wenn es überhaupt so etwas wie ein eingeborenes Menschenrecht gibt, dann kann es nur ein Recht sein, das sich grundsätzlich von allen Staatsbürgerrechten unterscheidet“ (Arendt 2001, 607). Das ist ein entscheidender Hinweis, der die Position Arendts vom Rechtspositivismus trennt. Das einzige Recht, das für sie dieses Kriterium erfüllt, ist das „Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird“ (Arendt 2001, 614). Dieses Menschenrecht meint das „Recht, einer politisch organisierten Gemeinschaft zuzugehören“ (Arendt 1981, 158). Es ist das einzige Recht, das aus der Analyse der Staatenlosigkeit rechtlich-institutionelle Konsequenzen zieht, indem es einen Rechtsanspruch eines jeden Menschen auf Staatsbürgerschaft erhebt. Aber um dieses Recht zu garantieren, bedarf es „a new political principle“, das „in a new law on earth“ gründet. Dieses neue politische Prinzip und das neue Gesetz entspringt nicht mehr dem Burkeschen Recht der Nation, vielmehr muss es von der gesamten Menschheit getragen werden. Um dieses Recht zu gewähren, bedarf es einer neuen Verhältnisbestimmung von Universalismus und Partikularismus: seine „validity this time must comprehend the whole of humanity while its power must remain strickly limited, rooted in and controlled by newly defined territorial entities“ (Arendt 1979, ix).

Wenn Arendt nach der Katastrophe einen Neuanfang für möglich und notwendig hält, wie ist dann ihre Diagnose der „Aporien der Menschenrechte“ zu verstehen? Wenn es in Bezug auf die Menschenrechte die Situation ausweglos ist und alle theoretischen Lösungsversuche inakzeptable Konsequenzen beinhalten, weil sie einzig die Wahl zwischen Ohnmacht und Partikularität offen lässt, erübrigt sich dann nicht das weitere Nachdenken. Entweder sind Menschenrechte universal und vorstaatlich, dann besitzen sie den Status moralischer Ansprüche, denen aber die zwingende Kraft des Rechts fehlt. Ihre Missachtung bedingt keine rechtlichen Sanktionen, da es keine Instanz gibt, die ihnen Achtung verschafft. Oder die Menschenrechte werden durch Positivierung zu einem Teil des positiven, nationalen Rechts, wodurch sie eine belastbare rechtliche Qualität erlangen. Sie verlieren aber durch die Positivierung ihren vorstaatlichen, universalen Charakter. Da es keinen universalen Zwang zur Positivierung gibt. Die Positivierung beruht auf freiwilliger Anerkennung. „Die positivierten Rechte könnten keine universellen Rechte mehr sein, sondern jeweils nur nationalstaatlich partikulare, also gar keine allgemein einklagbaren Rechte der Menschen als Menschen mehr. Wenn Einzelne Rechte nur aufgrund geltender Gesetze haben, dann kann es so etwas wie Menschenrechte gar nicht geben, allenfalls Bürgerrechte“ (Gosepath 2007, 281; Brunkhorst 1999, 94). Arendt scheint angesichts dieser Aporie und ihrer tiefen Skepsis gegenüber einer Weltregierung, die sie mit Kant teilt, gewillt zu sein, sich auf die Position des Nationalstaates zurückzuziehen und die ganze Kraft auf die Positivierung zu setzen (vgl. Blättler 2000; Fraser 2004, 79; Benhabib 2008, 67ff.). Die Menschenrechte können nur als Bürgerrechte weltliche Präsenz erlangen, deshalb scheint Arendt in Bezug auf die Bedeutung der Menschenrechte als vorpositive, vorstaatliche Rechte doch eher skeptisch. Das hieße aber, dass sich am Schicksal der Staatenlosen grundsätzlich nichts ändern ließe und dass der Völkermord zwar eine tragische, aber letztlich nicht als Unrecht zu ahndende Tat sei, weil sie gegen kein Recht verstößt. Die Positivierung kann nichts an der Tatsache ändern, dass den Staatenlosen innerhalb eines Systems souveräner Nationalstaaten keine Menschenrechte garantiert werden können. Dies ist aber offensichtlich nicht die Arendtsche Schlussfolgerung. So herrscht bis heute weitestgehend Unklarheit über den Status des von Arendt proklamierten einzigen Menschenrechts, des „Recht auf Rechte“.

II.

Um die Haltung Arendts klären zu können, erachte ich es zunächst als sinnvoll, ihre Ausführungen nicht als einen Beitrag zu einer Philosophie der Menschenrechte aufzufassen. Arendts Nachdenken über die Menschenrechte ist nicht begründungstheoretisch orientiert. Die Anerkennung der Menschenrechte ist für sie keineswegs primär ein Problem, das sich durch eine rationale Begründung lösen lässt. Die tägliche praktische Infragestellung der Menschenrechte lässt sich durch die ausgefeiltesten Begründungen kaum verhindern und die Täter sind auch durch den Nachweis eines performativen Widerspruchs nicht zu einer Veränderung ihrer Praxis zu bewegen (vgl. Volk 2008). Paradoxerweise offenbaren darüber hinaus gerade die fortwährenden Versuche, Menschenrechte zu begründen, den fragilen, gefährdeten Status der Menschenrechte. Denn nur das Nicht-Selbstverständliche muss begründet werden. Menschenrechte fordern die fraglose Anerkennung, indem sie aber unter einem Begründungszwang stehen und sich legitimieren müssen, stellen sie die geforderte selbstverständliche Autorität wieder in Frage. Jede Begründung impliziert die Möglichkeit der Infragestellung. Darum kann selbst die zwingendste theoretische Begründung fraglose Autorität nicht herstellen. Sie ist nicht in der Lage, die selbstverständliche Geltung der Menschenrechte in der gesellschaftlichen Realität zu bewirken.

„Wenn jemand uns sagte, daß er Gründe braucht, um anständig zu sein, können wir ihm kaum länger trauen; sicher würden wir seine Gesellschaft meiden – denn könnte es nicht sein, daß er seine Auffassung ändert?“ (Arendt 2006, 129; vgl. ebd. 2006, 91)

Wer eine philosophische Begründung benötigt, um einzusehen, dass er Menschen ein Mindestmaß an Respekt und Würde zuerkennt, und der, wenn ihn die Begründung nicht überzeugt, meint das Recht zu besitzen, Menschen foltern oder auf andere Weise missachten zu können, der wird kaum, moralische Gebote als selbstverständlich in seinem Handeln befolgen. Die Quelle moralischen Verhaltens einer Gesellschaft liegt nicht in moralphilosophischen Abhandlungen, sondern in der alltäglich geübten Praxis selbst. Bedeutender als der Einfluss der Moralphilosophie, die in ihrer Reichweite und Verbreitung doch eher begrenzt ist, ist das kulturell-öffentliche Selbstverständnis einer Gesellschaft, in das mehr oder weniger bewusst universalistische Werte und Normen eingelassen sind.

Weil die Menschenrechte erst dann wirklich gefährdet sind, wenn sie in der Praxis, im menschlichen Miteinander in Frage gestellt werden, ist das Problem der Anerkennung der Menschenrechte für Arendt eher ein Problem der Praxis und des Widerstands gegen menschenrechtsverletzende Politik. Menschenrechte sind in erster Linie auf politische Solidarität angewiesen. Arendt stellt deshalb unter anderem die Frage nach den Voraussetzungen politischer Solidarität. Wann spenden wir wem Solidarität? Und vor allem: Warum ist den Staatenlosen und Flüchtlingen in der Zwischenkriegszeit die Solidarität radikal und umfassend verweigert worden? Stellt man das Problem in dieser Weise, dann wird deutlich, dass die Menschenrechte kein unverbrüchliches, qua Geburt verbürgtes Eigentum der Individuen sind. Vielmehr sind sie Ausdruck einer spezifischen menschlichen Beziehung, die stetig erneuert und gepflegt werden muss, so dass ihre Geltung und Beachtung ständiger Auftrag zur Sorge ist. Die Menschen müssen dafür Sorge tragen, dass die Menschenrechte in der Welt erscheinen, dass sie Wirklichkeit und praktische Wirksamkeit erlangen. Es geht um die Etablierung und Bewahrung einer politischen Ordnung, in der die Menschenrechte gelten und sich Geltung verschaffen können.

Arendt reagiert mit dieser Forderung einer Menschenrechtspolitik und der Frage, wie man den Menschenrechten eine weltliche Präsenz verschaffen kann, bereits früh auf eine „begründungstheoretische Lücke“ (Forst 2007, 308 Anm. 20), an der sich nach wie vor die philosophischen Begründungsversuche der Menschenrechte abarbeiten. Dieses Problem, das alle Begründungsversuche der Moral betrifft, die einen zwingenden Beweis für die Notwendigkeit moralisch-vernünftigen Verhaltens erbringen wollen, ist in der Kontingenz des Handelns und der menschlichen Freiheit begründet. Es verweist auf die Tatsache, dass die Einsicht in das Moralgesetz nicht automatisch ein pflichtgemäßes Handeln bedingt. „Alle Moral versagt, sobald wir anfangen zu handeln. Aus dieser Not erfindet man die ‚ethischen Regeln und Maßstäbe  Man will das Handeln einschränken. Aber: Diese Regeln können, da sie prinzipiell von aussen kommen, immer nur beschränken, sie können nie vorschreiben, und das Handeln wird sie immer wieder durchbrechen und übersteigen, sich gegen sie ‚vergehen’“ (Arendt 2003a, 557f.). Die Vernunft, die dem Handeln moralische Regeln auferlegen möchte, scheitert zum einen am freien Willen und zum anderen daran, dass sie nie positiv bestimmen kann, was man tun soll. Das Positive und das Gute ist äußerst schwer zu bestimmen und wenn es in den Bereich des Handelns als Anweisung eintritt, ist es keineswegs ausgemacht, dass sich das Gute auch verwirklicht. Gute Absichten können durchaus böse Folgen haben. Die Beschränkung des Handelns funktioniert nur negativ, indem sie bestimmt, was man nicht tun darf.

„Das Kriterium für eine freie Handlung ist stets das Bewußtsein, daß man sie auch hätte unterlassen können [...]. Das Wollen scheint unendlich viel mehr Freiheit zu besitzen als das Denken, das auch in seiner freiesten, spekulativsten Form dem Gesetz der Widerspruchsfreiheit nicht entgehen kann“ (Arendt 2002, 247).

Die Einsicht in die Freiheit des Willens und die Tatsache, „daß die Vernunft an sich nichts in Bewegung setzt und nichts erreicht“ (Arendt 2002, 312), d.h. nicht praktisch wirken und bewirken kann, nährt die Skepsis Arendts, dass Menschenrechtsbegründungen einen nennenswerten Beitrag leisten können, eine Praxis der Menschenrechte zu etablieren. Um praktisch zu werden, bedarf die Vernunft zusätzlicher Ressourcen und Motivationen, die aber nicht in ihrer Verfügungsgewalt liegen (vgl. Günther 2006, 121).3 Hinzu kommt, dass das Handeln im Gegensatz zur Vernunft unhintergehbar kontextgebunden ist. Diese Kontexte machen es aber unmöglich, dass das Handeln die Forderungen des Vernunftgesetzes rein und prinzipientreu umsetzen kann. Die Vernunft fordert Achtung und Gehorsam ihren Gesetzen gegenüber, die Motivation, ihr aus freien Stücken zu folgen, kann sie nicht erzwingen.
„Wäre es tatsächlich so, daß reine Vernunft allein aus sich selbst auch praktisch werden könnte, wäre die Rede vom Gehorsam entbehrlich. Daß sie gleichwohl in Anspruch genommen wird, legt den Verdacht nahe, daß dieses Verhältnis als ein autoritäres gedacht wurde, in dem die gesetzgebende Vernunft sich zu den inneren und äußeren Kontexten repressiv verhält. [...] Die Reduktion der Freiheit auf Vernunft läßt scheinbar keine andere Wahl als die Unterdrückung alles Nicht-Vernünftigen im Namen der Freiheit“ (Günther 2006, 122; vgl. Arendt 2006, 37ff.).4

Die Repression versucht die Lücke durch gewaltsamen Ausschluss derjenigen, die sich dem Vernunftgesetz widersetzen und von ihrer Freiheit Gebrauch machen und nicht zustimmen, zu schließen. Auf dem Grund der Menschenrechtspraxis liegt eine Entscheidung, eine grundlegende Bereitschaft, die nicht wiederum begründungslogisch abgeleitet werden kann. Vernunft und Wirklichkeit, Denken und Handeln gehen nicht harmonisch ineinander über. Somit stellt sich die Frage, wie die Vernunft praktisch werden kann. Wie können die wohlbegründeten Einsicht der Vernunft zu einer entsprechenden Praxis führen, wenn

„zwischen dem basalen Vernunftbegriff und den Menschenrechten eine ‚begründungstheoretische Lücke’ klafft. Damit gesteht die vernunfttheoretische Begründung der Menschenrechte ein, dass nicht ‚die’ Vernunft der Grund der Menschenrechte ist. Der Grund der Menschenrechte ist [...] vielmehr die Fähigkeit und die Bereitschaft, jeden Menschen als eine ‚moralische Person’ anzuerkennen. Diese Fähigkeit und Bereitschaft prägt dann auch unsere Vernunft: indem wir uns gegenüber jedem, der von unserem Handeln betroffen wird, rechtfertigen (können). Aber die Fähigkeit und Bereitschaft, jeden Menschen als eine ‚moralische Person’ anzuerkennen, folgt nicht schon aus der Vernunft“ (Menke und Pollmann 2007, 59).

Christoph Menke und Arnd Pollmann ziehen hieraus den Schluss, dass es keine „’neutrale’ Begründung der Menschenrechte geben könne“ (Menke und Pollmann 2007, 59). Das bedeutet zum einen, dass es keine Begründung von Menschenrechten geben kann, die nicht schon die Geltung der Menschenrechte voraussetzt. Für Arendt können die Menschenrechte wie moralische Sätze generell nicht begründet sein, weil sie der Grund sind. Sie besitzen als Ausdruck eines grundlegenden moralischen Anspruchs axiomatischen Charakter (vgl. Arendt 2006, 50). Sie sind entweder evident und werden als solche als selbstverständlich erachtet oder sie bedürfen des Zwangs. Wenn nun aber, wie es für Arendt nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts als unausweichlich gilt, das Moralische sich nicht mehr von selbst versteht und der bloße Zwang das Ressentiment hervorruft, stellt sich die Frage,  wie man dem „Verbrechen gegen die Menschheit“ (Arendt) begegnen kann. Welche Ressourcen gibt es, um zu verhindern, dass das Böse extrem wird?

Die Unmöglichkeit der Neutralität bedeutet darüber hinaus, dass Menschenrechte der Performanz, des Engagements bedürfen. „Das Engagement für die Menschenrechte bedeutet, Partei zu ergreifen und Gruppen zu mobilisieren, die mächtig genug sind, um denjenigen in den Arm zu fallen, die die Rechte anderer verletzen. Folglich ist ein effektives Engagement im Bereich der Menschenrechte zwangsläufig parteilich und politisch“ (Ignatieff 2002, 34). Menschenrechte haben deshalb kein vom Handeln losgelöstes Sein. Sie sind, wie bereits erwähnt, immer in bestimmten sozialen Kontexten situiert und entspringen gesellschaftlichen Konfliktlagen. Versteht man Menschenrechte als Prinzipien des Handelns, dann bedeutet das, dass sie kein zu erstrebendes zukünftiges Ziel, keine Utopie sind. Sie realisieren sich entweder wie die Freiheit, die für Arendt ja bekanntlich den Sinn der Politik ausmacht, aktuell im Handlungsvollzug oder sie sind nicht. Sie besitzen deshalb von vornherein eine politische Dimension. Die Praxis selbst muss schon die Realisierung der menschenrechtlichen Prinzipien beinhalten. Allerdings scheinen mit Verschiebung der Perspektive weg von der Begründung hin zum solidarischen Handeln die Konsequenz des Relativismus und die Zerstörung der universalen Geltung der Menschenrechte unabweisbar.

„Wenn aber, wie wir oben vermutet haben, als Grund für den menschenrechtlichen Einspruch gegen die totalitäre Politik allein eine Praxis bleibt – Anerkennung jedes Einzelnen als anderen –, dann löst sich die traditionell-aufklärerische Universalitätsgarantie der Begründung auf; denn dass alle Menschen zu Teilnehmern dieser Praxis werden, ist durch nichts in ihrer Natur gewährleistet“ (Menke und Pollmann 2007, 79).

Handeln ist immer kontextuell und damit relativ; kein Kontext gleicht dem Anderen. Im Handeln reagieren wir immer auf spezifische Situationen, insofern kann es unmöglich für das Handeln einen Anspruch auf Universalität, keine festen Standards und feste Regeln geben. Vor allem kann man niemanden zwingen, sich dieser Praxis anzuschließen, ohne seinen eigenen Anspruch auf Vernünftigkeit zu delegitimieren. Man kann nur dafür werben und hoffen, dass die Werbung auf offene Ohren trifft. Die Zustimmung und die Entscheidung, sich dem Kampf für die Menschenrechte anzuschließen, d.h. sie in seinem Handeln zu achten, kann nie mit logischer Notwendigkeit erzwungen werden. „Man kann allenfalls einem anderen die Zustimmung ‚ansinnen’ oder um sie ‚betteln’. Und bei dieser Überzeugungstätigkeit appelliert man an den ‚gemeinschaftlichen Sinn’“ (Arendt 1998, 97).

III.

Die Situation scheint in der Tat aporetisch: entweder wir haben gut begründete Menschenrechte, dann ist aber für die Praxis und dem Schutz der Menschen noch nicht wirklich etwas gewonnen. Oder wir geben die Begründungsebene auf, um ganz für die Positivierung der Menschenrechte und eine menschenrechtliche Praxis zu votieren, dann geben wir zwangsläufig zu, dass die Menschenrechte nur einem partikularen Geltungsbereich angehören und ihre Kontingenz nie abschütteln können. „Das Feld der menschlichen Praxis ist wesentlich plural“ (Menke und Pollmann 2007, 80). Damit wird aber der universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte zerstört, so dass man allen Relativierungen im Namen kultureller Besonderheit hilflos ausgeliefert ist. Das Engagement für die Menschenrechte, das sich selbst nicht begründen kann, erscheint dann als willkürlicher Menschenrechtsimperialismus. Noch verwickelter wird die Situation, wenn man sich klarmacht, dass der Universalismus nun seinerseits kaum davor gefeit ist, in barbarische Gewaltpraktiken auszuarten. Die imperialistische Gewalterfahrung zeigt, wie leicht der menschenrechtliche Universalismus in Barbarei umschlägt, wenn er mit der faktischen Pluralität des Menschen konfrontiert wird (vgl. Menke und Pollmann 2007, 80f.; vgl. Arendt 2001, 408ff.)5. Aber ist die Alternative Universalismus versus Relativismus unumgänglich und ausschließlich? Gibt es nicht eine Möglichkeit, den universalen Anspruch der Menschenrechte mit der konkreten Bindungsfähigkeit partikularer politischer Gemeinschaften zu vermitteln? Arendt erachtet diese Alternative für falsch und sucht deshalb nach einem dritten Weg, der in der Lage ist, das Allgemeine und Universale mit dem Konkreten und Besonderen zu vermitteln. In diesem Versuch drückt sich die besondere „Denkhaltung“ Arendts aus. Diese Denkhaltung offenbart m.E. eine Alternative zur gängigen moralphilosophischen Begründungsarbeit. Obwohl Arendt streng zwischen Moral und Politik unterscheidet 6, scheint es naheliegend, dass Arendt auch in den Fragen der Menschenrechte, die für sie keine moralischen, sondern politische Fragen sind, wie in Fragen der Moral die Überzeugung vertritt, dass nicht so sehr die rationale Begründung die Menschen zum moralischen Handeln veranlasst. Wichtiger sind für sie die konkreten Beispiele, die Exempel, denen man handelnd nachfolgen kann.

„Sokrates hat ein Exempel statuiert, das in Tausenden von Jahren unvergessen geblieben ist, und diese Probe aufs Exempel ist in der Tat die einzige ‚Beweisführung’, deren philosophische Wahrheiten fähig sind. [...] Und genauso wie philosophische Wahrheit denjenigen, für die sie nicht zwingend evident ist, nur durch die Praxis ‚bewiesen’ werden kann, kann sie politisch nur relevant werden, wenn es ihr gelingt, sich in Gestalt eines Beispiels zu manifestieren. Jedenfalls gilt dies für die Moralphilosophie, deren Neigung zur Kasuistik ja bekannt ist“ (Arendt 2000, 350).

Es geht in all diesen praktischen Fragen um sinnlich wahrnehmbare, konkrete Präsenz. Menke/Pollmann haben in Bezug auf Michael Walzer und die von ihm vertretene Konzeption des „wiederholenden Universalismus“ eine ähnliche Haltung aufgewiesen. Der Anspruch auf Universalität eines ‚allumfassenden Gesetzes’ werde von Walzer in einen Anspruch auf „Exemplarizität“ transformiert:

„die Exemplarizität einer je besonderen Konzeption der Menschenrechte.7 Diese Konzeption der Menschenrechte soll ein Beispiel dafür sein und geben, wie die Idee der Menschenrechte verstanden und verwirklicht werden soll. Aber wie jedes gute Beispiel, so kann auch diese Konzeption der Menschenrechte die Idee der Menschenrechte nur in einer besonderen Weise, unter besonderen Voraussetzungen verwirklichen. Ihrem Beispiel unter anderen Voraussetzungen zu folgen heißt, ihm in einer anderen Weise zu folgen. Das führt zu dem entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Verständnissen des Universalismus: eines Universalismus des ‚allumfassenden’, überall auf dieselbe Weise gültigen Gesetzes und eines Universalismus der stets verändernden und erneuernden Wiederholung. Dieser Unterschied besteht darin, dass jener Universalismus statisch ist – das universale Gesetz ist gegeben und wird in jeder neuen Situation nur noch als dasselbe angewandt. Der ‚wiederholende’ Universalismus dagegen ist dynamisch und prozessual“ (Menke und Pollmann 2007, 82; Walzer 1996, 139-168).

Der ‚wiederholende’ Universalismus wird durch seinen dynamischen und prozessualen Charakter dem Handlungscharakter eher gerecht als die statische Auffassung des Universalismus, allerdings erfordert er eine hohe Kontextsensibilität und damit in einem hohen Maße Urteilskraft. Die Exemplarizität ist dabei nicht mit der relativistischen Bestreitung der verbindlichen Geltung der Menschenrechte zu verwechseln, weil sie die Überzeugung eines universalisierbaren menschenrechtlichen Anspruchs und seiner Bedeutung für das menschliche Zusammenleben nicht preisgibt. Ja, erst diese Überzeugung eines universalen Anspruchs ermöglicht erst die Rede von Exemplarizität, denn im Beispiel verdichtet sich die Bedeutung universaler Menschenrechte zur sinnlichen Präsenz. Arendt drückt dieses Ineinander von Universalismus und Partikularität durch den Begriff des „konkreten Allgemeinheit“ aus, die sich in der reflektierenden Urteilskraft bilde. Das Eigentümliche und Irritierende an Arendts Versuch, eine politische Ethik zu formulieren, ist sicherlich, dass sie sich nicht der Moral- und Rechtsphilosophie Kants, sondern der Kritik der Urteilskraft zuwendet. Das führt unwillkürlich zu der nicht einfach zu beantwortenden Frage, was die Ästhetik und das Urteil über das Schöne zu einer politischen Ethik beitragen kann?

Zunächst lässt sich sicherlich sagen, dass in diesem Schritt nicht zuletzt die Originalität Arendts Denken gründet. Es ist darüber hinaus zu vermuten, dass in ihm der Schlüssel zu ihrem Verständnis der Menschenrechtsproblematik liegt. Anders als Kant ist Arendt davon überzeugt, dass der Urteilskraft nicht nur auf dem Gebiet der Ästhetik, sondern auch auf dem Gebiet der Moral und der Politik eine zentrale Bedeutung zukommt. Für Arendt steckt bekanntlich in der Urteilslehre die eigentliche und wahre politische Theorie Kants (vgl. Arendt 1998, 20ff.). Sie nimmt an, dass die Phänomene der Moral, der Politik und der Ästhetik „irgendwie von gleicher Natur sind“ (Arendt 2006, 139). Für keines dieser Gebiete gebe es allgemeine, für die Vernunft untrüglich einsehbare Regeln, „die entweder beweisbar wahr oder selbstverständlich befolgbar sind“ (Arendt 2006, 139). Was Arendt zu diesem ungewöhnlichen Schritt ermutigt haben dürfte, ist die Einsicht, dass die Pluralität die gleiche grundlegende Bedeutung für die Urteilskraft wie für das Politische besitzt. Im Gegensatz hierzu spielt die Pluralität in der Moralphilosophie Kants keine Rolle.

„Es ist auffallend, dass in der Kritik der praktischen Vernunft und den anderen moralischen Schriften Kants von den sogenannten Mitmenschen kaum die Rede ist. Es geht wirklich nur um das Selbst und die in der Einsamkeit funktionierende Vernunft. Also ist Kants Moral inklusive dem kategorischen Imperativ die Moral der Ohnmacht; als solche aber ist sie unantastbar. [...] In der Kritik der Urteilskraft hingegen kommt der politische Mensch zu Wort. Die Frage ist: Lässt sich eine Ethik der Macht aus der Urteilskraft entwickeln?“ (Arendt 2003b, 818)

Um nun zu verstehen, inwiefern die Urteilskraft ethisch wirksam werden kann, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Arendt als Bedingung der totalitären Gewalt und der Verbrechen gegen die Menschheit die Weltentfremdung, Isolation und Beziehungslosigkeit betrachtet. Diese Phänomene kennzeichnen die Zerstörung des Gemeinsinns, durch den die Menschen sich als Mitglieder einer Gemeinschaft anerkennen.

„Kant, der sich als Weltbürger begriff, hoffte, daß sie sich auf die gesamte Menschengemeinschaft erstreckte. Kant nennt dies ‚erweiterte Denkungsart’, was bedeutet, daß der Mensch ohne solch ein Übereinkommen für den zivilisierten Verkehr nicht geeignet ist“ (Arendt 2006, 141)8.

Die Urteilskraft stiftet die Beziehungen zur Welt, in dem sie mittels der Einbildungskraft an Stelle jedes anderen die Situation bedenkt und beurteilt. Die Perspektiven der anderen werden mittels der Einbildungskraft in meinen Urteilsprozess einbezogen. Diese Beziehungen sind die Grundlage menschlicher Solidarität. Der Gemeinsinn benötigt die „Beistimmung“ der Gemeinschaft der Urteilenden, um zu repräsentativen Urteilen zu gelangen.

„Diese Art repräsentativen Denkens, das nur durch die Einbildungskraft möglich ist, fordert gewisse Opfer. Kant sagt: Wir müssen sozusagen um der Anderen willen auf uns verzichten, und es ist mehr als eine Merkwürdigkeit, daß diese Leugnung der Selbstsucht nicht im Zusammenhang seiner Moralphilosophie vorkommt, sondern in dem der ästhetischen Urteile“ (Arendt 2006, 143).

Die Fähigkeit des Urteilens, die uns mit der Welt in Beziehung setzt und die die Menschen in kommunizierende Wesen verwandelt, macht es nahezu unmöglich, dass der Mensch Verbrechen gegen die Menschheit verüben kann. Die Maßlosigkeit dieser Verbrechen resultiert aus einem verheerenden Mangel an Einbildungskraft, einem Mangel an der Fähigkeit, sich von der eigenen Person zu distanzieren, um den Anderen und die Welt aus seiner Perspektive wahrzunehmen. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Geschmack eine zentrale Kategorie der Urteilskraft ist, könnte man sagen, dass es um die Bildung des guten Geschmacks geht, dem böse Taten, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten nicht schmecken.

IV.

Um nun die Relevanz dieser Denkhaltung für die Menschenrechte zu zeigen, möchte ich auf einen Gedanken von Richard Rorty zurückgreifen, der es als einen kulturellen Fortschritt betrachtet, dass der Streit zwischen einer universalistischen Begründung und einer kontextuelle Bestreitung von Menschenrechten an Interesse verliere. Ihm zufolge verfehlt die Frage der Begründung oder Bestreitung von Menschenrechten den Kern des Problems, denn sie impliziere notwendig Annahmen über die menschliche Natur. Diese Annahmen seien jedoch kaum zu verifizieren. Er begrüßt deshalb „die wachsende Bereitschaft, die Frage, was unsere Natur ist, durch die Frage, was wir aus uns machen können, zu ersetzen. [...] Heute denken wir uns eher als flexibles, wandelbares, sich selbst formendes denn als rationales oder grausames Tier“ (Rorty 1996, 196). Anstatt sich von der Begründung der Menschenrechte irgendeinen Vorteil zu versprechen, setzt Rorty im Anschluss an den argentinischen Rechtswissenschaftler Eduardo Rabossi auf die Stärkung unserer Menschenrechtskultur. Diese Stärkung kann seiner Ansicht nach dadurch geschehen, dass beispielsweise die Philosophie bestimmte moralische Intuitionen, die in jeder Kultur anzutreffen seien, zu Bewusstsein bringt, um sie der Reflexion zugänglich zu machen. Bei dieser Bewusstseinsbildung gehe es nicht um die Begründung unumstößlicher Werte, durch die dann unsere Kultur ihren Vorrang und ihre Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen behaupten könne. Das Ziel dieses Prozesses sei zwar in gewissem Sinne auch eine Rationalisierung der Lebenswelt, doch Rationalität dient hier nicht der Begründung kultureller Überlegenheit, sondern wird von Rorty als ein „Streben nach Kohärenz“ verstanden, was nichts anderes ist als das Sokratische mit sich selbst im Einklang sein (vgl. Rorty 1996, 149). Arendt teilt sicherlich seine Skepsis gegenüber den philosophischen Begründungsversuchen,9 auch die Bestimmung der Rationalität als Erstreben von Kohärenz scheint mir einige Nähen zu Arendt zu besitzen. Allerdings würde sie dem Rekurs des Pragmatismus auf das Zusammengehörigkeitsgefühl und dem Effizienzbegriff mit einiger Skepsis gegenüberstehen. Es gehe bei der Stärkung der Menschenrechtskultur nicht um die Stärkung der Gefühlsbindung, sondern um die Stärkung von reflexiver Urteilskraft und des öffentlichen Vernunftgebrauchs, um diese Gefühlsbindungen ihrerseits kritisch zu befragen. Arendts Argument würde gegenüber Rorty einwenden, dass das moralische Gefühl der Bedingung der Pluralität nicht gerecht wird. Gefühle besitzen für Arendt keine weltliche Präsenz und insofern sie nur im Inneren des Menschen existieren, kommt ihnen keine Wirklichkeit, geschweige denn Intersubjektivität zu. Gefühle sind gänzlich subjektiv und intim. Man kann sich ihrer nie ganz sicher sein. Eine gewisse Klarheit über sie gewinnt man erst, wenn man sie transformiert und über sie spricht. In Bezug auf die Fragen der Moral und der Menschenrechte geben Gefühle wie Mitleid oder Schuld „keine verläßlichen Hinweise […] auf Recht und Unrecht“ (Arendt 2006, 95).

Wie Arendt, so lehnt auch Rorty einen anthropologischen Zugang und die Annahme einer der Zeit enthobenen menschlichen Natur, ab. Das, was wir sind, ist kein Ausdruck eines ewigen Wesens, sondern entspringt aus unserer Praxis. Paradox ausgedrückt sind wir nur das, was wir aus uns machen. „Wir sind, was wir tun. Und wir sind, was wir versprechen, niemals zu tun“ (Reemtsma 2005, 129).

Wichtiger und interessanter als die Frage nach der Natur des Menschen sei die Frage nach dem Werden (vgl. Rorty 1996, 154). Das von Rorty hervorgehobene Werden oder die darin enthaltene Frage nach den Prinzipien, nach denen wir unser Zusammenleben gestalten möchten, treffen sich mit einer zentralen Einsicht der Arendtschen Kritik am naturalistischen Verständnis von Politik und der naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte. Rorty und Arendt nähern sich beide der Frage der Menschenrechte im vollen Bewusstsein der „Begründungslücke“. „Sie verstehen die Einstellung sympathisierender Anerkennung nicht als Teil der Natur des Menschen, sondern als ein stets fragiles geschichtliches Produkt“ (Menke und Pollmann 2007, 62). Was Menke/Pollmann über Rorty schreiben, trifft sicherlich ebenso und vielleicht noch in höherem Maße für Arendt zu:

„Diese Konsequenz [das die Menschenrechte nicht mehr natur- oder vertragstheoretisch begründet werden können, J.F.] aus der Erfahrung des totalitären Gattungsbruchs hat kaum jemand entschiedener als Richard Rorty gezogen. Rorty betont wie Apel, dass die Menschenrechte als das Ergebnis eines Prozesses der Erfahrung, des Lernens und der Bildung verstanden werden müssen. Im Gegensatz zu Apel betont Rorty aber zugleich, dass dieser Lernprozess angesichts des moralischen Gattungsbruchs totalitärer Politik als ‚kontingent’ verstanden werden muss: als ein Prozess, der möglich, aber nicht notwendig ist. [...] Rorty nimmt vielmehr ernst, dass die Anerkennung jedes anderen, die den Menschenrechten zugrunde liegt, eine menschliche und geschichtliche Praxis ist: Die Fähigkeit und Bereitschaft, jeden anderen als anderen anzuerkennen, gehört nicht zur ersten, sondern zur zweiten Natur des Menschen; zu denjenigen Fähigkeiten und Haltungen, die Menschen dadurch ausbilden, dass sie zu Teilnehmern einer Praxis erzogen werden. Die grundlegende Einstellung, auf der die Erklärung von Menschenrechten aufruht, wird daher, wie jede Praxis, durch nichts anderes getragen als dadurch, dass es immer wieder (und hoffentlich immer mehr) gelingt, Teilnehmer für diese Praxis zu gewinnen“ (Menke und Pollmann 2007, 63).

Arendt betont, wie gesehen, ebenfalls, dass Rechte nur in der Welt der Menschen Realität besitzen; sie gründen nicht in einer präpolitischen Natur, sondern in menschlichen Beziehungen, in denen sich die Menschen gegenseitig ihre Rechte zuerkennen und garantieren. Rechte gibt es insofern nur für die Bewohner einer gemeinsamen Welt. Rechte und Gesetze existieren nur zwischen den Menschen. Sie stiften die Beziehungen, in denen sich die Menschen miteinander verbinden und voneinander abgrenzen. Mit Montesquieu sieht Arendt den Sinn von Gesetzen und Rechten in der Etablierung von Bezügen (vgl. Montesquieu 1994, 99ff.; Arendt 1994, 243ff.). Deshalb haben sie menschliche Pluralität zur Voraussetzung, und nur diese Pluralität verleiht ihnen Sinn.10 Wird das Verständnis des Rechts durch den Hinweis auf seinen Bezugscharakter erweitert, dann verliert es seine ausschließliche Festlegung auf die negative Funktion der Abgrenzung jeweiliger Freiheitsgrenze, wie sie dem liberalen Rechtsverständnis eigen ist. Recht wird dann in seinem Ermöglichungscharakter wahrnehmbar, der es ihm erlaubt, wechselseitige Kommunikations- und Anerkennungsverhältnisse zu stiften. Wie das Politische empfängt das Recht seinen Sinn nur aus der Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen die Erde bewohnen. Die Form und die Allgemeinheit des Gesetzes formuliert deshalb nicht eine Gleichheit, die die Pluralität auslöscht, sondern stiftet eine Gleichheit, die erst den Bezug auf ein Gemeinsames ermöglicht. Ohne diese Gleichheit würden die Menschen in beziehungsloser Isolation verharren, und es ließe sich weder von Pluralität noch von Individualität reden. Pluralität und Individualität erhalten ihren Sinn erst durch die Relation. Freiheit und Gleichheit sind für Arendt ebenfalls relationale Begriffe, weil sie intrinsisch mit dem Handeln verbunden sind. „Freiheit wie Unfreiheit [ist] ein Produkt menschlichen Handelns [...] und [hat] mit der ‚Natur‘ gar nichts zu tun [...]“ (Arendt 2001, 615). „Gleichheit ist nicht gegeben, und als Gleiche nur sind wir das Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren“ (Arendt 2001, 622). Die Rechte der Menschen sind deshalb nicht natürlich im Sinne von selbstverständlich und unveräußerlich, sie sind auch nicht zwingend und evident wie mathematische Wahrheiten. Sie bedürfen der Übereinkunft und sind deshalb „von der tätigen Einsicht menschlicher Vernunft abhängig.“ Der Sinn des Satzes „Alle Menschen sind gleich“ erschließt sich nicht, wenn man ihn als Tatsachenaussage versteht. Als normativer Satz gehört er weder der empirischen noch der logischen Sphäre an. Dieser Satz ist keine Behauptung, sondern ein Anspruch und als solcher steht er „der Diskussion offen[.] und [bedarf] also der Einigung [...]“ (Arendt 1994, 250). Freiheit und Gleichheit als Rechtsansprüche erfordern deshalb menschliches oder besser: politisches Engagement, damit sie zu einem weltlichen Phänomen werden. Sie sind aus diesem Grund künstliche, von Menschen erfundene Konstrukte, um ihr Zusammenleben zu meistern (vgl. Arendt 1994, 241f.). Wir sind für sie verantwortlich.
Man kann in Bezug auf die Menschenrechte mit einem Wort Derridas sagen, die Menschenrechte sind uns nicht gegeben, sondern aufgegeben, die Verantwortung für sie liegt bei uns. Sie sind Versprechen11, die sich die Menschen gegenseitig geben. Dieses Versprechen wird aus freien Stücken gegeben. Es ist nicht rational begründbar, es gründet nur in seiner Performance. Das Versprechen ist einzig in der Welt, weil es jemanden gibt, der etwas verspricht. Kein „zwangloser Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) kann es hervorrufen. Die im Versprechen geleistete Anerkennung erfolgt nicht aus theoretischen Erwägungen. Wie Rorty nimmt Arendt die Kontingenz des Rechts ernst. Recht hat nur einen Gehalt, wenn es lebendiger Geist und gelebte Praxis ist. Man kann für diese Praxis werben und die beste Werbung ist die eigene Befolgung dieser Praxis. Man könnte sagen, dass es in dieser Praxis um die Kultivierung und Verfeinerung des Geschmacks geht. Eine ähnliche politische, anwendungsorientierte Lesart der Menschenrechte vertritt auch Jan Philipp Reemtsma, indem er Menschenrechtsforderungen auf die ihnen zugrunde liegenden traumatischen Gewalterfahrungen zurückbezieht:

„Die Unbeholfenheit der Menschenrechtserklärungen verschwindet, wenn man sie auf diese Weise versteht: als Versuch, darüber einen Konsens zu formulieren, welche Art von Gesellschaft auf jeden Fall nicht angestrebt werden soll. [...] Gerade weil man darum weiß, wie leicht die Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden können und wie politische Zustände beschaffen sind, in denen das der Fall ist, wird das Festhalten an den Menschenrechten zum obersten und insofern unhintergehbaren politischen Wert, als sein Infragestellen als unmittelbare politische Gefahr und Bekenntnis zu einem politischen Zustand, der als traumatisch erfahren worden ist, aufgefasst wird“ (Reemtsma 2001, 143).

Hannah Arendt erläutert diesen Gedanken gerne mit dem Satz: „’Quod licet Jovi non licet bovi’ – was Jupiter erlaubt ist, ist einem Ochsen nicht erlaubt. Mit anderen Worten: Was Einer tut, hängt davon ab, wer er ist.“ (Arendt 2006, 141) Auf den ersten Blick ist dieser Satz eine skandalöse Betonung der Ungleichheit, die nur dazu dient, der Elite Privilegien zu sichern. Dieser Satz lässt sich aber auch anders verstehen und im Kontext wird deutlich, dass Arendt auf etwas anderes hinaus möchte. Sie verdeutlicht mit diesem Satz, dass das Humane nicht selbstverständlich und ohne Anstrengung zu haben ist. Wenn man die Rechte der Götter besitzen möchte, muss man sich auch so benehmen. Das Humane ist ein Anspruch der täglich im Handeln eingelöst werden muss. Es kommt alles darauf an, wen wir uns zum Vorbild erwählen. Dies wird deutlich, wenn Arendt fortfährt und eine Umkehrung vornimmt: „Was den Einen erlaubt ist, ist den Anderen nicht erlaubt, woraus folgt, daß viele Dinge einem Ochsen erlaubt sein mögen, die Jupiter nicht erlaubt sind“ (Arendt 2006, 121). Wenn man nicht selbst zu einem Ochsen werden möchte, sollte man auch die Dinge nicht tun, die einem Ochsen erlaubt sind. Und man sollte sich nicht den Ochsen zum Vorbild nehmen. Das Privileg ist mit der Pflicht versehen, seinen Anspruch tatkräftig zu verwirklichen, sodass man das Privileg verdient hat. Jean-François Lyotard macht in diesem Sinne auf die Kehrseite des Versprechens aufmerksam: „[...] es gibt strenggenommen kein Naturrecht. Es gehört zum Wesen eines Rechts, dass man es sich verdienen muss. Keine Rechte ohne Pflichten“ (Lyotard 1996, 176). Wenn man sich das Recht auf Anerkennung verdienen muss, muss es auch jemanden – ein Einzelner oder eine Gruppe – geben, der darüber entscheidet, ob man das Recht verdient oder nicht. Das verwickelte, kaum aufzulösende Problem dieser Deutung liegt darin, ob man einen Menschen zu der Abgabe eines Versprechens verpflichten kann, und wenn man es nicht kann, die Menschen in ihrem Rechtsstatus von der Willkür des Versprechenden abhängen. Andererseits, zerstört diese Verpflichtung nicht die Bindungskraft des Versprechens, das ja nur solange bindet, wie es auf Freiwilligkeit beruht. Diese Freiwilligkeit impliziert aber von vornherein die Möglichkeit des Nein-Sagens, d.h. ein Versprechen, das nicht an alle Menschen, sondern nur an besondere Menschen ergeht. Das Versprechen qualifiziert eine besondere menschliche Beziehung und schließt damit zunächst alle anderen aus, ohne sie aber ein für alle mal auszugrenzen. Es kann ja immer neue Versprechen geben. Dennoch stellt sich die Frage, ob ein Verständnis der Menschenrechte, das sie auf Versprechen gründet, nicht von vornherein den universalistischen und unbedingten Geltungsanspruch der Menschenrechte verfehlt.

Menschenrechte sind Rechte, die dem Individuum zukommen, ohne dass sie von jemandem zugestanden werden müssen. Menschenrechte werden nicht verliehen und können deshalb auch nicht entzogen werden. Basieren sie aber auf einem Versprechen, werden sie zu einer abhängigen Größe. Sie werden beispielsweise abhängig vom Gedächtnis und dem guten Willen des Versprechenden, der sich an sein Versprechen erinnern und guten Willens sein muss, es einzulösen. Indem Arendt also das „Recht auf Rechte“ nicht naturrechtlich begründet, sondern zeigt, dass es sich um ein Recht handelt, das nur in menschlichen Beziehungen seinen Sinn erhält, nur durch menschliches Engagement garantiert werden kann und insofern immer historisch kontingent ist, stellt sich die Frage, ob das „Recht auf Rechte“ den Sinn, den wir mit Menschenrechten verbinden, überhaupt erfüllen kann, denn es scheint, als ob man seinen Rechtsanspruch auch verwirken kann. Dann nämlich, wenn man seine „Pflicht“ nicht erfüllen möchte, wie Lyotard impliziert. Gegen dieses Verständnis, das das „Recht auf Rechte“ an die Erfüllung von bestimmten Leistungen bindet, wenden Menke/Pollmann zu Recht ein, dass Menschenrechte den Anspruch besitzen unbedingt zu gelten und in diesem Sinn grundlos sind (vgl. Menke und Pollmann 2007, 52ff. u. 141ff.).

Und dennoch besitzt der Hinweis von Lyotard seine Berechtigung, denn er betont zu Recht die Wechselseitigkeit des Rechts. Ich kann für mich nur ein Recht von meinem Gegenüber beanspruchen, wenn ich bereit bin, es ihm auch zu gewähren. Die Anerkennung ist sicherlich eine zu erbringende Leistung, die mir von den Anderen zuteil wird. Wenn ich also als Mensch anerkannt werden möchte, bin ich verpflichtet, die Anderen auch als solche anzuerkennen. Wenn ich den Schutz meiner Würde von den Anderen fordere, dann erlege ich mir die Pflicht auf, ein Leben zu führen, in dem ich meine Selbstachtung wahren kann. Wenn ich nicht möchte, dass mich die Anderen nicht verachten, muss ich so leben, dass ich mich selbst achten kann, dass ich mein Denken und Handeln vor mir selbst und vor der Menschheit verantworten kann.12 Es wird deutlich, dass die Pflicht nicht von außen an das Individuum herangetragen wird. Die Entscheidungsfreiheit liegt vielmehr bei jedem Individuum, aber diese Freiheit impliziert unabdingbar die Verantwortung, die Konsequenzen dieser Entscheidung auf sich zu nehmen. Freiheit und Verantwortung sind untrennbar mit einander verknüpft. Arendt stimmt aus diesem Grund auch nicht völlig mit der folgenden Ansicht von Menke/Pollmann überein, die in Bezug auf die vertragstheoretische Begründung der Menschenrechte Otfried Höffes einwenden:

„Nach dem Tauschmodell [Höffes, J.F.] gelten Menschenrechte mithin keineswegs unbedingt, sondern sie kommen nur denjenigen zu, die selbst Menschenrechte respektieren. Also hätten die Nazis, ähnlich wie heute etwa islamistische Terroristen, durch ihre Verletzung der Menschenrechte ihre eigenen Menschenrechte verwirkt? Wäre dem so, dann gäbe es gar keine Menschenrechte. Denn die Menschenrechte gelten unbedingt, also ungeachtet dessen, was jemand ist oder tut: Selbst wer die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen begeht, verliert dadurch nicht seine eigenen Menschenrechte“ (Menke und Pollmann 2007, 52f.)

Menke/Pollmann haben sicherlich Recht, wenn sie darauf aufmerksam machen, dass aus der Menschenrechtsverletzung durch Nazis und Terroristen nicht automatisch ein Recht auf Menschenrechtsverletzung durch den Staat oder die Siegermächte abzuleiten ist.

V.

Wie verhält sich nun aber das von Arendt befürwortete Todesurteil für Eichmann zu den Menschenrechten im Allgemeinen und zum „Recht auf Rechte“ im Besonderen? Ist das Todesurteil für Eichmann nicht ein Verstoß gegen die Menschenrechte? Spricht die Todesstrafe Eichmann nicht sein „Recht auf Rechte“ ab und schließt ihn seinerseits aus der Menschheit aus? Um diese schwierigen Fragen einer möglichen Antwort zuzuführen, ist es hilfreich, sich die verschiedenen Bestimmungen des Rechts auf Rechte zu verdeutlichen. Dieses Recht wird von Arendt einmal als ein unbedingtes Recht auf Mitgliedschaft zu einer politischen Gemeinschaft bestimmt, dann wiederum als das Recht jedes Individuums, zur Menschheit zu gehören. Und als dritte Bestimmung dieses Rechts gibt Arendt die Erklärung, dass dieses Recht gleichbedeutend sei, mit dem Recht in einem menschlichen Beziehungssystem zu leben, in dem man nur aufgrund seiner Worte und Taten beurteilt wird. Je nachdem, welche der drei Bestimmungen man nun wählt, gelangt man im Falle der Beurteilung des Todesurteils Eichmanns zu unterschiedlichen Einschätzungen. Wählt man die ersten beiden Bestimmungen, dann muss man sagen, dass Eichmann Arendt zufolge aufgrund seines Tuns das „Recht, Rechte zu haben“ verwirkt hat und das Todesurteil ihn legitim aus dem Kreis der Menschheit ausschließt. Damit würde sich aber das Gericht genau das Recht anmaßen, für dessen Anmaßung sie Eichmann zum Tode verurteilt. Legt man jedoch die dritte Bestimmung des „Rechts auf Rechte“ zugrunde, dann ist das Todesurteil nicht zwangsläufig ein Verstoß gegen die Menschenrechte, weil Eichmann ja durchaus aufgrund seiner Taten be- und verurteilt wird. Arendt ist demnach keineswegs der Auffassung, dass das Recht auf Leben ein unbedingtes Menschenrecht ist13; zumindest bei Verbrechen gegen die Menschheit sieht sie sich im Namen der Gerechtigkeit dazu gezwungen, die Todesstrafe als einzig mögliche Bestrafung zuzulassen. Verbrechen gegen die Menschheit sind tödliche Bedrohungen für den Rechtsstaat, weil sie jegliche Möglichkeit einer angemessenen Bestrafung zerstören, weil niemand diese Taten im vollen Sinn verantworten kann. Daraus darf aber keineswegs der Schluss gezogen werden, sie ungeahndet zu lassen. Diese Aporie des Strafrechts scheint mir weder im Denken noch im Handeln auflösbar.

Arendt hat in der Konfrontation mit Eichmann erkannt, dass die größten Gefahren für die Menschen von Isolation, Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit ausgehen. Diese Phänomene zerstören das menschlich-weltliche Beziehungsgeflecht, in das die Menschen durch das Handeln, Sprechen und Urteilen eingebunden sind. Solange dieses Beziehungsgeflecht intakt ist und die Menschen Anteil an der Welt nehmen, in dem sie sie beurteilen und handelnd in sie eingreifen, entfaltet sie eine gewisse Widerstandskraft gegen das extreme Böse. Zu dieser Widerstandskraft gehört Arendt zufolge auch das Urteil darüber, mit welchem Menschen man zusammenleben möchte. Dieses Urteil nicht zu fällen, ist für sie kein Zeichen von Toleranz und menschlicher Aufgeschlossenheit, sondern eher von Beziehungslosigkeit, Gleichgültigkeit und mangelnder Sorge um die gemeinsame Welt. Sie ist eine Haltung des Konformismus, dem jede Gesellschaft gleich gut ist und der sich mit allen und allem arrangieren kann.

„Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und ein bißchen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ‚skandala’, die wirklichen Stolpersteine, welche die menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht werden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität“ (Arendt 2006, 150).

Nicht die philosophische Begründung verhilft den Menschenrechten zu einer weltlichen Präsenz, sondern einzig die Praxis des Handelns und Urteilens, in der sich Pluralität erhält. Nur diese Praxis findet sich mit Unrecht nicht ab. Deshalb betrachtet Hannah Arendt die Verurteilung Eichmanns nicht als einen Verstoß, sondern als eine Stärkung der Menschenrechte.

Literatur

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Anmerkungen

1 Arendt vertritt in Fragen der Menschenrechte eine postmetaphysische, radikal innerweltliche Position (vgl. Parekh 2008). Sie nimmt mit dieser Formulierung bereits die Problemformulierung des modernen Normverständnisses vorweg, die Jürgen Habermas Jahrzehnte später folgendermaßen umschreiben wird. In dieser Bereitstellung der normativen Maßstäbe des Zusammenlebens aus eigenen Ressourcen entspringt die moderne Dynamik der „kontinuierlichen Erneuerung“ (Habermas 1993, 15) der gesamten gesellschaftlich-politischen Grundlagen: „die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne die Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst ‚festzustellen’“ (Habermas 1993, 16) Ist aber das Problem so gestellt, ist jedes naturrechtliche Begründungsunternehmen obsolet. Denn das Naturrecht versucht immer die politische Macht von außen zu begrenzen.

2 „Scheinbar paradox dient der liberale Begriff auf die naturale Metaphorik vor allem dazu, die Natur hinter sich zu lassen – oder genauer: eine bestimmte Vorstellung der Natur, die diese als ewig und unveränderlich oder heilig ansah. Für die Liberalen ist Natur kein autonomer Bereich, in den prinzipiell nicht eingegriffen werden darf, sondern etwas, das von dem Regierungshandeln selbst abhängt; sie ist kein materielles Substrat, sondern ihr ständiges Korrelat. Es ist zwar richtig, dass staatlichen Interventionen insofern eine ‚natürliche’ Grenze gesetzt ist, als sie mit der Naturalität der gesellschaftlichen Phänomene rechnen müssen. Dennoch ist diese Grenze keine negative; es ist vielmehr gerade die ‚Natur’ der Bevölkerung, die eine Reihe bis dahin unbekannter Interventionsmöglichkeiten eröffnet, […]“ (Lemke 2007, 63f.).

3 Habermas, der an einer universalen Moral- und Rechtstheorie begründungstheoretisch festhält und zu diesem Zweck zwischen Moral und der Ethik einer konkreten, partikularen Gemeinschaft differenziert, verweist auf den Preis dieser Ausdifferenzierung und Abstraktion. Dieser Preis verweist auf die oben angesprochene Begründungslücke von Theorie und Praxis, Denken und Handeln: „Moral-, Rechts- und Politiktheorie zahlen für ihre Arbeitsteilung mit einer ‚Ethik’, die nur noch auf die Form der existentiellen Selbstverständigung spezialisiert ist, einen hohen Preis. Sie lösen den Zusammenhang auf, der moralischen Urteilen erst die Motivation zum richtigen Handeln sichert. Moralische Einsichten binden den Willen erst dann effektiv, wenn sie in ein ethisches Selbstverständnis eingebettet sind, das die Sorge ums eigene Wohl für das Interesse der Gerechtigkeit einspannt. Deontologische Theorien mögen noch so gut erklären können, wie moralische Normen zu begründen und anzuwenden sind; aber auf die Frage, warum wir überhaupt moralisch sein sollen, bleiben sie die Antwort schuldig. Ebenso wenig können politische Theorien die Frage beantworten, warum sich die Bürger eines demokratischen Gemeinwesens im Streit um Prinzipien des Zusammenlebens am Gemeinwohl orientieren sollen, statt sich mit einem zweckrational ausgehandelten modus vivendi zufriedenzugeben. Die von Ethik entkoppelten Theorien der Gerechtigkeit können nur auf das ‚Entgegenkommen’ von Sozialisationsvorgängen und politischen Lebensformen hoffen“ (Habermas 2008, 45f.) Arendt ist nicht bereit, diesen Preis zu zahlen, sie sucht nach einer anderen politischen Vermittlung von Universalismus und Partikularismus.

4 „[...] Kant, der wusste, daß der Wille [...] zur Vernunft nein sagen kann, [hielt] es für nötig [...], eine Verpflichtung einzuführen. Die Verpflichtung jedoch ist keinesfalls selbstverständlich, und sie ist niemals bewiesen worden, ohne daß man sich außerhalb des Rahmens des rationalen Diskurses stellte. Hinter dem ‚Du sollst’ und ‚Du sollst nicht’ steht ein ‚Oder sonst’, die Androhung einer Sanktion, die von einem rächenden Gott durchgesetzt wird oder vom Konsens der Gemeinschaft oder vom Gewissen, das heißt, die Drohung mit Selbst-Bestrafung, was wir üblicherweise Reue nennen.“ (Arendt 2006, 51)

5 Ignatieff spricht ebenfalls von einem „imperialen Charakter“ der Menschenrechte, der dazu tendiere, die Menschen und Völker im Namen der Menschenrechte zu entmündigen. Er plädiert aus diesem Grund für ein neues Verständnis der Funktionsweise der Menschenrechte: „Die Menschenrechte würden ihren imperialen Charakter verlieren, wenn sie einen politischeren Charakter bekämen, das heißt, wenn sie dahingehend verstanden würden, daß sie nicht der Verkündung und Durchsetzung ewiger Wahrheiten, sondern der Konfliktlösung dienen“ (Ignatieff 2002, 45). Ich denke, Arendt hätte Ignatieff in diesem Punkt unterstützt.

6 Für Arendt gründet die Moral in der Sorge um das eigene Seelenheil, ihr Kriterium ist seit Sokrates die Widerspruchslosigkeit. Die Moral und das Gewissen entstehen Arendt zufolge im „stummen Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst“ (Arendt 2006, 81), als das sie das Denken bestimmt. Das oberste Ziel moralischen Verhaltens besteht darin ein Leben zu führen, in dem ich nicht mit mir in Widerspruch gerate. Denn „[w]enn Sie [Arendt meint hier die Zuhörer ihrer Vorlesung, J.F.] mit Ihrem Selbst uneins sind, ist das so, als wenn Sie gezwungen wären, täglich mit ihrem eigenen Feind zu leben und zu kommunizieren“ (Arendt 2006, 71). Ich enthalte mich also bestimmter als Unrecht angesehener Handlungen, „weil ich danach nicht mehr in der Lage sein würde, mit mir selbst zusammenzuleben“ (Arendt 2006, 81). In diesem Sinne wirkt die Moral lediglich negativ. „Niemals wird Ihnen dies sagen, was zu tun ist, sondern es wird Sie immer nur daran hindern, bestimmte Dinge zu tun, auch wenn sie von allen um Sie herum Lebenden getan werden“ (Arendt 2006, 92). Das Moralprinzip der Widerspruchslosigkeit, das auch noch die Moralphilosophie Kants bestimmt und das sich in der Überzeugung ausdrückt, dass es besser sei, mit der ganzen Welt uneins zu sein, als mit sich selbst, ist aus der Perspektive der Politik betrachtet, „eine Grenzerscheinung“, seine politische Bedeutung erhält es nur in Krisen- und Ausnahmezeiten, dann nämlich, wenn Konventionen, Regeln und Normen fragwürdig werden (vgl. Arendt 2006, 90ff.). So ist diese Haltung in Zeiten totaler Herrschaft die einzige, die vor Kollaboration schützte, indem sie sich verweigerte, mitzumachen (vgl. Arendt 2006, 94). „Politisch gesprochen – das heißt, vom Standpunkt der Gemeinschaft oder der Welt, in der wie leben, ist sie [die Moral, J.F.] unverantwortlich; ihr Maßstab ist das Selbst und nicht die Welt, nicht deren Verbesserung oder Veränderung“ (Arendt 2006, 52f.). Eigentümlicher Weise betrachtet Arendt die Moral keineswegs als ein intersubjektives Phänomen. Es geht für sie in der Moral nicht um eine normative Ordnung der Welt und nicht um den Mitmenschen, sondern eher um die innere Kohärenz des Selbst. Die Frage: „Was soll ich tun?“, sucht nach einem Handeln, das ich nicht vor der Welt, sondern vor mir rechtfertigen können muss. Selbst wenn mich die Welt nicht zur Verantwortung zieht und von meinem Handeln keine Notiz nimmt, bleibt diese Frage für mich drängend, weil ich den Fragen meines Gewissens nicht entrinnen kann.

7 Dass Arendt eine Vertreterin der Exemplarizität ist, verdeutlicht Menke in einem anderen Zusammenhang am Beispiel des unterschiedlichen Verständnisses der Menschenrechte in Frankreich und den USA, das Arendt in Über die Revolution herausarbeitet. Die bill of rights verstehen sich im Gegensatz zur Déclaration des droits de l’homme als ein politisches Konstrukt. „Eine bill of rights beansprucht nicht, die Rechte eines jeden Menschen zu erklären. Sie kann aber auf andere, indirekte Weise einen universalen Anspruch erheben. Anders als Burke, der seine ‚Rechte des Engländers’ an eine vorausgesetzte Qualität des ‚Englischseins’ gebunden sah [weshalb Arendt diese Rechte als eine Wurzel des englischen Rassismus betrachtete, (vgl. Arendt 2001, 385)J,F.], hat etwa die amerikanische Revolution die von ihr für die damit gegründeten Vereinigten Staaten erklärten Rechte so verstanden, daß sie in allen politischen Gemeinwesen gelten sollen. Die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beruft sich auf ‚the seperate and equal station to which the Law of Nature and of Nature’s God entitle them’ (i.e. das amerikanische Volk). Darin gründet die bill of rights, und dieser station, dieser Rang kommt allen Völkern gleichermaßen zu. (Vgl. Arendt, Anm. 10, S. 9.) Eine bill of rights kann also zwar immer nur die Rechte der Mitglieder in einem Gemeinwesen festlegen, aber es muß sich dabei nicht nur um die Rechte der Mitglieder des (bestimmten) Gemeinwesens, sondern kann sich auch um die Rechte der Mitglieder jedes Gemeinwesens handeln. Das ist nach Arendt die Weise, in der die amerikanische Revolution im Unterschied zur französischen Menschenrechtserklärung Universalität versteht: Sie versteht ihre Rechte exemplarisch für die aller Völker“ (Menke 2008, 138 Anm. 14).

8 In ihrer Vorlesung über die Kantische Urteilskraft bemerkt sie in Bezug auf den sensus communis: „Er ist das Vermögen, durch das die Menschen von den Tieren und den Göttern unterschieden sind. Die eigentliche Humanität des Menschen ist es, die sich in diesem Sinn manifestiert. Der sensus communis ist der spezifische menschliche Sinn, weil die Kommunikation, d.h. die Sprache, von ihm abhängt.“ (Arendt 1998, 94).

9 Albrecht Wellmer weist auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Arendt und Habermas hin. „Während Habermas das Anwendungsproblem gegenüber dem Begründungsproblem marginalisiert, wird bei Arendt undeutlich, was das moralische Urteil mit möglichen moralischen Diskursen zu tun hat“ (Wellmer 1986, 137). An den folgenden Ausführungen von Habermas, die Wellmer zitiert, wird unbeabsichtigter Weise die bedeutende Innovation des Arendtschen Nachdenkens über die Urteilskraft deutlich, denn genau die Leerstelle, die Habermas im Anschluss an die Kantische Moralphilosophie einbekennt, schließt die politische Urteilskraft, die Arendt im Anschluss an die dritte Kritik Kants leider nur noch fragmentarisch andeuten konnte. Wellmer bezieht sich auf ein Interview, das Habermas der New Left Review gegeben hat: „Er [Habermas, J.F.] sagt dort, dass Moraltheorien in der Nachfolge Kants ‚typischerweise auf die Frage der Rechtfertigung von Normen und Handlungen spezialisiert‘ sind und ‚auf die Frage, wie gerechtfertigte Normen auf bestimmte Situationen angewendet und die moralischen Einsichten verwirklicht werden können ... keine Antwort‘ haben. Zur Begründung aber gibt er an, man solle ‚die Moraltheorie nicht überfordern, sondern einiges der Gesellschaftstheorie und das meiste den Beteiligten selbst überlassen – sei es deren moralischen Diskursen oder deren Klugheit‘“ (Wellmer 1986, 137f.; vgl. Habermas 1996, 237). Um diese Klugheit und die Bedingungen, die sie fördert, geht es in der Arendtschen Untersuchung der Urteilskraft. Diesen Aspekt übersieht leider Seyla Benhabib, weil sie ganz im Sinne von Habermas Arendt begründungstheoretisch befragt. Auf diese Frage muss Arendt nahezu zwangsläufig eine Antwort schuldig bleiben (vgl. Benhabib 1998, 140).

10 In diesem Sinne bemerkt Michelman den verbindenden und distanzierenden Charakter von Rechten: „A right, after all, is neither a gun nor a one-man show. It is a relationship and a social practice, and in both those essential aspects it is an expression of connectedness. Rights are public propositions, involving obligations to others as well as entitlements against them. In appearance, at least, they are a form of social cooperation, no doubt, but still, in the final analysis, cooperation.“ (Michelman zit. in Habermas 1992, 116f.).

11 Vgl. zu den „Bedrohungen im Versprechen“ (vgl. Derrida 2003, 106ff.)

12 Ganz in diesem Sinne deutet Ignatieff den Universalismus: „Dabei ist mit Universalismus nur Konsequenz gemeint. Der Westen ist verpflichtet, das zu praktizieren, was er verkündet“ (Ignatieff 2002, 111).

13 Arendt ist sicherlich keine unumschränkte Befürworterin der Todesstrafe, das Gegenteil ist wahrscheinlich, dennoch sieht sie sich durch die unvorstellbare Dimension des Vernichtungswerks totaler Gewalt dazu gezwungen, für Eichmann die Todesstrafe zu fordern, ohne die Aporie zu übersehen, in die diese Tat das ganze Rechtssystem geführt hat (vgl. Arendt 1991, 7-38). Eine andere Frage ist die nach dem Verhältnis von Todesstrafe und Menschenrechten. Hierzu hat jüngst Brunkhorst in einem anderen Zusammenhang bemerkt: „Die staatlich angeordnete Folter verletzt die Menschenwürde und vernichtet die Bedingungen der Möglichkeit egalitären Freiheitsgebrauchs, die Tötung eines Menschen nicht. Nach geltendem Völkerrecht ist die Todesstrafe, nicht aber die Folter mit der Menschenwürde vereinbar“ (Brunkhorst 2006, 90f.). Da die Menschenwürde aber der Kern der Menschenrechte bildet, bedeutet dies, dass die Todesstrafe nach dem geltenden Völkerrecht nicht als eine Verletzung der Menschenrechte betrachtet wird.