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Ausgabe 1, Band 4 – Mai 2008

Liebe und Denken gehören zusammen.

Tatjana Noemi Tömmel: „ ... wer anders als die Liebenden?“  Der Liebesbegriff bei Martin Heidegger und Hannah Arendt

 

„Im Bereich der Pluralität, welcher der politische Bereich ist, muss man all die alten Fragen stellen - was ist Liebe, was ist Freundschaft, was ist Einsamkeit, was ist Handeln, Denken usw., aber nicht die eine Frage der Philosophie: Wer ist der Mensch, noch die Frage: Was kann ich wissen, was darf ich hoffen, was soll ich tun?“

 Mit dieser Notiz aus dem Denktagebuch verabschiedet sich Hannah Arendt keineswegs von Kant, die großen alten Fragen werden nicht preisgegeben, sondern vom Standort der Pluralität aus neu gestellt. Unter diesen Fragen ist die überraschendste die nach der Liebe, die in der Arendt-Forschung bisher nur als private Passion zwischen Arendt und Heidegger auf Interesse gestoßen ist, nicht aber als philosophischer Begriff, der auch in die politische Theorie Arendts hineinwirkt.

Tatjana Noemi Tömmel hat in ihrer gerade fertig gestellten Magisterarbeit „Der Liebesbegriff bei Martin Heidegger und Hannah Arendt“ die philosophische Dimension der Liebe in den Mittelpunkt gerückt. Sie hat die Glasglocke, die der Mainstream des  biographischen Schreibens dem philosophischen Fragen übergestülpt hat, angehoben und dadurch neue Perspektiven eröffnet. Nicht die persönliche Beziehung soll den Diskussionsraum stiften, sondern die philosophische Auseinandersetzung der beiden Denker in ihren vielfältigen und wechselvollen Aspekten. Das Biographische verschwindet dabei nicht vollständig. Es verliert aber seinen Status als Übermuster und bekommt einen genau umrissenen Ort. Dass dabei dem trivialen Gerede um Abhängigkeit und Unterwürfigkeit, das bei dem Thema der Liebe zwischen einem bedeutenden Philosophen und einer natürlich nicht so bedeutenden Philosophin immer von selbst zu wuchern beginnt, auf subtile und theoretisch spannende Weise der Boden gleich mit entzogen wird, ist das erfreuliche Nebenprodukt dieser Arbeit.

Heidegger hat dem Thema der Liebe keine eigenständige Arbeit gewidmet und von Arendt gibt es nur die Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustinus. Bei beiden tauchen aber Reflexionen über die Liebe nicht nur in den Briefen, sondern über das ganze Werk verstreut auf, und der Autorin ist es gelungen, Zusammenhänge herzustellen und begriffliche Nuancierungen herauszuarbeiten. Dabei wird deutlich: Die Liebe ist nicht nur ein Motiv unter anderen. Sie hat strukturierenden Einfluss auf das Denken beider. Durch eine Vernetzung des Liebesdiskurses mit anderen philosophischen Fragestellungen - mit Heideggers Frage nach dem Sein und Arendts Frage nach dem Politischen - konstituiert sich ein Spannungsfeld aus vielfältigen und konkreten Gedankenkonstellationen, die sich phänomenologisch, das heißt der Sache gemäß, zu Antworten kristallisieren. Während sich Heidegger weitgehend innerhalb seines philosophischen Kosmos aufhält, sind Arendts Reflexionen über die Liebe zweifach gewendet: sie sind bezogen auf das eigene philosophische Projekt vom politischen Handeln und zugleich eine Antwort auf Heideggers Philosophie. Wie nah sie Heidegger in der Wahl der Ausgangspositionen ihres Fragens häufig steht, hat Tatjana Tömmel in dieser konkreten textnahen Form als erste nachgewiesen.

Im ersten Teil der Arbeit, der sich mit Heidegger auseinandersetzt, werden gängige Positionen zum frühen Heidegger, seine Philosophie sei „ohne Liebe“ (Jaspers) - seine Konstruktion der „Mitwelt“ in „Sein und Zeit“ ohne wirklichen Dialog mit dem Anderen, vorsichtig beiseite geschoben, um Platz zu machen für den Bau einer Brücke zu einem gleichzeitig stattfindenden Diskurs über die Liebe, der sich in den Briefen anbahnt, um schließlich die Argumentationslinien in der Befragung des späten Heidegger zusammenzuführen. Dem schönen Gedanken Arendts folgend, dass Heidegger jede Schrift verfasst habe, „als finge er von Anfang an“, betont die Autorin den experimentierenden Charakter der Philosophie Heideggers, so dass von verschiedenen, gleichzeitig vorhandenen Gedankengängen gesprochen werden kann, ohne dass der philosophische Grundriss, der durch die Frage nach dem Sein bestimmt wird, Veränderungen erfährt. Man kann also von einer Beweglichkeit des Denkens bei Heidegger ausgehen, die auch die bereits in der Heidegger-Literatur problematisierte Setzung einer Zäsur, die berühmten Kehre, relativiert. Von der „Stimmung“ in „Sein und Zeit“, die gegenüber der reinen Anschauung und Erkenntnis in ihrer komplexen Ungeschiedenheit von Gefühl und Erkennen „existentiale Grundart“ und „gleichursprüngliche Erschlossenheit von Welt“ ist, über die Passagen zu Gefühl und Leidenschaft im Nietzschebuch, das „volo, ut sis“ in den Briefen an Hannah Arendt und Elisabeth Blochmann bis zur Preisgabe des wissenden Willens im Seinlassen des späten Heidegger zeichnet Tömmel den Aufriss eines vielschichtigen Gefüges des Mit-seins jenseits von Subjektphilosophie und Gefühlssolipsismus.  Bereits „Sein und Zeit“ sei durch ein mehrschichtiges Wechselverhältnis gekennzeichnet, in das Heidegger die Erschlossenheit von Welt, Selbst und Mitsein stellt. Dadurch werde eine „Pluralität der Perspektiven“ hervorgerufen, die eine lineare Folgerichtigkeit des „Werde, was du bist“ des Selbst konterkariert. Es entsteht auf diese Weise ein „Teilen der Wahrheit“, das sich aber der Frage stellen muss, ob es offen genug ist, um die Erfahrung des Anderen zuzulassen und damit das Mitsein aus einer engen Anbindung an das Selbst zu lösen. Das würde aber auch bedeuten zu prüfen, ob der von Heidegger in „Sein und Zeit“ exponierte Begriff der Stimmung tatsächlich, wie Tömmel behauptet, „aufnahmefähig“ macht für das Verstehen des Anderen oder ob nicht wie Arendt in ihrer Rahel-Biographie schreibt, in der Stimmung sich die Grenzen von intim und öffentlich verwischen und dadurch die Möglichkeiten zu differenzieren auch abgeblockt werden.  

Tatjana Tömmel listet mehrere Bedeutungen der Liebe auf, die alle mit einer philosophischen Grundhaltung Heideggers in Zusammenhang stehen, dass nämlich weder das eigentliche Selbst oder der Andere noch die Wahrheit in Besitz genommen werden können. Aus diesem Grunde werden sie zum Gegenstand der Liebe: der Liebe zum Anderen, der Liebe als wissender Wille, der Liebe als Ereignis, der Liebe zum Sein und schließlich der Liebe als Seinlassen. Nicht nur im Gegensatz zu Augustinus, wie Tömmel schreibt, sondern durchaus auch an dessen widersprechende Bestimmungen der Liebe als Begierde und Seinwollen orientiert (vgl. dazu Hans Jonas, Augustinus und das paulinische Freiheitsproblem), versteht Heidegger Liebe als Wille, der „darauf denkt, dass jegliches, das eine Wirklichkeit werden mag und sein kann, in die Wahrheit seines Wesens kommt.“ Der wissende Wille ist weder Projektionsmaschine noch soll er zu blinder Unterwerfung anleiten. Tömmel definiert ihn in Anlehnung an Erläuterungen Heideggers zu Hölderlin als „hellsichtiges Wesenwissen“, als ein „Halten des Anderen in seinem Wesen“. Seinen prägnantesten Ausdruck findet der wissende Wille in dem Augustin-Zitat „Volo ut sis“, das Heidegger immer wieder mit modifizierenden Übersetzungen ins Gespräch bringt: Ich will, dass du bist, dass Du wirst, was Du bist. Das drängende und bedrängende Element im Willen wird von Heidegger durch Bedeutungsverschiebungen in den „verklärenden“ und schließlich in den „nicht wollenden Willen“ , „die Hingabe“ und das „Seinlassen“ immer mehr zurückgenommen, so dass es zu einer paradoxen Umwandlung des Gegensatzes von aktiv und passiv kommt. So wird die Hingabe zu einem aktiven Geschenk an den Anderen. Tömmel argumentiert einsichtig, dass es sich hier um eine komplexer gestaltete„Paraphrasierung“ des „Ich will, dass Du seist, wer und wie Du bist“, handelt, insofern die Gabe an den Anderen darin besteht, „ihn in seinem Sosein und Daßsein bejahend zu lassen.“ Heidegger hat das die „metaphysische Gleichgültigkeit“ der Liebe genannt, die nur möglich ist „auf dem Grunde inneren, innersten Wesens der Existenz, der Freiheit.“ Wir befreien uns selbst „zur Freigabe dessen, was in sich eine eigene Würde hat.“ Tömmel entfaltet diesen Reflexionsweg Heideggers, noch einmal zurückgehend auf die frühe Aristoteles-Rezeption, insbesondere den pathos-Begriff, als einen Zusammenhang, der in der bisherigen Heidegger-Philologie so noch gar nicht wahrgenommen worden ist, und beweist damit die Produktivität ihres Interpretationsansatzes, der sich nicht an die übliche Chronologie hält. In der nun sichtbar gewordenen Verschränkung von innerer Logik der Freiheit und des Herzens, insofern das Selbst erst im Freilassen sich selbst zur Liebe befreit, kann nach die eingangs von Tömmel formulierte Frage, „ob das eigentliche Mitsein mehr“ ist als „nur eine Folgeerscheinung der Selbstwerdung“ positiv beantwortet werden. Heideggers Philosophie kennt „entgegen anderer Annahmen durchaus eine eigene Form von Sozialität“. Liebe erweise sich „nicht nur als Form des Mitseins, die mit dem Eigentlichen nicht konfligiert, sondern diese sogar ermöglicht.“

Aber dieses Resümee hat einen Preis, der mehr angedeutet, als entfaltet wird. Wenn das Ereignis der Liebe als „Einbruch des Neuen in das Sein, und Liebe als „Ausnahmezustand“ vorgestellt wird, dann wundert es, dass die bedrohliche Seite dieses Einbruchs, nämlich dass die Selbsttranszendenz das Selbst gefährdet,, so gar nicht ins Blickfeld gerät. „Dass die Gegenwart des Anderen in unser Leben einmal hereinbricht, ist das, was kein Gemüt bewältigt“, formuliert selbst Heidegger und empfiehlt die Bewahrung dieses Ereignisses in der Erinnerung. Aber hat er damit eine „Theorie zum Umgang mit dem schlechthin Außergewöhnlichen“ entwickelt, die „für das Dasein fruchtbar“ gemacht werden kann? Diese Einschätzung Tömmels beruht im wesentlichen auf der Annahme, dass Heideggers Überlegungen zur Liebe in den Briefen an Hannah Arendt und Elisabeth Blochmann um 1925 „als die Avantgarde seiner Philosophie nach der Kehre angesehen werden können“. Denn das würde bedeuten, in den Briefen käme die Erfahrung von Liebe zum Ausdruck, die man in den frühen philosophischen Schriften nicht findet und die zu den späteren philosophischen Haltungen die Wege gebahnt hat. Viel eher spricht die generalisierende Verwendung des „volo ut sis“ sowohl Arendt als auch Blochmann gegenüber und die Tatsache, dass alle weiteren Differenzierungen zum Liebesbegriff aus der Auseinandersetzung mit Nietzsche, Hölderlin , den Vorsokratikern hervorgehen, dafür, dass auch die Vorstellungen zur Liebe im Zusammenhang der Arbeiten zum 2. Teil von „Sein und Zeit“ und des sich anbahnenden Scheiterns dieses Projekts gesehen werden müssen. Wie Tömmel am Schluss zu recht schreibt, steht im Mittelpunkt von Heideggers Liebeskonzept nicht der Andere in seiner realen Andersheit, sondern sein Anderssein. Und Heideggers philosophische Apologie des „Wartendürfens“ als das „Wundervollste“, denn „in ihm ist das Geliebte gerade Gegenwart“, ist nicht die Position des Liebenden, sondern die des Philosophen, der von sich aus sagen kann, dass das in der Vorstellung Vergegenwärtigte näher ist als es in der Realität je sein kann. Arendt notiert dazu in ihr Denktagebuch: „Ad Selbigkeit: Ist sie nicht im Grunde die leibliche Gegebenheit? Sie als innerliche zu behaupten, ist schlechte Metaphysik.“ Das in die Nähe-kommen zum Fernen ist ein Bild für das Denken nicht für die Liebe, doch für Heidegger ist die „behütende Liebe“ identisch mit dem An-Denken des Seins. Denken und Liebe werden zu Variationen dessen, dass der „Mensch Hirte des Seins“ ist. Von einer Unverfügbarkeit und Unergründlichkeit des Anderen kann bei Heidegger denn auch nur als Teilhabe an der Unergründlichkeit des Seins die Rede sein. Alle Differenzierungen werden, wie die Autorin selbst darlegt, zurückgebogen in ihren eigentlichen metaphysischen Grund, das Sein. Im Warten schlägt die Vergegenwärtigung der Geliebten in Wahrheitsleidenschaft um, und rettet dadurch deren Unverfügbarkeit im Begriff. Heideggers Liebe meint keinen bestimmten Menschen, sondern das sich Treffen bei der Wahrheit. Daher der verallgemeinernde Umgang, der die Individualität der Geliebten außen vorlässt. Es geht immer um die Bewahrung der wahren Liebe und des wahren Denkens, und für die Wahrheit darf es keine Kontingenz geben. Hierin besteht auch eine entscheidende Differenz zu Nietzsche. Wenn „Liebe und Denken zusammen gehören“, wie Arendt zustimmend formuliert, „weil sie beide die Welt fliehen“, so gilt das aber nur für „diesen negativen Aspekt“.

Während man davon ausgehen muss, dass Heideggers Reflexionen über die Liebe im wesentlichen die verschiedenen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Seins widerspiegeln, lässt sich Arendt von der Frage nach dem spezifischen Ort der Liebe leiten, und der ist keineswegs nur das Andere der Politik, obwohl grundsätzlich gilt, dass das Politische das „interesse“ der Welt verkörpert und die Liebe letztlich mit dem interesse bricht. Das „Leben als inter homines esse“ ist nach Tömmel das „Axiom“, auf das „Arendts Liebesbegriff immer bezogen bleibt“, und das bedeutet, dass eine auf das private Glück reduzierte Perspektive von vornherein verworfen wird, aber auch die uniformierende Rede über Gefühle, die unterschiedslos zwischen dem Öffentlichen und Privaten vagabundiert. Liebe ist in Arendts Verständnis nicht intentionales Gefühl, sondern Ereignis, das einem passiert, „vita passiva“ und die „Absolutheit eines Verhältnisses, das im Miteinander untergehen muss.“ In einigen grundsätzlichen Formulierungen, so scheint es, kommen sich die beiden Liebenden Arendt und Heidegger sehr nahe, aber das ist nur die halbe Wahrheit, wie die Autorin zeigt. In ihrer Dissertation über Augustinus setzt sich Arendt kritisch mit der christlichen Nächstenliebe auseinander, in der „Rahel“ mit der romantischen Liebe. Doch woher kommt das Thema der Liebe überhaupt an den Anfang des philosophischen Fragens der späteren politischen Denkerin, für die der „amor mundi“ ins Zentrum rückt? Diese Frage wird von Tömmel nicht gestellt, sie fokussiert ihr Erkenntnisinteresse anders. Vom entwickelten Konzept des Politischen aus erforscht sie die Spuren, die in seinem Horizont stehen. Arendt interessiert sich in ihrer Dissertation zunächst vor allem für den Philosophen Augustinus und kommt dabei ihrem Lehrer Heidegger auf die Schliche, dessen „Sein und Zeit“ mehr von Augustinus geprägt ist als das kenntlich gemacht wird. Tömmel hebt als gemeinsamen Grundzug zwischen Heidegger und Augustinus „eine Egozentrik im metaphysischen Gewande“ hervor, nicht der Andere wird geliebt, sondern die Liebe selbst. Dazu Arendts Kommentar: „Ich liebe nicht einfach ihn, sondern etwas in ihm, das gerade, was er selber von sich her nicht ist.“ Und im Denktagebuch heißt es: „die Schwierigkeiten der Selbstliebe bei Augustinus ..., dass nur die Liebe geliebt wird - und sieht nicht, wie abscheulich das ist. Die Sentimentalität der Selbstliebe: das Sich-berauschen an Gefühlen ...“ Auf den Punkt gebracht: Arendt erkennt in Augustinus einen Wegbereiter des Weltverlustes der modernen Subjektivität. Andererseits zeigen sich in der komplexen gegeneinander verschränkten kritischen Befragung beider: Augustinus wird im Horizont von Heideggers „Sein und Zeit“ gelesen, Heidegger im Horizonnt von Augustinus – bereits in der Dissertation erste Elemente ihrer Philosophie vom Anfangen, indem Arendt zwischen dem „Noch-nicht“ und „Nicht-mehr“ des Lebens differenziert: „Das Noch-nicht des Lebens ist also nicht nichts, sondern bestimmt gerade als Ursprung das Leben in der Positivität seines Seins.“ Und gegen Heidegger gewendet: „Die Gefahr des Menschen ist es gerade, den Rückbezug (zum Ursprung) nicht zu aktualisieren und damit dem Tod, der absoluten und ewigen alienatio a Deo zu verfallen.“

Wirklichkeit- und Weltverlust sind auch das zentrale Thema in der Rahel-Biographie. Arendts kritische Kommentierung von Rahels romantischem Projekt: „Hinein in die Gesellschaft durch Liebe“, ist zugleich eine kritische Kommentierung von Heidegger. In teilweise beinahe wörtlicher Wiedergabe werden die Sätze Heideggers ironisch entzaubert, konfrontiert man sie mit der Realität einer Jüdin, auf die derartige Gedankenspiele von Ab- und Anwesenheit einfach nicht passen So wird Heideggers bedeutungsschweres „Wartenkönnen“ als eigentliches Miteinandersein in der ironischen Paraphrase zu einer Kritik der illusionären Inszenierungen Rahels: „Man ist nie eigentlicher zusammen als wenn man an einen Menschen in seiner Abwesenheit denkt“, heißt es in der Biographie. In dem gemeinsam mit Günter Stern verfassten Essay über Rilke findet man Arendts Gegenposition zu Heidegger in ähnlich zugespitzter Form: „Ist es nicht Zeit, dass wir liebend uns vom Geliebten befrein?“ Für die von Gott und der Welt Verlassenen wird Liebe zur einzigen Existenzgarantie und, wie Tömmel schreibt, zum „intransitiven Seinsmodus“. Wenn man Liebe in diesem Sinne will, „muss man alles verlassen – also auch im Stich lassen.“ Hierin – so Arendts Pointe, liegt „eigentlich die Lösung des Problems Heidegger. Er hat nicht die Einsamkeit, sondern die Verlassenheit produktiv gemacht.“ Arendt beginnt in der „Rahel“ einen Diskurs über die Liebe, der Augustinus und Heidegger hinter sich lässt und in das Verhältnis von Welt und weltloser Liebe ganz eigene Akzente setzt, indem sie Heideggers „Mehr-wollen“ des Willens und der Liebe aus dem Schema des zu „Sich-selbst-bringens“ befreit und als Bewegung in die Kontingenz des Konkreten entlässt.

Die gleichzeitige Behauptung von „Liebe zur Welt“ und Weltlosigkeit der Liebe, in der Tömmel das Spezifische von Arendts Position ausmacht, erscheint paradox, und die Autorin macht es sich zur Aufgabe mithilfe einer Synopse der verschiedenen Liebesbegriffe Arendts die Bewegungsformen dieser Paradoxie genauer zu analysieren. In der Liebe als göttlicher Macht untersteht der Mensch den Gesetzen des Universums, in der Liebe als Begehren dem Gesetz seiner irdischen Existenz. Die dritte Form, die Tömmel extrapoliert, ist die wählende Liebe, in der Arendts allgemeine Bezeichnung der Liebe als „vita passiva nur noch „indirekt zum Tragen kommt.“ Im Mittelpunkt der wählenden Liebe steht das „volo, ut sis“, dem Arendt aber eine Heidegger entgegengesetzte Interpretation gibt: „Volo, ut sis: Kann heißen, ich will, dass Du seist, wie Du eigentlich bist, dass Du dein Wesen seist, und ist dann nicht Liebe, sondern Herrschsucht, die unter dem Vorwand zu bestätigen, selbst noch das Wesen des Anderen zum Objekt des eigenen Willens macht. Es kann aber auch heißen: Ich will, dass Du seist, wie immer Du auch schließlich gewesen sein wirst. Nämlich wissend, dass niemand ante mortem der ist, der er ist, und vertrauend, dass es gerade am Ende recht gewesen sein wird.“ In den Kontext der frei wählenden Liebe gehört auch die Liebe zur Welt.  In der wählenden Liebe sieht Tömmel zu Recht die strenge Trennung zwischen Liebe und Politik infragegestellt. Dieser Eindruck wird erhärtet durch Arendts Reflexionen über Liebe, Gebürtlichkeit und Anfangen-können. Liebe steht hier am Anfang einer neuen Welt.

Die bei Arendt immer wiederkehrende Thematisierung der Intensitätsqualitäten des Lebendigen: in der Liebe sind wir Teil des lebendigen Universums, Denken heißt einfach Lebendigsein, die Spontaneität des Anfangens etc. zeigt, dass es Arendt bei der einfachen Gegenüberstellung von Liebe und Welt nicht bewenden lassen will. Ob diese Gegenüberstellung „schematisch“ genannt werden kann, wie Tömmel meint, sei zunächst einmal dahingestellt. Aber der Vorschlag Tömmels, die Hegelsche Dialektik als vermittelndes Medium zwischen den Erfahrungen der Zweisamkeit in der Liebe ohne Zwischen und der Pluralität in der Welt zu denken, ist zu kurz geschlossen. Arendt hat auch hier differenziert: „Ganz voneinander zu scheiden ist 1. die Tatsache der Pluralität, 2. die Tatsache, dass Liebe die Liebe braucht, d.h. dass kein Mensch allein existieren kann (Zweigeschlechtlichkeit). Im Falle der Liebe sucht der Mensch das ihm gemäße, im Falle der Pluralität hat er zu rechnen mit dem Ungemäßen, Fremden, Verschiedenen. Differenz zwischen dem Brauchen, das der Zweigeschlechtlichkeit entspringt, und dem Aufeinanderangewiesensein, das in der Vielheit liegt. Wo immer diese beiden Sache identifiziert wurden, entstand die gleichzeitige Perversion der politischen Verhältnisse und der Liebes- und Familienverhältnisse.“ Berechtigt und weiterführend ist dagegen die Frage Tömmels, in welcher Weise die unvergleichliche Sensibilität für die Einzigartigkeit des Individuums, zu der nach Arendt die Liebe fähig ist, in das politische Leben hinübergetragen werden kann, um uns vor der mentalen Gleichschaltung zu schützen, zumal Arendt in dem „unvergleichlichen Blick für das Wer der Person“ eine Affinität zwischen Liebe und Politik erkennt.

Es ist interessant, dass Arendt in ihrem letzten Werk „Das Wollen“ vom Blickpunkt einer größeren Klarheit über das politische Handeln Augustinus gegenüber Heidegger den Vorzug gibt. In ihrer Dissertation über Augustinus hatte sie auf die Frage, wie kann „ein von Gott Ergriffener und von der Welt Abgetrennter dennoch in der Welt leben?“, keine befriedigende Antwort gefunden, und dieses Urteil hatte sich am Maßstab des In-der-Weltseins von Heidegger orientiert. In „Das Wollen“ wird Heideggers Entwurf des „Denkenden“, der sich „des Wollens entwöhnt und dem Seinlassen anheimgegeben hat“, enttarnt als „das Selbst aus ‚Sein und Zeit’, das nun auf den Ruf des Seins statt auf die Stimme des Gewissens“ hört. Erstaunlicherweise wiederholt Arendt hier ihre Kritik an der Entsubjektivierung des Denkens, die sie in ihrem Essay von 1946 „What is Existenz-Philosophy“ formuliert hatte. Dagegen erfährt Augustinus in mehrfacher Hinsicht eine Aufwertung. Arendt versieht nicht nur den Gedanken der Gebürtlichkeit mit einer politischen Dimension, auch Augustins Willensbegriff wird eine neue Aufgabe übertragen. Der Wille ist unter den drei geistigen Vermögen dasjenige, durch das die innere mit der äußeren Welt verbunden wird. Der innere Konflikt des Willens wird dadurch gelöst, dass der Wille aufhört zu wollen und zu handeln beginnt. Dieser Vorgang kann aber wiederum nicht als ein Willensakt verstanden werden. Dies geschieht vielmehr durch die Transformation des Willens in Liebe. Dass Liebe das vermag, liegt an ihrer „Schwerkraft“, durch welche „das rastlose Getriebe des Willens zur Ruhe“ gebracht wird. Es ist doch erstaunlich, dass Arendt den Gedanken der Schwerkraft bei Augustinus nicht mit den entsprechenden Metaphern der Schwere beim späten Heidegger in Beziehung bringt.

Wenn Tömmel am Schluss ihrer Arbeit den Anspruch auf einen kohärenten Begriff der Liebe bei Arendt verabschiedet, dann tut sie das ohne Bedauern, weil offensichtlich Arendts experimentierendes Denken in eine andere Richtung geht: in die der Vervielfältigung der Phänomene und die verschiedenen Möglichkeiten ihrer Verknüpfung oder in der Formulierung Kants über die Urteilskraft: dass es nicht darum geht, Erfahrung dem Begriff zu subsumieren, sondern den Begriff der Erfahrung zuzuordnen. Die Autorin hat nicht nur den Fragehorizont, den sie mit ihrem Thema über den Liebesbegriff  bei Heidegger und Arendt eröffnet hat, überraschende und inspirierende Konturen eingezeichnet, sondern ebenso Wege zu neuen Fragen gebahnt. Da diese Arbeit zu einer Dissertation ausgearbeitet werden soll, darf man auf das Ergebnis sehr gespannt sein.

 

Ingeborg Nordmann