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Ausgabe 1, Band 4 – Mai 2008

Kosmopolitismus und Europa

Natan Sznaider, „Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive“, Transcript Verlag, Bielefeld, 2008

„Kosmopolit“, so die etwas einfache Definition, sei ein Mensch, der seine Identität stärker mit allgemeinen menschlichen Werten verbinde als mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Nation. Der Soziologe Ulrich Beck, der mit dem Begriff eine neue Ära der Sozialwissenschaften aufkommen sieht, bezeichnet den Kosmopoliten als einen, der gleichzeitig "im Ort verwurzelt ist und Flügel hat", während der britische Philosoph ghanaischer Herkunft Anthony Appiah gegen diese einfache Trennung betont, auch jede heimische Kultur bestehe aus vielen Schichten, weshalb seine Definition lautet: Kosmopolitisches Denken ist »Universalität plus Unterschied«.

Natan Sznaider - Soziologe aus Tel Aviv, der bereits diverse aufschlussreiche Studien zum globalen und partikularen Erinnern verfasste – legt nun mit “Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive” eine Studie vor, die auf den Ansätzen von Beck und Appiah fußt und sich klar abgrenzt: Becks europäische Kosmopolitismus sei recht eigentlich ein europäisch daherkommender Universalismus, der tatsächlich partikularistische Positionen ablehne, wie sie etwa in Israel und den USA existieren und Sznaiders Ansicht nach den Kosmopolitismus gerade kennzeichnen.

Sznaiders eigene „Partikularität“ ist ein jüdischer Blick auf die europäische Nachkriegsgeschichte, mit dem er den “Kosmopolitismus ... an das Partikulare anzubinden” trachtet, wie es Hannah Arendt und andere, so Sznaider, praktiziert hätten. Partikular habe Arendt gedacht, könnte man mit Sznaiders Ansatz argumentieren, insofern sie als Jüdin Politik machte, das jüdische Volk im Kampf gegen Hitler einigen wollte und “verborgene (jüdische) Traditionen” untersuchte; universell sei ihr Denken gewesen, insofern sie die Judenverfolgung und Judenvernichtung auch mit einer allgemeinen politischen Analyse (Totalitarismus/Menschenrechte) und politischen Theorie (Vita activa) beantwortete.  Man könnte dann hinzufügen, dass politisch gesprochen diese Idee (des Zusammenwirkens von Partikularem und Universellem) ihren Ausdruck in Arendts Eintreten für republikanisch-föderative Strukturen gefunden habe. Noch 1945 imaginiert Arendt bekanntlich eine europäische Föderation mit Anerkennung einer jüdischen Nationalität, die deutsche Juden davor retten sollte, nach der Annullierung der Rasse-Gesetze durch die Alliierten „automatisch wieder Deutsche zu werden“.

Doch darum geht es dem Autor in seiner Studie nicht. Tatsächlich möchte er, wie es auf dem Buchumschlag heißt, „mit Hilfe von Hannah Arendt die Möglichkeit eines jüdischen Kosmopolitismus” erschließen. Etwas im historischen Gedächtnis sträubt sich gegen den Begriff “jüdischer Kosmopolitismus”, denn die antisemitische Kampagne Stalins gegen die „wurzellosen, antipatriotischen Kosmopoliten“, wie die russischen Juden damals umschrieben wurden, bildete bekanntlich den verbalen Auftakt der (antisemitischen) “Säuberungen” zu Beginn der 1950er Jahre – nicht nur in Moskau.

Die Geschichte, die dem Begriff den Beigeschmack gab, findet sich auch in dem Buch, doch der Autor dreht den Spieß um: Echter Kosmopolitismus könne neue politische Erkenntnisse und Wege eröffnen. Deshalb hinterfragt er den Gedächtnisraum Nachkriegseuropas nach dem Vorhandensein der jüdischen Partikularität noch einmal. Seine Begriffe sind mitunter unscharf (“ureuropäischer Kosmopolitismus“, “weiterexistierende Existenz”, “kosmopolitischer Nationalismus”), doch die Momente, die den “Gedächtnisraum Europa” geprägt haben (darunter die Nürnberger Prozesse, die Debatte über die Schuldfrage, der Kniefall Willi Brandts in Warschau) und die Sznaider auf die kosmopolitische Wechselwirkung von jüdisch- partikularer und universaler Sichtweise hin untersucht, sind äußerst beispielhaft und interessant, die Geschichten bieten neue, aufschlussreiche Perspektiven. Warum taucht in der deutschen Debatte über die “Schuldfrage” (Jaspers) nach dem Kriege die Besonderheit des Antisemitismus nicht auf? Und bei der von den “Rencontres Internationales“ organisierten Tagung “Europäischer Geist” im September 1946 – warum blieb dort das jüdische Schicksal auch in der Auseinandersetzung unangesprochen? Hannah Arendt im fernen Amerika glaubte damals, in der Begegnung und im Gespräch zwischen Karl Jaspers, Albert Camus, George Lukács sei eine gemeinsame europäische Zukunft angebrochen. Doch Sznaider liest die Dokumente noch einmal und stellt fest: Von jener europäischen Grundtatsache, der Vernichtung der Juden, liest und hört man auch auf dieser Tagung nichts.

Ein historisches Ereignis partikularer Natur ist Arendts Arbeit für die amerikanisch-jüdisch-israelische JCR, Jewish Cultural Reconstruction (1946-1952). Ausgehend von der Gewissheit, dass es nach dem Holocaust keine jüdische Normalität in Deutschland geben werde, sollten die verbliebenen, geretteten, wiedergefundenen jüdischen Kunst- und Kulturgegenstände, allen voran Bücher, ganze Bibliotheken und wertvolle (teils mittelalterliche) Handschriften, nach Israel und in die USA verbracht werden. Das Ganze war eine enorme Materialschlacht, bei der die Hebräische Nationalbibliothek in Jerusalem sowie Jüdisch-Theologische Institutionen in Amerika die Nachfolge der jüdischen Gemeinden, Rabbinerseminare, Bibliotheken und Synagogen aus Deutschland und deutschsprachigen Ostgebieten antraten. Natan Sznaider hat Teile der Geschichte rekonstruiert. Seine Schlussfolgerung ist deutlich: Es gibt in Europa keine jüdische Politik mehr: “Die Zeit der Juden in Europa ist abgelaufen”, schreibt er. Und an anderer Stelle: “Sicher gibt es wieder europäische Juden. Aber diese können wahrhaftig keinen wirklich dritten Raum jenseits von den USA und Israel für sich produzieren.” Sie könnten vielleicht gute Europäer sein, stellt er fest, doch um die Preisgabe des Jüdischen. Auch wenn es nicht explizit gesagt wird, wendet Sznaider sich hier neben Ulrich Beck auch gegen Michael Brumlik, der in seinem jüngsten Band “Kritik des Zionismus” die Zukunft des Nahen Ostens in engem politischen Verbund mit Europa gestaltet sehen möchte. Brumlik plädierte jüngst sogar für die Aufnahme Israels in die Europäische Union.

Das Material, das Natan Sznaider ausbreitet, ist teils neu, teils neuartig kombiniert, was auch dem Leser neue Einblicke eröffnet. Mitunter gibt es allzu leichtfertige Urteile: ”Vom Standpunkt des Opfers kann das Böse nicht banal sein”, lautet ein solches. Zu welchem  Zwecke wird hier der “Standpunkt des Opfers” bemüht? Ob das Böse banal sein kann, ist als ethische Frage unabhängig vom Opferstatus. Tatsächlich ist ein “banaler” Mord (im Arendtschen Sinne) nicht weniger ein Mord, und ganz bestimmt nicht weniger verabscheuungswürdig, sondern vielleicht sogar erschreckender und furchterregender und beunruhigender als eine im Affekt begangene Tat.

Die verschiedene Relevanz universeller und partikularer Aspekte habe Arendt, so Sznaider, präzise voneinander zu scheiden gewusst. In ihrer brieflichen Auseinandersetzung mit Hans Magnus Enzensberger über seinen Band “Politik und Verbrechen” betonte Arendt, Enzensberger solle in seinen Reflektionen das eigene Erbe (also den Nationalsozialismus) als Partikularität annehmen und nicht („O felix culpa!“) durch Gleichsetzung mit Hiroshima ins Universelle ausweichen. Gegenüber Gershom Scholem hingegen verwehrte sie sich in der Debatte über ihren Eichmann-Report gegen ein Schweigen aus Partikularitätsrespekt. Sznaider nennt nicht den Grund: dass nämlich in Arendts Augen ein solches Schweigen den Raum des Politischen (den Austausch der Meinungen) bedrohe.

Erstaunlicherweise fehlt in diesem Buch eine Geschichte: Denn der von Arendt  im fernen Amerika äußerst genau verfolgte europaweite Widerstand gegen die Nazis 1943/ 44 war eine kosmopolitische Erfahrung im Sznaiderschen Sinne. Damals wurde auf Flugblättern in Warschau und Lyon, in den Wäldern am Bug ebenso wie im französischen Maquis und auf den Hügeln um Sarajevo die Abkehr vom Nationalstaat (das nationale Kapital hatte allzu bereitwillig mit den Besatzern kollaboriert) und eine gesamteuropäische Nachkriegspolitik propagiert: ein Miteinander von lokalen Kämpfen, von oft noch nach nationalen Zugehörigkeiten organisierte Grüppchen mit universellen, genuine europäischen - weder antiamerikanischen noch antirussischen - Ideen, wie es schien. Polen, Spanier, Juden und Franzosen kämpften in vielen Regionen gemeinsam gegen die Nazibesatzung, und zwischen den polnischen und französischen Fahnen wehte der Davidsstern – ein Bild, an das Hannah Arendt damals in ihren „Aufbau-Artikeln“ viel politische Hoffnung knüpfte. Diese Erfahrung ist nach 1945 im Zuge der eifrigen Rekonstruktion der alten Nationalstaaten im historischen Bewusstsein verschwunden.

Die europäischen Orte, die Sznaider nach dem Vorhandensein partikularer jüdischer Geschichte befragt, sind Frankfurt, Nürnberg, Zürich, Warschau, Luxemburg, Paris – und Drohobych, ein kleiner Ort im ehemaligen Galizien, in dem einst weit über 10 000 Juden lebten – darunter der Schriftsteller Bruno Schulz, der 1942, bevor er auf der Straße erschossen wurde, unter NS-Zwang in einer requirierten Villa einen Raum mit Zeichnungen ausmalte. 4 Wände mit Bildern aus der Grimmschen Märchenwelt, gezeichnet von einem polnisch schreibenden jüdischen Schriftsteller in einem Dorf der heutigen Ukraine, in dem zur Zeit der stalinschen Säuberungen Anfang der 1950er Jahre der verbliebene jüdische Friedhof einer Plattenbausiedlung zum Opfer fiel. Die von Schulz bemalten Wände wurden 2001 von einem bundesdeutschen Dokumentarfilmer wiederentdeckt und zwei der Wände wurden gegen die Zahlung einer geringen Geldsumme nach Israel abtransportiert, wo sie, so Sznaiders Begründung, wegen der jüdischen Identität Schulzes heute hingehören: “Schulz drückte alles Noble des Kosmopolitismus aus. Aber er ist auch ein Jude, der einfach so, in einer Zeit, da Juden systematisch ermordet wurden, auf offener Straße erschossen wurde. Das ist auch Teil seines Kosmopolitismus. Die Zugehörigkeit ist Teil seiner Existenz geworden. Der Abbau der Wand ist also auch Anerkennung seiner Identität”, heißt es lapidar und nicht unbedingt nachvollziehbar. Die Gegner dieses Abtransports betonen bekanntlich, heute, nachdem durch das Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation auch die Vielvölker-Geschichte Europas vor dem Zweiten Weltkrieg ins öffentliche Bewusstsein zurückkehren konnte, müsste die Vielfalt dieser europäischen Geschichte (und somit gerade auch die jüdische Geschichte) wieder ins Bewusstsein zurückgeholt und präsent gehalten werden. Tatsächlich jedoch folgt die Erinnerungspolitik nach wie vor zumeist nationalen Mustern.

1961 schrieb Arendt, dass sie sich davor fürchtet, dass das jüdische Volk eines Tages nurmehr an sich selbst glaubt, dass also wenn man der Sznaiderschen Terminologie folgen will, das Partikulare die Oberherrschaft gewinnt. Dagegen wendet sich auch Sznaider – allerdings etwas undeutlich - im letzten Absatz seines Buches: Den Kosmopolitismus verstanden habe nur, wer nicht mehr danach frage und danach fragen müsse, wie jüdisch Franz Kafka, Bruno Schulz, Walter Benjamin und Hannah Arendt seien. Diese Frage erübrige sich, wenn und insofern das Jüdische, mithin das Partikulare im Kosmopolitischen mit-gedacht sei. Doch davon sind wir derzeit auch in Israel und Amerika weit entfernt.

 

Marie Luise Knott