Ausgabe 1, Band 3 – Mai 2007
Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest
Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964
Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild
Vorbemerkung
„Piper will eine grosse Propaganda für Dich“, schrieb Karl Jaspers am 25. April 1964 an Hannah Arendt. Er bezog sich damit auf die Bemühungen, mit denen der Verleger Klaus Piper das Erscheinen der deutschen Ausgabe von Arendts Buch Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen begleiten wollte. Das Buch, das 1963 auf Englisch herausgekommen war und in Israel und den USA einen heftigen Sturm der Entrüstung und Kritik entfacht hatte, sollte zur Buchmesse im September 1964 auf den deutschen Markt kommen.
Hannah Arendt hat sich in Pipers „große Propagandaideen“, wie sie sie im Antwortbrief an Jaspers nennt, gefügt. Sie reiste am 2. September von New York nach Zürich, anschließend nach Basel, um „zehn ruhige Tage“ mit Karl und Gertrud Jaspers zu „haben“ (Brief vom 12. August 1964). Danach fuhr sie nach München, wo am 16. September im Bayerischen Rundfunk das Interview mit Günter Gaus für das Zweite Deutsche Fernsehen (Reihe „Zur Person“) aufgenommen wurde. Zwei Tage später beantwortete sie in der Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft in Frankfurt am Main Fragen der Presse.
In Frankfurt lernte sie auch Joachim C. Fest kennen, mit dem sie zur Vorbereitung einer Sendung des Südwestfunks ausführlich korrespondiert hatte. Am 18. September reisten beide gemeinsam nach Baden-Baden. Wie aus Fests Begegnungen, seinem 2004 veröffentlichten Erinnerungsbuch, bekannt, nahmen sie sich viel Zeit für Gespräche. Aus umfangreichen Aufzeichnungen entstand eine Hörfunksendung, in der Fest, anders als Gaus in seinem Fernsehporträt, ausschließlich die Probleme ansprach, die Arendt in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem aufgeworfen hatte und die auch ihn, den Hitler-Biografen und Historiker des Nazi-Regimes, interessierten.
Die Sendung wurde am 9. November 1964 in der Reihe „Das Thema“ ausgestrahlt. Das Sendeband galt lange Zeit als gelöscht. Es wird hier – mit freundlicher Genehmigung des Hannah Arendt Bluecher Literary Trust und von Frau Ingrid Fest – erstmals ungekürzt in der Redefassung veröffentlicht. Die Transkription einer Sendekopie, die die Herausgeber von Hermann Bohlen erhielten, besorgte Anna Wiehl. Wir haben dieses Manuskript durchgesehen, minimale Veränderungen zum Zwecke der Lesbarkeit vorgenommen und einige Erläuterungen als Fußnoten eingefügt. Eine Veröffentlichung in Buchform mit ausführlicher Kommentierung ist geplant.
Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess, der im Mittelpunkt des Gesprächs mit Fest stand, war eine selbstgewählte Auftragsarbeit. Auf ihr Ersuchen hatte das Magazin The New Yorker sie als „reporter“ für den Prozess akkreditiert. Sie reiste zum Prozessbeginn (11. April 1961) nach Jerusalem und blieb dort fast vier Wochen (bis 7. Mai), in denen sie die ersten Zeugenaussagen mitverfolgte. Im Juni (17.-23.) kehrte sie zurück und erlebte die Prozessphase, in der Eichmann im Zeugenstand war. Den weiteren Verlauf des Prozesses, der mit der Urteilsverkündung am 15. Dezember endete, hat sie nicht live verfolgt. Mit der Niederschrift ihres Berichtes begann sie, nachdem in Jerusalem die Revisionsverhandlung stattgefunden hatte und Eichmann aufgrund des Urteils in 2. Instanz am 31. Mai 1962 gehängt worden war. Ihr „report“ erschien erst ab Februar 1963 in The New Yorker, kurz darauf im Verlag Viking Press als Buch: Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil.
Bis die deutsche Ausgabe vorlag, verging ein weiteres Jahr. Die Übersetzung von Brigitte Granzow hatte Hannah Arendt selbst überarbeitet und damit eine Art zweiter Fassung des englischen Originals hergestellt. Nicht nur wurden Verbesserungen angebracht, Hannah Arendt hatte sich vielmehr – angesichts der massiven gegen das Buch und sie selbst gerichteten Angriffe – auch veranlasst gesehen, eine ausführliche erläuternde „Vorrede“ hinzuzufügen, welche in der 1965 ebenfalls bei Viking veröffentlichten „revised and enlarged edition“ in ein „new postscript“ eingangen ist.
Das deutsche Buch Eichmann in Jerusalem ist 1986, elf Jahre nach Arendts Tod, vom Piper Verlag neu herausgegeben worden. Es erhielt ein Vorwort von Hans Mommsen: „Hannah Arendt und der Prozess gegen Adolf Eichmann“, sowie einige „aktualisierende Anmerkungen“. Diese Ausgabe war Grundlage aller weiteren Nachdrucke. 1996 erschien sie als Neudruck mit leserfreundlicherem Satzspiegel; im folgenden wird nach dieser Ausgabe (Serie Piper 308) zitiert.
Die Herausgeber
Nun, Sie sagen mit Recht, die Frage der unbewältigten Vergangenheit hätten die Juden und die Deutschen gemeinsam. Ich möchte das etwas einschränken. Erstens ist natürlich die Art und Weise der unbewältigten Vergangenheit, die man gemeinsam hat, sehr verschieden zwischen Opfern und Tätern; denn auch die Judenräte sind natürlich Opfer. Sie sind deshalb noch nicht hundertprozentig entschuldigt, aber selbstverständlich stehen sie auf der anderen Seite, das ist ja offenbar.
Nun, die unbewältigte Vergangenheit außerdem ist irgendetwas, was – ich weiß das aus Amerika – Juden und Deutsche eigentlich mit fast allen Ländern oder allen Völkern der Erde teilen, jedenfalls in Europa und in Amerika. Das Entsetzen selber, das aus diesen ganzen Dingen hervorgeht, geht alle an, und nicht nur Juden und Deutsche. Juden und Deutsche haben gemeinsam, dass sie die unmittelbar Beteiligten sind.
Und nun fragen Sie: „Ist diese Reaktion dieselbe in Deutschland und Israel?“ Sehen Sie, ein Viertel der israelischen Bevölkerung, 25 Prozent, besteht aus unmittelbar Betroffenen. Das ist ein enormer Prozentsatz in einer Bevölkerung. Dass die selbstverständlich jetzt als Opfer anders reagieren als der durchschnittliche Deutsche gleich welcher Generation, der nur einen Wunsch hat, davon nie wieder was zu hören, ist ja klar. Auch die wollen nicht mehr davon hören; aber aus ganz anderen Gründen.
Jetzt gibt es eine Sache, die mir aufgefallen ist, und das ist die Einstellung der Jugend in Israel und der im Lande Geborenen. Und da gibt es ein Desinteressement, das dem Desinteressement in Deutschland irgendwie gleich gelagert ist. Sie haben auch die Vorstellung: Das sind die Probleme unserer Eltern ... Nur jetzt anders natürlich: „Wenn unsere Eltern wünschen, dass das und das geschieht – also dann natürlich! Bitteschön! Aber man soll uns doch bitte sehr … Wir sind nicht sehr interessiert daran.“ Das war ganz allgemein. Also es ist ein Generationenproblem wie in Deutschland.
Joachim Fest: Diese Prozesse haben ja nun, wie zum Teil auch schon die Nürnberger Prozesse und die Nebenprozesse vor allem in Nürnberg, einen neuen Verbrechertypus sichtbar gemacht.
Hannah Arendt: Es ist ein neuer Verbrechertyp: Ich stimme Ihnen zu, wenn ich Einschränkungen machen darf. Wir stellen uns doch unter einem Verbrecher jemanden vor mit verbrecherischen Motiven vor. Und wenn wir uns Eichmann begucken, dann hat er verbrecherische Motive eigentlich überhaupt nicht. Nämlich das, was man gewöhnlich unter „verbrecherischen Motiven" versteht. Er wollte mitmachen. Er wollte Wir sagen, und dies Mitmachen und dies Wir-Sagen-Wollen war ja ganz genug, um die allergrössten Verbrechen möglich zu machen. Die Hitlers sind doch nun wirklich nicht diejenigen, die eigentlich typisch für diese Dinge sind; denn die wären doch ohnmächtig ohne die Unterstützung der anderen.
Also was ist da eigentlich los? Ich will mal nur auf Eichmann eingehen, weil ich den ja kenne. Und will mal erst folgendes sagen: Sehen Sie, Mitmachen – im Mitmachen, wenn viele zusammen handeln, entsteht Macht. Solange man allein ist, ist man immer ohnmächtig, ganz egal, wie stark man ist. Dieses Gefühl der Macht, das im Zusammen-Handeln entsteht, ist an sich absolut nicht böse, es ist allgemein menschlich. Und es ist aber auch nicht gut. Es ist einfach neutral. Es ist etwas, was einfach ein Phänomen ist, ein allgemein menschliches Phänomen, das als solches zu beschreiben ist. In diesem Handeln gibt es ein ausgesprochenes Lustgefühl. Ich will hier nicht groß anfangen zu zitieren – aus der Amerikanischen Revolution kann man stundenlang zitieren. Und ich würde nun sagen, dass die eigentliche Perversion des Handelns das Funktionieren ist; dass in diesem Funktionieren das Lustgefühl immer noch da ist; dass aber alles, was im Handeln, auch im Zusammen-Handeln, da ist – nämlich: wir beratschlagen zusammen, wir kommen zu bestimmten Entschlüssen, wir übernehmen die Verantwortung, wir denken nach über das, was wir tun – [dass] all das im Funktionieren ausgeschaltet ist. Sie haben hier den reinen Leerlauf. Und die Lust an diesem reinen Funktionieren – diese Lust, die ist ganz evident bei Eichmann gewesen. Dass er besondere Machtgelüste gehabt hat, glaube ich nicht. Er war der typische Funktionär. Und ein Funktionär, wenn er wirklich nichts anderes ist als ein Funktionär, ist wirklich ein sehr gefährlicher Herr. Die Ideologie, glaube ich, hat keine sehr große Rolle dabei gespielt. Dies scheint mir das Entscheidende.
Joachim Fest.: Wenn ich von einem neuen Verbrechertypus sprach, so meinte ich folgenden Sachverhalt: Sowohl in Deutschland wie auch in den alliierten Ländern hat man sich nach dem Kriege getroffen in der Tendenz, die Führungsfiguren des Dritten Reiches zu dämonisieren. Die Deutschen haben in diesen Führungsfiguren, von Hitler angefangen bis herunter zu Eichmann, immer wieder das Tier aus der Tiefe gesehen und sich damit möglicherweise ein gewisses Alibi verschaffen wollen. Denn wer dem Tier aus der Tiefe unterliegt, ist natürlich viel weniger schuldig als der, der einem ganz durchschnittlichen Menschen von dem Zuschnitte etwa Eichmanns unterliegt.
Hannah Arendt: Der ist auch viel interessanter.
Joachim Fest: Tatsächlich? Ja. Bei den Alliierten war's ein ganz ähnlicher Sachverhalt: Dort hat man damit zum Teil entschuldigt: die Nachgiebigkeiten, die Appeasement-Politik bis zum Jahre 1939. Und auf der anderen Seite erscheint der Sieg über dieses Tier aus der Tiefe natürlich viel strahlender, wenn man es also mit dem Leibhaftigen selbst zu tun hatte.
Hannah Arendt: Die Verteufelung Hitlers, scheint mir, ist sehr viel mehr Sache der Deutschen inklusive der deutschen Emigranten gewesen als der Alliierten selber. Die Alliierten waren in der Tat entsetzt, maßlos und beispiellos entsetzt, als die Wahrheit an den Tag kam. Das unterschätzt man in Deutschland in einem katastrophalen Ausmaß. Das heißt, in welchem Masse ihnen der Schrecken ins Gebein fuhr, als sie es erfuhren, als dann der einfache Soldat, als er Bergen-Belsen sah undsoweiter … Ich habe das in x Unterhaltungen [erfahren]. Ich habe ja im Ausland gelebt – also ich kann Ihnen sagen …
Nun, die Dämonisierung selber dient, wie Sie einerseits richtig sagen, dem Alibi. Man erliegt also dem Leibhaftigen und infolge dessen ist man selber gar nicht schuld. Vor allen Dingen aber … Sehen Sie, unsere ganze Mythologie oder unsere ganze Tradition sieht ja im Teufel den gefallenen Engel. Und der gefallene Engel ist doch natürlich viel interessanter als der Engel, der immer ein Engel blieb, denn daraus ergibt sich ja noch nicht mal eine Geschichte. Das heisst, das Böse hat ja, vor allen Dingen auch in den zwanziger und dreißiger Jahren, die Rolle gespielt, dass nur das das eigentlich Tiefe sei, nicht? Und Sie haben das dann auch in der Philosophie – das Negative, was den eigentlichen Anstoß der Geschichte gibt, undsoweiter. Sie können das sehr weit nachverfolgen. Und infolgedessen: Wenn man dämonisiert, macht man sich nicht nur interessant, sondern man schreibt sich heimlich auch bereits eine Tiefe zu, die die anderen eben nicht haben. Die anderen sind so flach, dass sie Menschen nicht in den Gaskammern getötet haben. Nun, das habe ich jetzt natürlich mit Absicht so gesagt, aber darauf kommt es hinaus. Nun, wenn es irgendjemand gegeben hat, der sich selber entdämonisiert hat, dann war es Herr Eichmann.
Joachim Fest: Eichmann ist ja tatsächlich so klein gewesen, dass ein Beobachter sich fragte, ob man denn nicht vielleicht den falschen Mann erwischt und vor Gericht gestellt habe. Tatsächlich ist er ja auch – das geht ganz eindeutig aus allen Unterlagen hervor – nicht grausam gewesen. Im Gegenteil, es fiel ihm immer wieder schwer, das zu tun, was ihm zu tun aufgetragen war, und er hat ja gerade daraus, dass es ihm besonders schwer fiel, das Gefühl einer Bewährung gezogen.
Hannah Arendt: Ja. Das ist richtig, und das ist ja leider sehr weit verbreitet. Man glaubt, dass man, ob etwas gut oder böse sei, daran ablesen könne, ob man es gern tut oder nicht gern tut. Man glaubt, das Böse ist dasjenige, was immer als Versuchung auftritt, während das Gute dasjenige ist, was man eigentlich von sich aus nie will. Ich halte das alles für vollkommenen Blödsinn, wenn ich mal so sagen darf. Es gibt bei Brecht immer wieder die Darstellung der Versuchung zum Guten, der man widerstehen muss. Wenn man zurückgeht in die politische Theorie, können Sie das bei Machiavelli lesen, sogar in gewissem Sinne bei Kant. Eichmann und sehr viele von den Leuten waren sehr oft versucht, also das zu tun, was wir das Gute nennen. Sie haben dem widerstanden, gerade weil es eine Versuchung war.
Joachim Fest: Ja, Sie haben schon angedeutet vorhin, dass unsere Vorstellung vom Bösen oder die Vorstellung vom Bösen, wie sie in unserem Kulturbereich religiös, philosophisch, literarisch formuliert worden ist, den Typus Eichmann gar nicht enthält. Eine der Thesen Ihres Buches – sie taucht bereits im Untertitel auf – ist die von der "Banalität des Bösen". Daran haben sich zahlreiche Missverständnisse geknüpft.
Hannah Arendt: Ja, sehen Sie, diese Missverständnisse sind eigentlich in der ganzen Polemik, sie gehören zu dem Wenigen, was echt ist. Das heißt, ich bin der Meinung, dass diese Missverständnisse entstanden wären, ganz gleich was sonst. Das hat irgendwie ungeheuer schockiert, und das verstehe ich sehr gut; denn ich selber war davon sehr schockiert. Für mich selber war das etwas, worauf ich eigentlich nicht vorbereitet war.
Nun, ein Missverständnis ist das Folgende: Man hat geglaubt, was banal ist, ist auch alltäglich. Nun, ich glaubte … Ich habe es so nicht gemeint. Ich habe keineswegs gemeint: der Eichmann sitzt in uns, jeder von uns hat den Eichmann und weiß der Deibel was. Nichts dergleichen! Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ich mit jemandem rede, und [der] mir etwas sagt, was ich noch nie gehört habe, was keineswegs alltäglich ist. Und ich sage: "Das ist äußerst banal." Oder ich sage: "Das ist minderwertig." In diesem Sinne habe ich es gemeint.
Ernst Jünger ist während des Krieges zu pommerischen oder mecklenburgischen – nein, ich glaube Pommern – Bauern gekommen (die Geschichte steht in den Strahlungen), und der Bauer hatte russische Kriegsgefangene unmittelbar aus den Lägern bekommen, natürlich völlig verhungert – Sie wissen, wie russische Kriegsgefangenen hier behandelt worden sind! Und er sagt zu Jünger: "Na, dass das Untermenschen sind – und [...] wie's Vieh! Das kann man ja sehen: Sie fressen den Schweinen das Futter weg." Jünger bemerkt zu dieser Geschichte: "Manchmal ist es, als ob das deutsche Volk vom Teufel geritten wird." Und er hat damit nicht "dämonisch" gemeint. Sehen Sie, diese Geschichte hat eine empörende Dummheit. Ich meine: Die Geschichte ist sozusagen dumm. Der Mann sieht nicht, dass das Menschen tun, die eben verhungert sind, nicht wahr, und jeder es tut. Aber diese Dummheit hat etwas wirklich Empörendes. [...] Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist, nicht wahr?
Ich bin nicht der Meinung, dass das deutsche Volk besonders brutal ist. Ich glaube überhaupt an solche Nationalcharaktere [nicht]… Trotzdem, die Geschichte, die ich eben von Jünger erzählte, die ist spezifisch deutsch. Das heißt, dieses Unvermögen, wie Kant sagt, um ihn jetzt also doch wirklich in den Mund zu nehmen: "an der Stelle jedes andern denken" – ja, das Unvermögen ... Diese Art von Dummheit, dass es ist, als ob man gegen eine Wand spricht. Man kriegt nie eine Reaktion, weil nämlich auf einen selber gar nicht eingegangen wird. Das ist deutsch. Das zweite, was mir spezifisch deutsch scheint, ist diese geradezu verrückte Idealisierung des Gehorsams. Gehorchen in diesem Sinne tun wir, solange wir Kinder sind, da ist es notwendig. Da ist Gehorsam eine sehr wichtige Geschichte. Aber die Sache sollte doch im vierzehnten, fünfzehnten Lebensjahr spätestens ein Ende haben.
Joachim Fest: Glauben Sie nicht, dass hinter der Berufung auf "Eid", "Befehl", "Gehorsam" mehr als eine bloße Ausflucht steckt? Eichmann hat sich ja immer wieder darauf berufen. Er hat erklärt, er sei von früh auf zum Gehorsam erzogen, er hat gefragt: "Was hätte mir Ungehorsam eingebracht? In welcher Hinsicht wäre er mir von Nutzen gewesen?" Und er hat dann erklärt, dass, als im Mai 1945 für ihn keine Befehle mehr eintrafen, plötzlich die Weltuntergangsstimmung bei ihm ausgebrochen sei.
Hannah Arendt: Ein führerloses Dasein!
Joachim Fest: Das Problem vom Gehorsam zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein ganzes Leben – man kann es also in den Prozessakten nachlesen, es taucht immer wieder auf. Es ist wirklich wie das Leitmotiv einer großen Lebenslüge.
Hannah Arendt: Ja, diese Lebenslüge ist natürlich überall da. Aber wissen Sie, er ist ja nicht der einzige gewesen, der sich auf all das berufen hat, nicht? Auf "Befehl", "Eid", „Gott“ und "Gehorchen-Müssen" und: "Gehorsam ist eine Tugend". Eichmann hat übrigens auch von "Kadavergehorsam" gesprochen. In Jerusalem geriet er ganz durcheinander und hat plötzlich gesagt, das sei ja blosser Kadavergehorsam gewesen, gar nichts Gutes undsoweiter, nicht wahr? Also das strudelt ja in den Köpfen dauernd durcheinander. Nun, die Berufung auf "Eid" und dass einem die Verantwortung abgenommen sei et cetera – die ist nicht nur bei Eichmann, die habe ich [auch] in den Nürnberger Prozessakten [gefunden] – die hat wieder etwas empörend Dummes. Sehen Sie, Eichmann hat Wutanfälle – die anderen auch – produziert und hat gesagt: "Man hat uns doch versprochen, dass wir nicht zur Verantwortung gezogen werden. Und nun bleibt alles an uns hängen, nicht? Und die Grossen, nicht? Die natürlich – wie immer – haben sich der Verantwortung entzogen." Nun wissen Sie, wie sie sich der Verantwortung entzogen haben: entweder, indem sie sich das Leben genommen haben, oder indem man sie aufgehängt hat. Sich das nicht vorzustellen, wenn man so was sagt, ist grotesk. Die Sache ist doch einfach komisch! Ja, in der Tat, sie haben sich … sie sind nicht mehr unter den Lebenden! Wenn du dir das nicht hast vorstellen können, dass das alles nur gilt, solange einer lebt – ja, dann kann man dir wirklich nicht helfen.
Joachim Fest: Aber wieweit steckt darin nicht doch ein etwas tieferes Problem? Wieweit kann man Menschen, die unter totalitären Bedingungen leben, überhaupt noch zur Verantwortung ziehen? Das gilt ja nicht nur für den Typus Eichmann, sondern das gilt ja in ähnlicher Weise für die Judenräte auf der anderen Seite.
Joachim Fest: Ja, bei Frank würde ich sagen, war das eine rein stimmungsgetragene Reue. Er hat es ja auch bei seinem Schlusswort vor Gericht dann gleich wieder zurückgezogen.
Hannah Arendt: Ja!
Joachim Fest: Das war ein sehr ambivalentes Gefühl.
Hannah Arendt: Also darf ich sagen: "Keiner hat bereut".
Joachim Fest: Im Grunde genommen ist es bei keinem jedenfalls eindeutig nachweisbar.
Hannah Arendt: Und Eichmann hat ja bekanntlich gesagt: "Reue ist für kleine Kinder." Keiner hat bereut. Andererseits sollte man doch meinen, wenn keiner bereut, sollte sich wenigstens einer finden, der dafür geradesteht und sagt: "Ja, in der Tat, wir haben's gemacht, aus den und den Gründen, ich bin heute noch der Meinung. Wir haben verloren. Ob wir gewonnen oder verloren haben, entscheidet doch nicht über die Sache selber." De facto ist die Sache zusammengebrochen wie ein nasser Dreck. Und keiner ist geradegestanden. Keiner hat irgendetwas verteidigt. Und das scheint mir doch für dieses Phänomen, das Sie vorhin anschnitten, von Gehorsam – nicht wahr? – ganz entscheidend zu sein. Das heisst: Man hat eigentlich nur mitmachen wollen. Man ist bereit, alles mitzumachen. Wenn man einem sagt: "Du gehörst nur zu uns, wenn du mitmordest“ – gut. Wenn man ihm sagt: "Du gehörst nur zu uns, wenn du nie mordest“ – auch gut. Nicht? So sieht es für mich aus.
Joachim Fest: Ja bitte.
Hannah Arendt: Sehen Sie, wenn wir die Leute vor Gericht stellen, dann muten wir ihnen Verantwortung zu. Und das Recht dazu haben wir, also juristisch ... Das Recht haben wir, weil die Alternative nicht das Martyrium ist. Es gab eine Alternative, hüben und drüben, und die hiess: nicht mitmachen, selber urteilen: „Bitteschön ..., das mach' ich nicht mit. Ich setze nicht mein Leben ein, ich versuche zu entkommen, ich versuche, wie ich um die andere Ecke komme.“ Nicht wahr? „Aber ich mache nicht mit. Und falls ich gezwungen sein sollte mitzumachen, dann werde ich mir das Leben nehmen.“ Diese Möglichkeit gab es. Dazu gehörte, dass man nicht Wir sagt, sondern dass man Ich sagt, dass man selbst urteilt. Und dieses Selbst-Urteilen hat es überall gegeben, in allen Bevölkerungsschichten: unter frommen Leuten und nicht frommen Leuten, unter Alten und unter Jungen, unter Gebildeten und Ungebildeten, unter Adligen und Bürgerlichen und sehr vielen Arbeitern, erstaunlich vielen Arbeitern, vor allen Dingen in Berlin, wo ich es noch habe mit ansehen können.
Diejenigen, die mitmachten, haben sich – das sehen wir – überall gleich gerechtfertigt. Sie haben immer gesagt: "Wir sind nur dageblieben, damit es nicht noch schlimmer kommen sollte." Nicht? Und nun ja, also – diese Rechtfertigung dürfte doch nun wirklich ein für allemal erledigt sein – schlimmer konnte es nicht kommen.
Hannah Arendt: Ja. Das alles sind ebenfalls Funktionäre gewesen.
Joachim Fest: Völlig richtig.
Hannah Arendt: Mit Skrupel, es waren die Funktionäre mit Skrupel. Aber die Skrupel haben nicht ausgereicht, um ihnen klar zu machen, dass es eine Grenze gibt, wo der Mensch aufhört zu funktionieren. Und wenn sie weggegangen wären und gesagt hätten: "Aber, in Gottes Namen, lasst doch einen anderen den Dreck machen!" Nicht wahr, dann wären sie plötzlich wieder Menschen geworden – aus Funktionären.
Joachim Fest: Ja. Dennoch möchte ich noch einmal fragen, welche Möglichkeiten es gibt, in einem totalitären Regime oder unter einem totalitären System ohne Schuld zu bleiben. Viele Menschen sind keine Helden, und man kann es ihnen auch nicht zumuten, ein Held zu sein [...]. Sie sind dann aber auch keine Verbrecher, sie sind mitunter nur Mitwisser.
Joachim Fest: Ja, bitte.
Hannah Arendt: Man muss sich klar sein, dass es unter totalitären Bedingungen das Phänomen der Ohnmacht gibt, und man muss sich klar sein, dass es auch unter Bedingungen der absoluten Ohnmacht noch Verhaltungsweisen gibt. Das heißt, dass das nicht besagt, dass man unbedingt auch ein Verbrecher werden muss. Das Phänomen der Ohnmacht ist ausschlaggebend, und dies Phänomen der Ohnmacht natürlich war die Situation all dieser Menschen. Sie werden absolut ohnmächtig. Es gab keine Möglichkeit des Widerstandes, weil sie alle vereinzelt waren, weil sie nirgends zusammengehörten, weil sich nicht zehn sozusagen zusammensetzen konnten und einander trauen.
Joachim Fest: Würden Sie sagen, Frau Arendt, dass man angesichts dieses Sachverhalts noch mit dem alten, einfachen Satz zurechtkommt, es sei besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun?
Hannah Arendt: Sehen Sie, der Satz stammt von Sokrates. Das heißt in unserem Zusammenhang: Er ist formuliert, bevor religiöse Gebote für die christlich-abendländische Menschheit von den Juden her maßgeblich wurden. Was Sokrates sofort immer wieder gesagt hat, bzw. auch Plato, ist, dass man diesen Satz nicht beweisen kann. Das heißt, für die einen ist er absolut evident und den anderen können Sie nicht beweisen, dass sie so handeln müssen. Was ist also der Grund für diejenigen, für die er absolut evident ist?
Nun gibt es einen anderen Satz von Sokrates, der meiner Ansicht nach diesen Grund gibt und der ist: "Es ist besser, mit der ganzen Welt uneins zu sein als mit sich selbst, da ich ja einer bin.“ Denn wenn ich mit mir selbst nicht einig bin, entsteht ein Konflikt, der unerträglich ist. Das heißt, es ist der Satz vom Widerspruch im Moralischen, und er ist noch maßgebend für den kategorischen Imperativ [bei Kant]. Dieser Satz setzt voraus, dass ich in der Tat mit mir selbst zusammenlebe, also sozusagen Zwei-in-Eins bin; und dass ich dann also sage: "Dies und dies will ich nicht tun." Denn mit jemandem, der dies getan hat, will ich nicht zusammenleben. Und dann gäbe es für mich als Ausweg doch nur noch, wenn ich das und das getan habe, den Selbstmord oder später, in christlichen Kategorien gedacht, die Umkehr und die Reue.
Nun, mit sich selbst zusammenleben heißt natürlich mit sich selbst sprechen. Und dies Mit-sich-selbst-Sprechen ist ja im Grunde das Denken. Und zwar eine Art von Denken, das nicht technisch ist, dessen jeder Mensch fähig ist. Also die Voraussetzung des Satzes ist: Ich habe Umgang mit mir. Und: Es mag Situationen geben, in denen ich mit der Welt so uneins werde, dass ich nur noch auf den Umgang mit mir zurückfallen kann – und vielleicht noch mit einem Freund, also mit dem anderen Selbst, wie Aristoteles mal so schön gesagt hat: autos allos. Dieses, meiner Ansicht nach, ist die eigentliche Situation der Ohnmacht. Und diejenigen Menschen, die tatenlos aus dieser Sache herausgegangen sind, waren diejenigen, die sich zugestanden, dass sie ohnmächtig waren, und an diesem Satz, der der Satz des Denkenden in der Ohnmacht ist, festhielten.
Joachim Fest: Kommen wir noch einmal auf Eichmann zurück und die Rolle, die die Bürokratie überhaupt beim Massenmord gespielt hat. Was bedeutet eigentlich das Eingebettetsein in einen bürokratischen Apparat für den Einzelnen? Und inwieweit verflüchtigt sich das Unrechtsbewusstsein im Instanzenzuge? Ist es vielleicht so, dass die partiellen Zuständigkeiten, die jedem nur gegeben sind, die Möglichkeiten moralischer Einsichten verdecken? Eichmann hat gesagt: "Ich saß am Schreibtisch und machte meine Sachen." Und der ehemalige Gauleiter von Danzig hat erklärt, seine offizielle Seele habe sich immer mit dem identifiziert, was er getan habe, seine private Seele sei stets dagegen gewesen.
Hannah Arendt: Ja, also dieses ist die sogenannte innere Emigration unter den Mördern, wobei ja der ganze Begriff der inneren Emigration oder des inneren Widerstandes ausgelöscht ist. Ich meine, das gibt es eben nicht. Es gibt nur äußeren Widerstand, inner[en] gibt es höchstens [als] eine Reservatio mentalis, nicht? Das sind ja alles Lebenslügen, die verständlich sind und ziemlich ekelhaft. – Die Bürokratie, also der Verwaltungsmassenmord, schafft natürlich wie jede Bürokratie eine Anonymität: die Person wird ausgelöscht. Sobald der Betreffende vor dem Richter erscheint, wird er wieder ein Mensch. Und das ist eigentlich das Großartige am Gerichtsverfahren, nicht? Es findet da eine wirkliche Verwandlung statt. Denn wenn der jetzt sagt: "Ich war doch nur ein Bürokrat", dann kann der Richter sagen: "Du, hör mal, deswegen stehst Du nicht hier. Du stehst deswegen hier, weil du ein Mensch bist und weil du bestimmte Sachen gemacht hast." Und diese Verwandlung hat etwas Großartiges.
Nun, abgesehen davon, dass die Bürokratie im Wesen anonym ist, lässt jede rastlose Tätigkeit Verantwortung verflüchtigen. Es gibt im Englischen einen idiomatischen Ausdruck: "stop and think" – halt an und denk nach. Kein Mensch kann nachdenken, ohne anzuhalten. Wenn Sie jemanden in eine rastlose Tätigkeit hereinzwingen, nicht wahr, oder [er] sich hereinzwingen lässt, dann werden Sie immer dieselbe Geschichte haben. Sie werden immer die Sache haben, dass Verantwortungsbewusstsein sich nicht bilden kann. Es kann sich nur bilden in dem Moment, wo man reflektiert – nicht über sich selbst, sondern über das, was man tut.
Joachim Fest: Fragen wir einmal kurz nach gewissen rechtlichen Konsequenzen, die sich aus diesem gesamten Komplex ergeben. Die Frage vor allem, die mit dem zusammenhängt, worüber wir eben gesprochen haben: Entspricht der Typus Eichmann noch dem herkömmlichen Mörderbegriff? Ist er nicht vielmehr Funktion in einem Mordapparat als wirklich Mörder? Und begründet die Teilverantwortung, die er hatte, ungeteilte Schuld?
Hannah Arendt: Wir sprachen schon von dem motivlosen Mörder, das heisst, die uns bekannten verbrecherischen Motive: Leidenschaft, Interesse … Oder dem Überzeugungstäter, der ja eine Zwischenfigur ist. Trifft alles nicht zu! Also in dem Sinne haben wir keine Handhabe in den überkommenen Begriffen. Ich würde sagen, diese Art zu morden, vom Schreibtisch oder in Massen ... [Das] ist natürlich ein unvergleichlich furchtbarerer Typus Mensch als jeder Mörder, weil er gar keinen Bezug mehr auf sein Opfer hat. Er tötet ja wirklich, als ob es Fliegen sind.
Die Teilverantwortung war natürlich noch nie ein Grund für geteilte Schuld. Man hat Eichmann nicht mit Töten beauftragt, weil er sich dazu nicht eignete. Aber er war doch in dem Mordprozess! Es spielt gar keine Rolle, wer das oder jenes nur tut. Was ich sagen möchte, ist: Wenn ich sage: "Das ist doch kein typischer Mörder," dann meine ich doch nicht, dass er was Besseres ist. Sondern was ich meine ist, dass er etwas unendlich viel Schlimmeres ist, obwohl er gar keine eigentlich – was wir nennen – "verbrecherischen Instinkte" [hat]. Er ist in die Sache reingerutscht. Aber ich kann mir Mörder vorstellen, die mir erheblich sympathischer sind, wenn ich so was sagen darf, als Herr Eichmann.
Hannah Arendt: Ja, ganz richtig. Ich habe dieselbe Sache ja auch bei mir zitiert. Sie stammt aus dem abschließenden Urteil. Ich bin genau derselben Meinung.
Joachim Fest: Die Frage ist jedoch, ob die geltenden Rechtsnormen noch erfassen können, was hier verantwortet werden muss. Würden Sie das sagen?
Hannah Arendt: Wir sind auf den Verwaltungsmassenmord nicht eingestellt in den Gesetzbüchern, und wir sind auf diese Arten der Täter nicht eingestellt. Nun, kann man dann doch noch Gerechtigkeit üben? Also sozusagen: nach den Gesetzbüchern nicht, de facto ja. Die Richter haben überall – obwohl sie sich mit Händen und Füssen dagegen sträuben, es zuzugeben – in Wahrheit frei geurteilt. [...]
Joachim Fest: Kommen wir zurück auf Ihr Buch, Frau Arendt. Sie haben darauf hingewiesen, dass der Eichmann-Prozess die Totalität des moralischen Zusammenbruchs im Herzen Europas sichtbar gemacht habe, bei den Verfolgern und bei den Verfolgten gleichermaßen, und in allen Ländern. Bezeugt nun die Reaktion auf Ihr Buch, die ja darin bestand, dass einerseits dieser Zusammenbruch selbst geleugnet wurde und andererseits Totalschuldbekenntnisse abgegeben wurden, nicht gerade, was Sie zu beweisen versuchten? Und vielleicht kann ich die Frage noch anhängen: Welche Reaktionen haben Sie erwartet?
Joachim Fest: Sie sprachen von der Kampagne. Nun hat der Widerstand gegen die in Ihrem Buch dargestellten Zusammenhänge gewiss viele Motive, und darunter solche, die – man kann das durchaus sagen – Respekt verdienen. Daraus ergibt sich die Frage: Soll man die Wahrheit sagen, auch wenn man mit bestimmten legitimen Interessen einerseits und Gefühlen andererseits in Konflikt gerät?
Hannah Arendt: Sehen Sie, Sie schneiden damit die einzige Frage an, die mich an der Kontroverse selber interessiert.
Ich glaube nicht, dass ich legitime Interessen – also legitime! – verletzt habe. Aber nehmen wir doch mal an, dass das eine Streitfrage ist und dass ich sie doch verletzt habe. Hätte ich es tun sollen? Nun, ich glaube, es ist die Aufgabe der Historiker, aber auch [von] Leuten, die in der Zeit stehen und unabhängig sind – das gibt es ja, Hüter der Tatsachenwahrheiten zu sein. Was passiert, wenn diese Hüter von der Gesellschaft verdrängt, in die Ecke gedrängt oder vom Staate an die Wand gestellt werden – das haben wir ja gesehen an der Geschichtsschreibung, zum Beispiel in Russland, wo alle fünf Jahre eine neue Geschichte Russlands erscheint. Haben der Staat oder die Gesellschaft mit ihren legitimen Interessen, die in Konflikt kommen können mit der Wahrheit, trotzdem noch ein Interesse – prinzipiell – an diesen Hütern der Tatsachenwahrheit? Dann würde ich sagen: Ja. Was jetzt entstehen wird, ist natürlich, dass eine ganze Reihe von apologetischen Darstellungen auf den Markt geworfen wird, nur um diese paar Wahrheiten, die sich in diesem Buche sogar am Rande befinden, zuzudecken. Es wird nicht gelingen, weil so etwas ja nie ganz geht.
Nun gibt es etwas anderes: Es gibt ja auch legitime Gefühle. Und es ist keine Frage: Ich habe Menschen verletzt. Und wissen Sie, das ist mir irgendwie unangenehmer, wenn ich Menschen verletze, als wenn ich Interessenorganisationen in die Quere komme, nicht? Das, möchte ich sagen, nehme ich ernst, das andere nehme ich nur prinzipieller. Nun, diese legitimen Gefühle habe ich verletzt – im wesentlichen durch meinen Stil, und dazu kann ich wenig sagen. Sehen Sie, ich bin der Meinung, das legitime Gefühl hier ist die Trauer. Das einzige! Nicht die Selbstbeweihräucherung! Und das verstehen sehr wenige Menschen. Dagegen kann ich nichts machen. Ich bin außerdem der Meinung, dass man über diese Dinge nicht pathetisch reden darf, weil man sie dadurch verharmlost. Aber all das ... Ich bin noch der Meinung, dass man lachen können muss, weil das Souveränität ist. Und dass all diese Einwände gegen Ironie irgendwie mir sehr unangenehm sind im Geschmackssinn, ja. Aber all das sind Fragen der Person. Ich bin ganz offenbar sehr vielen Leuten sehr unangenehm. Dagegen kann ich nichts machen. Was soll ich dagegen machen? Die mögen mich halt nicht. Denn der Stil, in dem äußert sich doch die Person – nämlich das, was man selber nicht weiss.
Joachim Fest: Nun noch eine Schlussfrage, Frau Arendt. Man hat vielfach davon abgeraten, Eichmann in Jerusalem in Deutschland zu veröffentlichen. Man sprach von "negativen Wirkungen auf das öffentliche Bewusstsein". Worin könnten eigentlich diese negativen Wirkungen bestehen?
Hannah Arendt: Nun, die jüdischen Organisationen haben ja ganz offenbar eine merkwürdige Sorge: Sie glauben, dass man die Argumente von mir missbrauchen könnte. "Da haben wir's ja", [denken sie,] werden die Antisemiten sagen, "die Juden waren selbst schuld." Das sagen die sowieso. Aber wenn man mein Buch liest, können die Antisemiten damit überhaupt nichts anfangen. Nun, manche Leute glauben, das deutsche Volk sei noch nicht reif. Na, wenn das deutsche Volk jetzt noch nicht reif ist, dann werden wir wohl bis zum Jüngsten Gericht damit warten müssen.
Anmerkungen
1 Zum Zeitpunkt des Interviews fanden in Frankfurt am Main öffentliche Verhandlungen des in Deutschland ersten Auschwitz-Prozesses statt: das Verfahren 4 Ks 2/63, Strafsache gegen Mulka und andere. Der vom damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer eingeleitete Prozess ist der umfangreichste in der deutschen Justizgeschichte. Er dauerte zwanzig Monate (vom 20. Dezember 1963 bis 20. August 1965), insgesamt 22 NS-Verbrecher wurden angeklagt und verurteilt (bei drei Freisprüchen). Vgl. die von Irmtrud Wojak herausgegebene Dokumentation des Prozesses anlässlich einer Ausstellung des Fritz-Bauer-Instituts: Auschwitz-Prozeß. 4 Ks 2/63. Frankfurt am Main, Köln: Snoeck, 2004. – Eine Verhandlung im Frankfurter Haus Gallus hatten Arendt und Fest gemeinsam besucht, so Joachim C. Fest, „Das Mädchen aus der Fremde: Hannah Arendt und das Leben auf lauter Zwischenstationen“, in: ders., Begegnungen: Über nahe und ferne Freunde, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2004, S. 176-214, S. 185.
2 Am 11. Mai 1960 war Eichmann vom israelischen Geheimdienst in San Fernando nahe Buenos Aires (Argentinien) festgenommen und neun Tage später nach Israel entführt worden.
3 Vgl. Hannah Arendt gleich zu Beginn ihres Buches Eichmann in Jerusalem (in der hier zitierten Ausgabe S. 82-87), wo sie feststellt: „Die Folgen des Eichmann-Prozesses [sind] nirgends so spürbar [geworden] wie in Deutschland“. Die Nachricht von Eichmanns Verhaftung habe die deutschen Behörden dazu veranlasst, gegen ein weit verbreitetes Widerstreben in der Bevölkerung nun wenigstens den Versuch zu unternehmen, die „Mörder unter uns“ dingfest zu machen – mit überraschenden Ergebnissen: u.a. wurden etwa der Nachfolger des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß sowie die meisten Mitglieder des so genannten Eichmann-Kommandos verhaftet. Doch obwohl hier Massenmörder, die nach dem Krieg unbehelligt in Deutschland und Österreich weitergelebt hatten, vor Gericht standen, sei es zu „oft phantastisch milden Urteilen für die Angeklagten in der ersten Instanz“ gekommen. Auch sei die Adenauer-Regierung durch den Eichmann-Prozess unter Druck geraten, mehr als 140 durch ihre Vergangenheit im Dritten Reich kompromittierte Richter, Staatsanwälte und hohe Polizeibeamte zu entlassen. Allerdings sei dies angesichts der Tatsachte, dass Anfang der 1960er Jahre etwa die Hälfte der bundesrepublikanischen Richter auch unter dem Hitler-Regime tätig war, „wie ein Tropfen auf den heißen Stein“.
4 Jüngers Tagebucheintragung mit der Ortsangabe „Kirchhorst“ (das war sein damaliger Wohnort, bei Hannover gelegen), unter dem Datum „17. Mai 1942“, auf die Hannah Arendt Bezug nimmt, lautet: „Fahrt zum Friseur. Dort Unterhaltung über die russischen Gefangenen, die man aus den Lagern zur Arbeit schickt. ‚Da sollen böse Brüder drunter sein. Die fressen den Hunden das Futter weg.’ Wörtlich notiert. Oft hat man den Eindruck, dass der deutsche Bürger vom Teufel geritten wird.“ Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen: Heliopolis, 1945, S. 117 (abweichend von Jüngers Ausgabe seiner Werke [Tagebücher II, S. 342], wo der letzte Satz fehlt). Arendt hatte bereits in ihrem 1950 in den USA veröffentlichten Bericht aus Deutschland über „The Aftermath of Nazi-Rule“ (dt. von Eike Geisel, in: Arendt, In der Gegenwart [München-Zürich: Piper, 2000], S. 38-63) auf diese Geschichte Bezug genommen (dort S. 44). Vgl. dazu auch Barbara Hahn, „Lesen: Ernst Jünger“, in: Barbara Hahn und Marie Luise Knott, Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, Ausstellung Literaturhaus Berlin, Berlin: Matthes + Seitz, o.J. [2006], S. 54f.
5 Rudolf Höß (1900 – 1947), SS-Obersturmbannführer, war von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Lagers Auschwitz. Unter seiner Leitung wurde das KZ zum Vernichtungslager ausgebaut, in dem etwa eine Million Menschen ermordet wurden. Höß wurde 1946 von einer britischen Einheit verhaftet, an Polen ausgeliefert, im April 1947 zum Tode verurteilt und vor seiner ehemaligen Villa in Auschwitz gehängt.
6 Wilhelm Boger (1906-1977), SS-Oberscharführer, wurde 1965 im Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main zu lebenslanger Haft verurteilt. Er war „der schlimmste“ unter den Angeklagten – „der Lagerexperte für ‚verschärfte Verhöre’ mit Hilfe der ‚Boger-Schaukel’“, so Hannah Arendt in ihrer „Introduction“ zu Bernd Naumann, Auschwitz: A Report on the Proceedings ... (New York: Praeger, 1966), dt. von Eike Geisel in Bernd Naumann, Auschwitz: Bericht über die Strafsache Mulka u.a. vor dem Schwurgericht Frankfurt, Berlin-Wien: Philo, 2004, S. 309-331, S. 310.
7 Hans Frank (1900 – 1946), seit 1923 Mitglied der NSDAP und der SA, war nach 1933 als Präsident der „Akademie für Deutsches Recht“ für die Gleichschaltung der Justiz verantwortlich und trat 1934 als Reichsminister ohne Geschäftsbereich in die Regierung Hitler ein. Nach seiner Ernennung zum Generalgouverneur des besetzten Polen im November 1939 war Frank mitverantwortlich für den Mord an polnischen Politikern und Intellektuellen, die Ghettoisierung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement sowie die Verschleppung von einer Million polnischer Zwangsarbeiter zum Arbeitseinsatz in der deutschen Rüstungsindustrie. Frank wurde vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und im Oktober 1946 durch den Strang hingerichtet.
8 Reinhard Heydrich (1904-1943), SS-Gruppenführer, seit 1939 Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und als solcher Organisator des planmäßigen Massenmordes an den europäischen Juden; Heydrich war Eichmanns direkter Vorgesetzter. Er starb, nachdem in Prag ein Attentat auf ihn verübt worden war.
9 Robert Ley (1890 – 1945), nach Zerschlagung der freien Gewerkschaften Leiter der „Deutschen Arbeitsfront“, der mit etwa 25 Millionen Mitgliedern (1942) größten Massenorganisation des Dritten Reiches. Ley gründete die massenwirksame Freizeit- und Touristikorganisation „Kraft durch Freude“, konzipierte Parteischulen und so genannte „Ordensburgen“. In Nürnberg als einer der Hauptkriegsverbrecher angeklagt, erhängte sich Ley im Gefängnis, bevor ihm vor dem Internationalen Militärgerichtshof der Prozess gemacht werden konnte.
10 Mit „Vor-Verhör“ sind die Verhöre gemeint, die der 1905 in Berlin geborene israelische Hauptmann Avner Werner Less in Jerusalem führte. Less befragte Eichmann insgesamt 275 Stunden und erstellte ein Protokoll von 3564 Seiten, siehe Jochen von Lang, „Nachwort für einen Freund“, in: Schuldig: Das Urteil gegen Adolf Eichmann, hrsg. von Avner W. Less [...], Frankfurt am Main: Athenäum, 1987, S. 331-335, S. 332. Hannah Arendt hatte dieses Protokoll bei der Vorbereitung zu ihrem Buch Eichmann in Jerusalem gelesen.
11 Moshe Landau war der Vorsitzende Richter im Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann. Landau, 1912 in Danzig geboren, studierte an der London University. Als Hitler an die Macht kam, kehrte er nicht nach Deutschland zurück, sondern wanderte nach Palästina aus. Er war seit 1953 Mitglied des Obersten Gerichtshof in Israel; von 1976 bis 1980 amtierte er als dessen stellvertretender Vorsitzender, von 1980 bis 1982 als dessen Präsident.
12 Siehe Anmerkung 10.
13 Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch (geb. 1929) wohnte, wie Hannah Arendt, dem Eichmann-Verfahren als Berichterstatter bei. Seine Beobachtungen veröffentlichte er 1962 in dem Buch Strafsache 40/61. Eine Reportage. Arendt und Mulisch hatten sich am Rande des Gerichtsverfahrens kennengelernt. Ein Exemplar der deutschen Buchfassung schickte Mulisch an Arendt nach New York, die es in ihrer Arbeitsbibliothek aufbewahrte. Mulischs „Beichtvater“-Zitat ist auch in Arendts Buch über den Eichmann-Prozess aufgenommen (Eichmann in Jerusalem, S. 102).
14 In seiner dritten Anklagerede am 26. Juli 1946 sagte Justice Robert H. Jackson über Hjalmar Schacht: „Wenn wir ihn fragen, warum er der verbrecherischen Entwicklung des Regimes, in dem er Minister war, nicht Einhalt gebot, sagt er, er hätte nicht den geringsten Einfluss gehabt. Wenn wir fragen, warum er dann Mitglied dieses Regimes blieb, sagt er, dass er durch sein Bleiben hoffte, einen mäßigenden Einfluss auf dessen Programm ausüben zu können.“ Siehe Der Nürnberger Prozess: Die Anklagereden des Hauptanklagevertreters der Vereinigten Staaten von Amerika, Robert H. Jackson, hrsg. [...] von Ingo Müller, Weinheim: Beltz Athenäum, 1995, S. 137. – Schacht (1877-1970) war 1939 von Hitler als Reichsbankpräsident entlassen worden, blieb aber bis 1943 Minister ohne Geschäftsbereich. Er wurde im Nürnberger Prozess freigesprochen, wie auch Franz von Papen (1879-1969; Reichskanzler von Juni bis November 1932, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Vizekanzler bis Juli 1934, seit 1936 Botschafter des NS-Staates).
15 Arendt bezieht sich mit dieser Bemerkung auf Jaspers’ Schrift Die Schuldfrage, die als eine der ersten Veröffentlichungen zum Thema 1946 erschien und bis heute maßgeblich ist. Jaspers unterscheidet hier die „politische Schuld“ von der „moralischen“ und „metaphysischen“. Zur „metaphysischen Schuld“ schreibt er, bemerkenswerter Weise in der Ich-Form: „Metaphysische Schuld ist der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen. Sie bleibt noch ein unauslöschlicher Anspruch, wo die moralisch sinnvolle Forderung schon aufgehört hat. Diese Solidarität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen. Es genügt nicht, dass ich mein Leben mit Vorsicht wage, um es zu verhindern. Wenn es geschieht und wenn ich dabei war und wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiss: dass ich noch lebe, ist meine Schuld.“ Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands, München-Zürich: Piper, 1965; Neuausgabe (Serie Piper, 698), 1987, S. 48.
16 Zitiert nach Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 364.
17 Vgl. Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 56. Im Urteil, Pkt. 14, verweist der Gerichtshof auf das Werk De jure belli et pacis (1625) von Hugo Grotius und gibt den 20. Absatz im 2. Buch wörtlich wieder: „Damit der Strafende rechtmäßig strafe, bedarf er des Bestrafungsrechts, eines Rechts, das aus dem Verbrechen des Missetäters selbst hervorgeht.“ Hier zitiert nach: Schuldig – Das Urteil gegen Adolf Eichmann, S. 14.
18Hannah Arendt hatte 1964 in der New York Review of Books Sarrautes Roman Les Fruits d’or besprochen. Ihre Rezension erschien im selben Jahr in der Zeitschrift Merkur (übersetzt von Wolfgang von Einsiedel), wiederabgedruckt in Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, München-Zürich: Piper, 1989, S. 298-309.