header image

Ausgabe 1, Band 2 – September 2006

„Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen ...“

Über die Kunst des Verlernens.

Barbara Hahn, Hannah Arendt – Leidenschaften, Menschen, Bücher. Berlin: Berlin-Verlag, 2005

„Sie sind im Wesentlichen gar nicht leicht zu verstehen ... Sie schreiben ineinandergewebt“, schrieb Karl Jaspers an Hannah Arendt, und er hat damit seismographisch erfasst, was in den Wahrnehmungen anderer häufig nur als störendes oder „impressionistisches“ Beiwerk auftaucht: Hannah Arendts eigenwilligen Denk- und Schreibstil. Dabei wird sowohl das Störende als auch das Impressionistische einem grundsätzlichen Mangel zugeordnet: dem Mangel an wissenschaftlicher Objektivität. Alle Komplimente an die große Denkerin und Schriftstellerin können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Erkenntnisse nur selten mit ihrer Schreibweise in einen produktiven Zusammenhang gebracht werden. Diese Aufgabe nun hat sich Barbara Hahn in ihrem Buch  gestellt, und es ist ihr gelungen, bekannte Themen des Arendtschen Denkens in ungewöhnlichen Perspektiven und immer neu variierten Konstellationen zu zeigen. Bereits die eingangs mit einem Aphorismus Nietzsches aufgeworfene Frage: „Wie wird einer zum Denker ...“ rückt eine bereits als selbstverständlich geltende Anschauung Arendts wiederum in die Zone des Nachdenkens. Arendt hatte Heideggers Unterscheidung zwischen Denken und Wissen aufgegriffen und sich selbst als politische Theoretikerin bezeichnet, um nicht von den traditionellen akademischen Ordnungen eingemeindet zu werden. Aber wie wird man zur Denkerin und was ist das überhaupt? Barbara Hahn schlägt nicht den Weg der Katalogisierung aller der Elemente ein, die sich unter diesem Titel ordnen lassen. Sondern sie begibt sich mitten in die Texte hinein und legt auf diese Weise Schichten von Differenzierungen frei, deren Signatur mit einem Satz von René Char umrissen wird: Hannah Arendt habe ein Erbe ohne Testament hinterlassen. Die Richtung von Arendts Denken heißt nicht „Modernisierung“ von Begrifflichkeiten, sondern „Verlernen“ von „eingeschliffenen Gedanken“. Aber kann Mitteilung aus nur durchgestrichenen Gedanken bestehen?  Die Kunst des Verlernens, so Barbara Hahn, liegt in der Genauigkeit, in einer erneuten Schärfung des Unterscheidungsvermögens, um den Automatismus zu unterbrechen, der dahin tendiert, nur das Offensichtliche wahrzunehmen und die Bedeutungen auf abstrakte und allgemeine Formeln zu reduzieren. Ein Netz von genauen Adressierungen durchzieht die Texte Arendts, dem diskursiven, narrativen und dichterischen Denken werden ganz bestimmte Orte zugewiesen, manche Passagen richten sich nur an den deutschen oder amerikanischen Leser. Die Schreibweise Arendts ist nicht ein Spiegel der Gedanken, sondern fügt ihnen etwas hinzu.

Barbara Hahn lässt das Facettenreiche der Gedankenkristalle Arendts in einer vielfältigen Brechung hervortreten, sie gibt ihnen die Kanten und Ecken zurück, die den Texten Arendts die Sperrigkeit und Dichte vermitteln und die den aufmerksamen Leser dazu anhalten, einer in der Oberfläche versteckten Tiefe nachzugehen. Diese Tiefe wird erst einem „vergrößernden Auge“ (Jaspers) sichtbar, und es ist in der Tat so, dass Arendt sich am Beispiel oder Detail den Zugang zur „verborgenen Systematik der Ganzen“ erarbeitet, ohne „sie selbst eigentlich im Ganzen zu wissen“. Diesen Weg schlägt auch Barbara Hahn ein, wie bereits die verschiedenen Kapitelüberschriften, die fast alle Zitate sind, signalisieren: „Das mörderische Alphabet“, „Ein Kuss auf der Brücke“ oder „es geschah ...“. Diese Titel sind nicht der konzentrierte Ausdruck des Themas, sondern markieren die Ausgangspunkte, von denen aus den Schreibwegen Arendts nachgegangen wird, die mehrmals und von verschiedenen Richtungen aus betreten werden. Dabei kristallisieren sich Darstellungsfiguren heraus, die Arendts Konzept der Teilungen und des Brückenschlagens um weitere Differenzierungen bereichern. Zu ihnen gehört die Figur der ineinander gefalteten Komplexität, die dadurch zustande kommt, dass verschiedene mal kenntlich, mal nicht kenntlich gemachte Zitate aus Gedichten, philosophischen und religiösen Texten des griechischen, hebräischen oder deutschen Sprachraums miteinander verfugt werden, und die ein Bedeutungspotential freisetzen, das unausschöpflich ist. Das aufmerksame Lesen ist hier weniger ein „hermeneutisches Auslegen“, sondern ein „Auseinanderlegen“, für das Goethes Begriff des „sinnenden Nachdenkens“ stehen könnte und das an die Stelle der diskursiven Argumentation tritt, die diese Tiefe nicht mehr herstellen kann. Es ist überraschend und spannend zu lesen, was Barbara Hahn an Bedeutungsschichten entziffert, und in welche Entsprechungen sie gebracht werden. In Arendts Texten sprechen Heidegger, Blücher und Sokrates miteinander, und dieses von Barbara Hahn sichtbar gemachte Gespräch wird zu einer Übung im Denken der Pluralität. Auch für ein Gedankenexperiment ist das eher eine unwahrscheinliche Konstruktion. Doch in Arendts Verständnis ist die Realität nicht realistisch, sie ist unwägbar und übersteigt alles, was Menschen sich vorstellen können. Auf diese Unwägbarkeit antwortet die menschliche Freiheit. Sie ist die Gabe, das „unendlich Unwahrscheinliche zu bewirken und als Wirklichkeit zu konstituieren“. Hier wie an anderen Stellen von Barbara Hahns subtilen Montagen wird deutlich, dass  die bisher üblichen floskelhaften Beschreibungen von Arendts „mäanderndem“ Stil einer grundsätzlichen Verkennung unterliegen: nämlich dass Arendts Stil den Inhalten äußerlich ist. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass Arendts Schreibweise konstitutiv ist für ihre Bemühungen, nach dem Traditionsbruch überhaupt noch Zusammenhänge herstellen zu können.  Zumindest gilt das für Fragen, für die Arendt keine Lösung findet. Und wenn die Frage nicht lösbar ist, wovon legt sie dann Zeugnis ab? Die Antwort liegt in der Darstellung selbst, welche die Frage in der Offenheit des Nachdenkens hält. Barbara Hahn zeigt, wie durch die Freiheit der Einbildungskraft eine unlösbare Frage in eine offene Gedankenkonstellation umgewandelt wird, indem die Bindung der Worte an die Dinge, wie sie sind und wie sie gewesen sind, gelockert und der dadurch entstandene Überschuss an Möglichkeiten ins Spiel gebracht wird. So wird die eigentümliche Richtung der Texte Arendts verständlich, die sich sowohl der Utopie als auch dem Rationalismus verweigern: der Wirklichkeit ohne Scheuklappen gegenüberzutreten und zugleich dem Wiederholungszwang Paroli zu bieten, der die Geschichte als eine einzige furchtbare Bürde erscheinen lässt.

Eine weitere Möglichkeit der Nuancierung, die zu denken veranlasst, ohne in einen abschließenden Gedanken zu münden, entfaltet Barbara Hahn dadurch, dass sie der Metapher der Brücke durch verschiedene Texte Arendts folgt. Nach dem Traditionsbruch müssen Brücken gebaut werden, um die Gedankenbruchstücke und Zitate der Vergangenheit, von denen allein Rettung zu erwarten ist, in die Gegenwart zu heben. Metapherein – das Hinübertragen, in dieser Bedeutung wird für Arendt die Brücke zur Metapher par excellence, mehr noch, sie tritt an die Stelle der zerbrochenen metaphysischen Ordnung. Barbara Hahn zeigt das an verschiedenen, zum Teil ungewöhnlichen Konstellationen: Brecht zum Beispiel entpuppt sich als eine Brücke zwischen Heidegger, Blumenfeld und Blücher, Machiavell bildet für Arendt die Brücke zur Moderne, weil er „als erster eine klare Vorstellung von der möglichen Rolle der Revolutionen hatte, auch wenn er das Wort selbst nicht kannte“. Ohne die Brücke ist auch kein Anfang vorstellbar. Der geträumte Kuss auf der Brücke steht für die vielen Anfänge in der festgegründeten Freundschaft zwischen Hannah Arendt und Kurt Blumenfeld. Doch was ist mit dem politischen Anfang, der das Gravitationszentrum aller anderen Anfänge in Arendts Gedankenkosmos bildet und ohne den die gemeinsame Welt nicht erneuert werden kann. Barbara Hahn spielt mehrere Gedanken Arendts durch: Augustinus’ Satz „Initium ut esset, creatus est homo“, den es nicht gelingt, in die Helle des öffentlichen Raums zu tragen und der deshalb dunkel bleibt; die römischen und hebräischen Gründungslegenden, die immer nur die Wiederholung eines Anfangs waren. Begonnene Projekte wie die Einführung in die Politik stoßen an Grenzen und scheitern. Alles treibt auf eine Ungewissheit zu, denn von keiner Wirklichkeit lässt sich sagen, sie berge in sich einen neuen politischen Anfang. Da die Frage nach der Politik nicht mehr „direkt“, sondern nur noch über einen „Umweg“ gestellt werden kann, richtet Barbara Hahn ihre Aufmerksamkeit auf die Momente, wo in Arendts Worten „die Wirklichkeit sich eröffnet und das Wort entsteht, um sie aufzufangen“. Eines dieser Momente ist der Satz, in dem Arendt von der „seltsamen Trauer aller Kreatur“ spricht, die nur der „seltene Schatz des Politischen“ aufzuhellen vermag. Ein Satz, in dem uralte Erzählungen mitschwingen, zum Beispiel der Mythos von den geflügelten Pferd Pegasus, das dem abgeschlagenen Rumpf der Medusa entspringt. Die Schwere und die Leichtigkeit – eine Gedankenfigur, die in vielfältigen Schattierungen das Anfangen in Arendts Denken umspielt. Es könnte sein, dass der Gedanke des Anfangens keinen adäquaten Begriff findet und die dichterische Einbildungskraft der einzige Modus ist, um – wie es in Kants Kritik der Urteilskraft heißt -, „zu einem Begriff viel Unnennbares hinzu zu denken“, „dessen Gefühl das Erkenntnisvermögen belebt“ und das nur im wiederholten Weitererzählen ein Zuhause finden kann. Diese Aporie fängt Barbara Hahn mit einer subtilen Komposition ihres Buches auf, die der „seltsamen Trauer aller Kreatur“ etwas von der Schwere zu nehmen versucht. Am Beginn steht die falsche Folgerichtigkeit des mörderischen Alphabets, um im Kuss auf der Brücke zu einer Art Peripetie zu gelangen, an der sich etwas wendet, und das mit einer Verwandlung des erdenschweren biblischen „es geschah“ in die Leichtigkeit eines plötzlichen Anfangens zum vorläufigen Abschluss kommt: „Manchmal geschieht es mitten im Text. An einer argumentativ nicht besonders hervorgehobenen Stelle. Plötzlich springt ein Wort, ein Satz, eine Passage aus dem Fluss des Textes: ‚Pasternak, so hören wir, hatte in Moskau einen Vorleseabend angekündigt, zu dem sich eine ungeheure Menschenmenge eingefunden hatte, wiewohl doch sein Name nach all den Jahren des Schweigens nur noch als der des Übersetzers von Shakespeare und Goethe ins Russische bekannt war. Er las aus seinen Gedichten und es geschah, dass ihm beim Lesen eines alten Gedichts das Blatt aus der Hand glitt: Da begann eine Stimme im Saal aus dem Gedächtnis das Gedicht weiterzusprechen. Von mehreren Ecken des Saales stiegen andere Stimmen auf. Und im Chor endete die Rezitation des unterbrochenen Gedichts.’“