header image

Ausgabe 1, Band 2 – September 2006

Stefan Ahrens: Die Gründung der Freiheit. Hannah Arendts politisches Denken über die Legitimität demokratischer Ordnungen. Peter Lang Publishing Group (Reihe: Hannah Arendt-Studien Band 2), Frankfurt/M. 2005

 

 

Das Scheitern der Referenden über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden, der umstrittenen Prozess der Verfassungsgebung im Irak, die Konsolidierungsbemühungen in Georgien oder der Ukraine: das „Problem der Legitimation“ stellt sich gegenwärtig mit besonderer Vehemenz. Mit welcher Begründung können Ordnungsvorstellungen innerhalb politischer Gemeinschaften Legitimität beanspruchen? Genau dies ist die Frage von Stefan Ahrens Dissertation. Systematische und sehr kenntnisreich durchforscht er das Arendtsche Werk nach legitimatorischen Elementen, und es ist zweifellos sein Verdienst, mit den gewonnen Ergebnisse die Aktualität ihres Ansatzes bei der Suche nach einer Legitimationstheorie betont zu haben. Anders formuliert: Stefan Ahrens bleibt nicht in der Immanenz des Arendtschen Denkens verhaftet, sondern öffnet es und sucht nach Anschlüssen, um Potenzen und Grenzen ihres Denkens benennen zu können.

Als Problemaufbereitung und Thesenexplikation ergründet Stefan Ahrens in einem ersten Schritt „Verständnisweisen politischer Legitimität“. Er konfrontiert Habermas’ „moralisch gehaltvolle Verfahrensrationalität“  einer Rechtsgemeinschaft (Habermas 1998: Tanner Lectures, 542) mit dem aktivistisch substantialistischen und antipluralistischen Demokratieverständnis von Carl Schmitt, um im Lauf der Arbeit zu zeigen, wie Hannah Arendt beider blinde Flecken in ihren legitimationstheoretischen Überlegungen „angemessen“ (20) bearbeitet. Während Habermas „die legitimatorische Leerstelle“ (53) durch die den Rechtsverfahren moderner demokratischer Staaten immanente „prozedurale Vernunft“ zu schließen meint, legt Ahrens mit Schmitts Widerstandsrecht den Finger in die offene Wunde einer inhaltsleeren liberalen Diskurstheorie: nur bei Verfahrensfehlern sei überhaupt Widerstand möglich. Rawls nennt es das Zurücktreten der Gerechtigkeit vor der Legitimation (vgl. Rawls 1997: Erwiderung auf Habermas, 243f.). Im Bewusstsein der Willkür allen Anfangens arbeitet Schmitt das auf Einheit basierende Moment der aktiven Entscheidung als das Legitimationsstiftende heraus. Von beiden Perspektiven auf das Problem der Legitimation, so Stefan Ahrens, nimmt Arendt etwas in ihre Überlegungen mit hinein: sie geht mit den postmetaphysisch-pluralistischen und diskursiv-deliberativen Aspekten des Habermasschen Politikverständnisses d’accord, stellt jedoch das Kontingenzmoment des Politischen in den Vordergrund.

Nach dieser theoriegeschichtlichen Einteilung begibt sich Stefan Ahrens auf die systematische Spurensuche nach Elementen einer Theorie der Legitimation im Arendtschen Denken. Die Beschäftigung mit Fragen und Problemen der Legitimitätsbegründung lasse sich durch ihr ganzes Werk hindurch verfolgen. In ihren Artikeln für die New Yorker Zeitung „Aufbau“ plädiere Arendt für eine politisch statt religiös begründete Legitimation der jüdischen Nation. Ferner sei das Thema Gegenstand ihrer „Theoretisierung der Autorität“ (113), ihrer Auseinandersetzung mit dem Aufstieg und Verfall des Nationalstaats in den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ oder der Verhandlung des Unpolitischen der Moderne in der „Vita activa“. Doch auch in ihren späteren Arbeiten zum Verhältnis von Macht und Gewalt sowie ihren unvollendet gebliebenen Überlegungen zur Urteilskraft, die als politische Fähigkeit par excellence den „Abgrund der politischen Freiheit“ (136) überwinden sollte, taucht die Frage nach der Art der Rechtfertigungen von Gemeinschaften auf. Die ganz unterschiedlicher Elemente lassen sich, so Stefan Ahrens, in der Legitimationsfrage zusammenführen: Legitimität stamme aus einer bestimmten Bearbeitung der Kontingenz. Das „Element des rein Zufälligen“ (Arendt 1998: Macht und Gewalt, 8), das allem menschlichen Handeln inhärent ist, kann demnach bei Arendt nicht durch eine schlüssige theoretische Verbindung im Moralischen geerdet werden, sondern ist nur durch das von Schmitt falsch verstandene, weil gewaltsam konnotierte, gemeinsame Handeln Vieler überspielbar. Ein kognitiver Ansatz reiche zur Begründung der Legitimation nicht aus. Handeln hingegen legitimiere nur dann, wenn es a) der Erhaltung der Pluralität diene, b) weitere Teilnahme ermögliche und c) auf einer föderativen und dezentralen Macht beruhe. All diese Aspekte deckten sich mit dem revolutionären Gründungsakt und machten das politische Ereignis selbst zur Quelle der Legitimation. Kurzum: Form und Inhalt verschmelzen. Auch methodisch trage Arendt diesem Gedanken Rechnung, indem sie Politische Theorie und politische Ereignisgeschichte kombiniere.

Der Gründungsakt kann jedoch nur legitimieren, wenn er im Gedächtnis bleibt. Legitimation gründet, so Stefan Ahrens im 4. Kapitel, mit einem Bein in der Erinnerung und handelt sich somit ein fundamentales Problem ein: Wie kann kollektive Erinnerungen aussehen, wenn sie nicht einem politischen Mythos im strengen Sinne entsprechen darf? Wenn Erinnerung legitimieren soll, dann muss sie zweifellos dem Ausdruck des politischen Selbstverständnisses einer Gemeinschaft entsprechen, darf aber nicht – wie Schmitts politischer Mythos – als eine unhinterfragbare aber flexibel zu instrumentalisierende Größe konstituiert sein. Während Schmitt den politischen Mythos zu einem „mobilisierenden Garanten einer identitären Ordnung macht“ (214), mit dessen Hilfe gesellschaftliche Konflikte und pluralistische Äußerungsformen unterdrückt werden, geht Arendt einen anderen Weg. Da auch sie nicht ohne irgendeine Form von fortschreitender und erzählender Mythisierung auskäme, sei entscheidend, die Verbindung zwischen öffentlich diskutierten und privat geglaubten Wissensvorrat nicht abbrechen zu lassen. Entsprechend perpetuiert Arendts mythisches Element nicht die Einheit oder die sittliche Höherwertigkeit des Staates, sondern die Ereignishaftigkeit des politischen Handelns mit einer Betonung auf Pluralität, Öffentlichkeit und Freiheit: am Anfang war keine homogene Einheit vorhanden, die nach der Verwirklichung ihres völkischen, nationalen oder geschichtlichen Schicksals strebte, sondern Verschiedenheit und Kontingenz gepaart mit dem Wunsch nach politischer Selbstbestimmung.

Die Stärken von Stefan Ahrens Untersuchung liegen darin, dass Arendtsche Denken für gegenwärtige legitimationstheoretische Diskussionen geöffnet sowie eine Grammatik des politischen Erzählens ausgearbeitet zu haben, die die Pluralität und Kontingenz menschlichen Handelns betont und Legitimität stiften kann. Beide zentralen Ergebnisse sind einer konzentrierten und sorgfältigen Bearbeitung Arendts politiktheoretischer Schriften geschuldet. Unnötigerweise resultiert hieraus jedoch eine theoretische Engführung der Ausarbeitungen, die in der nahezu vollständigen Abkopplung vom Leitmotiv des Arendtschen Denkens mündet: der Geschichte von Terror und Vernichtung. Die Folge ist eine zu stark entgrenzende Lesart ihres Politikverständnisses, die die Gefahr menschlicher Hybris nur schwach reflektiert. Das Sich-Einlassen auf das Risiko des Politischen bezahle Arendt mit einer Rücknahme an Rationalisierungsgewinnen. Ihre Überlegungen böten, so Ahrens, keine Schranken gegen den Einfluss unerwünschter sozialer Bewegungen. Denn nach Arendt sei politische Freiheit grundsätzlich nicht begrenzbar. Damit jedoch setzt sich Stefan Ahrens über die Gefahren der Grenzenlosigkeit hinweg, die Arendt im Totalitarismus-Buch anhand der Verbrechen, im Eichmann-Buch mit dem Begriff der „Banalität des Bösen“ beschreibt. Er verkennt, dass Grenzenlosigkeit für Arendt der totale Horror ist und mit Freiheit nichts zu tun hat. Im Gegenteil: Politische Freiheit entspringt der Begrenztheit, weil sie die Person als politisch handelnde Einheit voraussetzt. Sicherlich wirkt die Konfiguration des Arendtschen Personenbegriffs auf das Politische weniger einschränkend als Habermas’ ideale Sprechsituation, aber sie ist alles andere als unbegrenzt.

 

Christian Volk